Unmittelbarkeit

Kritik und Brechung der Gestalttherapie

Sylvia Siegel

siegel_2013_unmittelbarkeitTherapieansätze stehen in dem Widerspruch, auf der einen Seite Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags zu unterstützen bzw. sie funktionstüchtig zu machen, aber dies zugleich in einem ‚menschenfeindlichen‘ gesellschaftlichen Kontext tun zu müssen, der in der Begrenztheit eines therapeutischen Settings nicht Gegenstand von Veränderung sein kann. Dieses Setting legt ein Denken und Verhandeln von (psychischen) Konflikten in der ‚Umittelbarkeit‘ nahe, um die gesellschaftlich vermittelten Probleme dennoch ‚bearbeitbar‘ zu machen.

Sylvia Siegel untersucht in ihrem Werk die Entwicklung der Gestalttherapie und wie von dieser die gesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Existenz thematisiert wird. Die Autorin, selbst Gestalttherapeutin, setzt sich mit der Frage auseinander, ob und wie eine Durchbrechung der ‚Unmittelbarkeit‘ in der Gestalttherapie möglich ist.

Das Buch ist im Argument Verlag (ISBN 978-3-88619-733-0) erschienen und kostet 23 €.

Vorwort (von Morus Markard)

Therapieboom und -markt zum Trotz: In emanzipatorischer Perspektive (und damit in der Perspektive jedweder dem Anspruch nach kritischen Psychologie) steht Therapie unter dem Generalverdacht, Menschen anzupassen, sie in menschenfeindlichen Verhältnissen funktionstüchtig zu machen, ihnen gesellschaftliche Probleme in die Schuhe zu schieben, objektive Beschränkungen in subjektive Beschränktheiten umzudeuten – anders formuliert: die gesellschaftliche Vermitteltheit psychischer Probleme auszublenden. Im ungelösten Widerspruch dazu steht in Theorie und (therapeutischer) Praxis das Bemühen, dem humanen Anliegen der Psychologie Geltung zu verschaffen, unter Einbezug gesellschaftlicher Dimensionen zur Verminderung menschlicher Fremdbestimmtheit beizutragen.

Ob und wie dies möglich ist, ist das Thema des Buches von Sylvia Siegel, die sich, seit vielen Jahren mit kritisch-psychologischem Impetus selber als Gestalttherapeutin tätig, praktisch in dem genannten Widerspruch bewegt und ihn theoretisch reflektiert. Das vorliegende Buch ist die Summe ihrer diesbezüglichen Erfahrungen.

Gestalttherapie und Kritische Psychologie: (Wie) geht das zusammen?

Die gängige Alternative zur Berücksichtigung der gesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz ist ein Denken in der „Unmittelbarkeit“, eine Denkweise, die die Möglichkeit eines unverstellten Zugangs zwischen dem Subjekt und seinem Gegenüber vorgaukelt und deren lange Tradition im Konzept des bürgerlichen Individuums die Autorin (u.a. unter Bezug auf Hegel und Marx) nachzeichnet. Sie macht deutlich, dass sich dieses Konzept auch in den gestalttherapeutischen Konzeptionen der Selbstverantwortung, -verwirklichung und -entfaltung wiederfindet – nahegelegt natürlich durch die Intensität der interpersonellen therapeutischen Begegnung, die aber alles andere als „unvermittelt“ sei.

Sylvia Siegel bleibt dabei aber nicht stehen, sondern sie rekonstruiert historisch-systematisch, inwieweit „bewusstes oder unbewusstes Wissen um Vermittlungszusammenhänge“ in die Praxis der Gestalttherapie eingeht bzw. wie derartiges Wissen systematisiert und genutzt werden kann. Pate steht dabei die Kritische Psychologie, die zwar begrifflich und methodisch dem Zusammenhang individueller und gesellschaftlicher Reproduktion Rechnung tragen kann, aber über kein ausgearbeitetes Therapiekonzept verfügt.

Sylvia Siegels Erörterungen finden nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern unter Bezug auf die konzeptuelle und institutionelle Entwicklung von vier therapeutischen Hauptströmungen: psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierter, humanistischer, verhaltenstherapeutischer und systemischer Orientierungen, vor deren Hintergrund nämlich auch die Gestalttherapie begriffen werden müsse. Der Zusammenhang dieser Entwicklung mit gesellschaftlichen Individualisierungsschüben findet hier ebenso Berücksichtigung wie eine Diskussion des medizinischen Modells, (verborgener) normativer Vorstellungen, schulenübergreifend verstandener „Wirkfaktoren“, der Asymmetrie der therapeutischen Beziehung und administrativer Aspekte wie der Kassenzulassung.

Fünf Fragestellengen bzw. Themen sind es dann, die den Gang der weiteren Untersuchung bestimmen: historische und gegenwärtig unterschiedliche Erscheinungsformen der Gestalttherapie, deren Konstruktion der Mensch-Welt-Beziehung, ihr Verständnis von psychischer Störung, ihre Behandlungskonzepte und „Techniken“ und welche Brechungen des Unmittelbarkeitsdenkens (exemplifiziert an einem Fallbeispiel) erkennbar sind. Was diese Teile so lesenswert macht, ist, dass sie nicht nur einen – Kontroversen nicht aussparenden – fundierten Einblick in die Gestalttherapie bieten. Darüber hinaus werden die Darlegungen auch immer wieder auf die Grundfragestellung des Buches bezogen, den Gesellschaftsbezug individuellen Leidens und Handelns.

Im Resultat ihrer Analysen diskutiert Sylvia Siegel folgende Aspekte, die einer Überwindung des Unmittelbarkeitsdenkens dienlich sein können (und die freilich nicht alle spezifisch für die Gestalttherapie sind): einen nicht individuumszentrierten Belastungsbegriff, eine ebenfalls nicht individuumszentrierte Ressourcenorientierung, Dialog und damit verbundene Intersubjektivität, Reflexion der Expertenmacht und die Situations- und Subjektivitätsspezifik des phänomenologischen Ansatzes, wie er in die Gestalttherapie Eingang fand. Außerdem, so die Autorin, könnten das gesellschaftliche Bewusstsein des Therapeuten, die partielle Hinterfragung der Funktionalität von Bedürfnissen und eine Orientierung auf die Lebenswelt eine positive Rolle spielen.

An einem Fallbespiel aus eigener Praxis schließlich werden die Analysen in ihrer praktischen Relevanz vorgestellt und so beurteilbar gemacht.

Das Buch bietet so seinen Leserinnen und Lesern eine materialreiche – auf Theorie und Praxis gestützte – Möglichkeit nachzuvollziehen, wie einerseits in der Entwicklung der Gestalttherapie die gesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Existenz in verschiedenen Aspekten thematisiert, aber theoretisch nicht bestimmend wird und wie deswegen andererseits die Überwindung des Unmittelbarkeitsdenkens theoretisch und in der Praxis sozusagen „hinzugedacht“ werden muss (und kann).

Inwieweit nun Sylvia Siegels nicht eklektizistische Reinterpretation der Gestalttherapie deren Anreicherung und Weiterentwicklung ist oder eher auf eine alternative Konzeption mit „Gestalt“-Elementen hinausläuft, bleibt m.E. offen – und muss für eine emanzipatorische Perspektive auch nicht entschieden werden. Wesentlich ist vielmehr, dass die in dem Buch aufgeworfenen Fragestellungen produktiv und auf neuem Niveau diskutiert und für die Praxis nutzbar gemacht werden können. Ebendies ist das nicht zu unterschätzende Verdienst der Arbeit Sylvia Siegels.

Berlin, im August 2012,

Morus Markard

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