Thesen zur Sucht

Ein Brief an Toni Schlösser

Veröffentlicht in: Sozialpsychiatrische Informationen, Sonderdruck 1. Quartal 1997 Jahrgang 27, S. 5-8. Web-Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Psychiatrie-Verlages. Download (PDF, 376 KB): ew1997a.pdf


Erich Wulff

Lieber Toni Schlösser,

Du hast einen großen Teil Deines Arbeitslebens der Heilung von Suchtkrankheiten gewidmet. So ist es ein bißchen vermessen, wenn ich, der ich dieses Thema immer nur an ein paar randständigen Bereichen abgeklopft habe, jetzt ein Therapiepapier zur Sucht vortragen will. Andererseits sind Sucht und Rausch doch Themen, die mich von jeher fasziniert und auch zum Nachdenken angeregt haben. Ein paar Gedankensplitter dieser Nachdenklichkeit habe ich hier zusammengetragen und dabei versucht, sie in einem fachübergreifenden, bedeutungsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang unterzubringen. Ich habe dies auch deshalb getan, weil wir beide über längere Zeit auch politische Weggenossen waren. Beide haben wir an eine bessere Welt innerhalb einer anderen, nicht vom Profit allein regierten Gesellschaftsordnung geglaubt und für sie arbeiten wollen. Was mich angeht, bereue ich diese sozialistische Wahl auch heute nicht und ich denke, daß es Dir wohl nicht anders gehen wird. Jetzt aber zu den Thesen:

1. Das Wort Sucht hängt ätiologisch mit Siechtum, Seuche und Krankheit zusammen. Laut Kluges etymologischem Lexikon hat die Wortwurzel aber auch etwas mit saugen zu tun, was die Autoren mit der Idee verbanden, in germanischen Vorzeiten hätte die Vorstellung geherrscht, Siechtum, Seuchen, Krankheiten kämen dadurch zustande, daß böse Geister, Dämonen einem Menschen seine Lebenskräfte aussaugen können. Demgegenüber hat sich der Begriff der Krankheit über die Jahrhunderte hinweg allmählich der wissenschaftlichen Vernunft untergeordnet, er ist heute auf definierbare Ursachen, gemeinsame Erscheinungsbilder, Prognosen und therapeutische Möglichkeiten bezogen, hat sich also im kartesianischen Denken und dort vorwiegend in dessen naturwissenschaftlicher Spielart angesiedelt. Der Begriff der Sucht ist hingegen auf vorwissenschaftlichen, etwas altertümlichen Vorstellungen sitzengeblieben. Ihm haftet noch etwas irrationales, schwer Verständliches, Bedrohlich Gefährliches, Mysteriöses an, ähnlich wie demjenigen der großen Seuchen wie Tuberkulose, Pest und heute Aids. Weder sind die im Wort Sucht eingefangenen Vorstellungen mit naturwissenschaftlich kausalen Vorstellungen völlig zu greifen, noch geht es um Vorgänge, die, im Prinzip wenigstens, dem freien Willen und der Autonomie des Subjektes unterworfen sind. Die Idee der Sucht impliziert vielmehr, daß es diese Autonomie selber ist, die von ihr, der Sucht, allmählich aufgezehrt wird.

Wegen dieser etwas irrationalen Bedeutungskomponente hat die Weltgesundheitsorganisation den Begriff Sucht wohl auch fallen lassen und ihn durch denjenigen der Drogen  bzw. Substanzabhängigkeit ersetzt. Abhängigkeit läßt sich einerseits durch körperliche Reaktionen, vor allem im Entzug, belegen, andererseits aber auch durch beobachtbare und somit auch durch objektivierbare Verhaltensformen, z.B. Unruhezustände, Reizbarkeit, sozialer Abstieg, aber auch Beschaffungskriminalität usw. Das Gefährliche, Irrationale der Sucht, ihre Nähe zu den blutsaugenden Dämonen, zum Verlust der personalen Identität geht bei ihrer Definition als beobachtbare und objektiv beschreibbare Abhängigkeit allerdings verloren, ebenso wie auch ihre Subjektseite, die Frage nach der Art des Glücks, das sie verspricht und auf ihre Weise auch gewährt, durch eine solche Umbenennung zum Verschwinden gebracht wird. Um nicht vorzeitig zuviel wegzuschieben und auszuklammern, werde ich hier gegen den Fachjargon weiterhin von Sucht reden, auch wenn dieser Begriff erst mal nicht so streng wie der der Abhängigkeit definiert werden kann.

2. Sucht ist ohne ein eigenes süchtiges Bedürfnis, ohne süchtiges Wünschen nicht vorstellbar. Süchtige Wünsche und Bedürfnisse sind wie alle Bedürfnisse und Wünsche auf sie erfüllende Gratifikationen bezogen, mögen diese nun vermittelt durch Stoffe zustande kommen oder aber durch den Thrill bestimmter Situationen: Glücksspiel, Risiko, manche Form sexueller Lust, aber auch Gewalt.

Süchtige Wünsche und Bedürfnisse richten sich auf die besondere Art, aber auch auf die Intensität der gesuchten Gratifikation. Hinsichtlich der Bedürfnisse und Gratifikationen gibt es nun ganz unterschiedliche Varianten von der Spiel  bis zur Heroinsucht, von der Pervitin  bis zur Schlafsucht, von der Mager  und Freßsucht bis zum drängenden Verlangen, das eigene Spiel aufs Leben zu setzen, von der Putz  und Arbeitssucht bis zum unabweisbaren Bedürfnis nach Gewalt oder Krawallen. Man kann aber auch süchtig werden danach, von sich selbst und von der Welt nichts mehr wahrnehmen zu müssen oder auch umgekehrt danach, jede Faser des eigenen Körpers, jede Kontur, jede Nuance der Dinge um einen herum lust­- und genußvoll zu erfahren.

3. Süchtige Gratifikation hat zumeist, vor allem bei der Drogensucht, aber nicht nur bei ihr, die Eigenschaft, daß sie nicht zu abschließenden, länger anhaltenden Befriedigungserfahrungen führt. Vielmehr verlangt sie entweder einen immer höher ansteigenden Intensitätspegel oder ein ständig zunehmendes Raffinement. Oder aber, wo dieses beides nicht erreichbar ist, statt dessen wenigstens eine Wiederholung in immer kürzeren Abständen. Süchtige Gratifikationen haben etwas Atemberaubendes, aber auch etwas Atemlosmachendes an sich. Man hechelt ständig hinter ihnen her und sie führen, wenn man sie einmal kennengelernt hat, immer nur zu sich selbst zurück, nicht woanders hin, nicht weiter zu neuen Wünschen und Zielen. Bedürfnisse und Wünsche auf der einen Seite, Befriedigung und Erfüllung auf der anderen sind in der Form eines Kreises ständiger Selbstwiederholung miteinander verbunden, nicht in der Form einer sich selbst erneuernden Spirale.

4. Die Intensitäts  und Glücksempfindungen aufgrund süchtiger Gratifikationen und ihrer Erlebnisdichte sind nicht das Ergebnis eigener oder gemeinsamer Tätigkeiten im Rahmen einer gesamtgesellschaftlich eingebundenen Lebensbewältigungs , Sinn  oder Zielperspektive. Sie lassen sich vielmehr unabhängig vom Lauf der Welt, unabhängig auch von eigenen Erfahrungen oder Mißerfolgen in der Arbeit, in der Familie, in der Liebe quasi instrumentell erzeugen. Möglich wird das dadurch, daß ich vermittels bestimmter Substanzen oder vermittels Thrills bestimmter, bewußt gesuchter Situationen meine Stimmung, meine Antriebslage, manchmal aber auch die Wahrnehmung meiner Innen  und Außenwelt, meinen momentanen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend, verändern kann. Das so manipulierte Glück setzt sich damit an die Stelle eines durch eigene Anstrengungen errungenen oder durch das Wohlwollen, die Freundschaft, die Liebe anderer Menschen bzw. durch den Zufall geschenkten. In der Sucht versucht ein Mensch, sich selbst zum Herrn seines Glücks zu machen, ohne daß er etwas anderes dazu tun muß, als sich in eine möglichst jederzeit verfügbare Auslösersituation dazu zu begeben.

Man könnte auch sagen, Sucht sei, darin der maniformen Gratifikation ähnlich, der Versuch des kleinen Mannes, durch die Hintertür das Schlaraffenland zu gelangen; sich dorthin einen Weg zu schaffen, wo der Millionär schon seit langem zuhause ist. Paradoxerweise ist es gerade dieser absolut gesetzte Wunsch nach totaler Selbstverfügung und Machbarkeit des Glücks, der den Süchtigen schließlich in eine ebenso totale Abhängigkeit stößt, eine Abhängigkeit von Substanzen oder von bestimmter Auslösersituationen, die beide meist Geld und Zeit kosten und deshalb häufig mit dem Abdriften in die Beschaffungskriminalität bezahlt werden müssen.

5. Durch die Manipulierbarkeit von Glücks  und Befriedigungserfahrungen geht deren Signalfunktion verloren: Ihre Signalfunktion, daß man sich durch eigenes Tun, durch die Tätigkeit anderer oder durch ein glückliches Zusammentreffen von Umständen in einer Situation befindet, in welcher man, im Moment jedenfalls, nichts mehr zu tun braucht, wo man in seinen Anstrengungen nachlassen, loslassen, wo man entspannen kann und darf. Die englisch-französische, dem lateinisch entlehnte Wortbedeutung von Befriedigung, Satisfaction  , daß nämlich genug getan worden ist und man dementsprechend im Moment nichts zu tun braucht   spiegelt diese Signalfunktion von Befriedigungserfahrungen in einem gesamtgesellschaftlich vermittelten Lebensgewinnungsprozeß von Individuen wieder.

Süchtige Gratifikationen stellen hingegen dadurch, daß sie vom Tun, vom eigenen wie demjenigen der anderen abgekoppelt werden, Falschmeldung von Befriedigungen im Sinne der Satisfaktion dar. Das einzige Tun, an welches sie immer noch angekoppelt bleiben, ist das Beschaffen von Stoff oder die Suche nach anderen Thrillersituationen.

6. Die Zentrierung aller Bedürfnisse auf eine einzige Art der Gratifikation oder doch nur einige ganz wenige, engt die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse und Befriedigungsmöglichkeiten ein und führt zu deren qualitativer Verarmung und Austrocknung. Die Verarmung der Bedürfnisse und Befriedigungsmöglichkeiten setzt sich fort in einer Verarmung der Tätigkeitsformen, die zur Befriedigung führen können. Dies bringt mit sich, daß Bedürfnisse ebenso wie Tätigkeiten und Befriedigungen sich nicht aufeinander aufbauen und auseinander entwickeln können. Das hat zwangsläufig auch einschränkende Folgen auf die Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit, insbesondere jugendlicher Menschen.

7. Süchtige Wünsche werden zu Zeiten übermächtig, wo Befriedigungen im Rahmen gesellschaftlich eingebundener Lebensbewältigungen schwer zugänglich sind, wo produktive Wirklichkeitserfahrungen, die jemanden weiterführen und gerade dadurch auch befriedigen, kaum gemacht werden. Noch heftiger schwellen sie an in Zeiten, wo gesellschaftlich eingebundene Zielvorstellungen für den einzelnen völlig verlorengegangen sind und oft auch der nachbarschaftliche und familiäre Zusammenhalt sinnlos geworden zu sein scheint. Der französische Soziologe Emile Durkheim, einer der Stammväter dieser Wissenschaft, sprach von Anomie, von einer Namen  und Begrifflosigkeit, um derartige Zustände zu charakterisieren.

Damit ist das Feld umrissen, in welchem süchtige Bedürfnisse wuchern können. Natürlich gibt es daneben seit früher Kindheit erworbene, auf Versagensängste und Vertrauensverlust beruhende, ebenso unabweisbare wie unerfüllbare narzißtische Autonomiewünsche, die einzelne Menschen unabhängig von der gesellschaftlichen Gesamtkonstellation für die Selbstherrlichkeit süchtiger Gratifikationen besonders empfänglich machen. Beides, in der Kindheit entstandene, von der Wirklichkeit uneinlösbare narzißtische Autonomie  und Glücksansprüche auf der einen Seite, eine versagende, Gratifikation durch Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß nicht zulassende Erwachsenenwirklichkeit auf der anderen Seite   oder gar eine gesellschaftliche Anomie, wie derzeit in vielen ehemaligen Ostblockländern, können aber auch in einen Teufelskreis gegenseitiger Verstärkung geraten. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Randalierer hingewiesen, bei denen durchaus suchtanaloge Bedürfnisse zu vermuten sind, und zwar nach einem Zusammenprall mit einer Wirklichkeit, die man aus eigener Machtvollkommenheit, wenn man sie schon nicht mitgestalten kann, so doch für einen Augenblick wenigstens auseinandernehmen, demontieren kann. Die Orientierungs  und Chancenlosigkeit der Jugendlichen ist das Feld, das solche Bedürfnisse nach totaler Autonomie   wenigstens im Zerschlagen und Zerstören übermächtig werden läßt, ein Bedürfnis nach Bambule wie sonst nur im Knast. Vielleicht ist es mehr ein Zufall, abhängig davon in welche Gruppe man hineingerät, daß ein solches süchtiges Autonomiebedürfnis von dem einen eher durch Drogen, vom anderen eher durch Krawalle, manchmal aber auch durch beides befriedigt wird.

8. Suchtanaloge Befriedigungen können auch in psychotischen Zuständen erlebt werden, z.B. in manischen Phasen, aber auch manchmal in einem schizophrenen Größen  und Berufungswahn. Manchmal ist es auch die wahnhafte Erlebnisdichte selbst, das Gefühl besonderer Bedeutsamkeit, das angesichts von Alltagsleere und Routine als beglückend erfahren und nach dem Abklingen der Psychose wieder gesucht wird. Absetzen antipsychotischer oder prophylaktischer Medikation, Schlafentzug, Streß, Provokation von Psychose auslösenden Situationen, die eigenen Vulnerabilitäten entsprechen, das sind Mittel, mit denen sich manche Kranke in ihre Psychosen zurück katapultieren können. Dabei sehen manische Gratifikationen so aus, daß im Rahmen einer massiven Antriebssteigerung und Stimmungsanhebung alle Alltagsdinge und Tätigkeiten in eine besondere Sinnträchtigkeit, Bedeutsamkeit und Wichtigkeit eingetaucht scheinen. Demgegenüber vermittelt der erfolgreiche Abschluß einer Tätigkeit darüber hinaus aber keine zusätzliche Befriedigung mehr.

9. Über Jahrzehnte war die pharmazeutische Industrie an der Erzeugung von Suchtmitteln beteiligt. Nachdem Morphinpräparate sich als suchterzeugend erwiesen hatten und der Absatz zurückging, entwickelte Bayer vor dem ersten Weltkrieg das Heroin. Er wurde u.a. damals als hochwirksames Mittel gegen Erkältungskrankheiten empfohlen. In den Jahren danach tauchten dann immer, wenn ein Stoff auf die Betäubungsmittelliste gesetzt wurde und damit nur begrenzt absatzfähig geworden war, ein neuer ähnlicher auf, der dann nach einiger Zeit das gleiche Schicksal erlitt. Bei den Schmerzmitteln nenne ich hier nach dem Heroin das Dolantin, das Cliradon und das Polarrüdon und schließlich das Fortral und das Valoron. Ähnliches läßt sich für die Reihe der zentralen Stimulanzien und Appetitzügler, der Hustenmittel, der Schlaf  und Beruhigungsmittel nachweisen.

10. Die gesellschaftlichen Kontrollorgane verfolgen vor allem diejenigen Formen der Süchtigkeit, in denen sich frustrierte Autonomiebedürfnisse entladen. Die von ihnen ins Feld geführte Gesundheitsschädlichkeit der Droge spielt bei dieser Haltung nur eine randständige Rolle. Alkohol und Tabak werden freundlich geduldet, auch der Gebrauch von Beruhigungs  und Schlafmitteln wird zwar kritisiert, aber kaum ernsthaft zu unterbinden versucht. Der Konsum von Kokain und Heroin, aber auch von Halluzinogenen, von Speed und Cannabis wird demgegenüber strafrechtlich verfolgt. Aufgrund der Gesetzgebung, der Strafverfolgung, aber auch der gesellschaftlichen Ächtung führt eine Handlungsweise, die anfangs vielleicht nurmehr Neugier war und sonst bloß eine symbolische, trotzige Auflehnungsgeste eines Jugendlichen blieb, auch tatsächlich rasch aus der Gesellschaft heraus in Marginalität und Delinquenz hinein. Vieles spricht aber dafür, daß manche der sogenannten illegalen Drogen erst durch ihre Illegalisierung, d.h. durch die rabiate Strafverfolgung und die gesellschaftliche Ächtung tatsächlich so sehr viel gefährlicher geworden sind als die legalen.

Die Drogentoten z.B. sind zum größten Teil das Ergebnis unkontrollierbarer Substanzkonzentrationen in den illegal vertriebenen Handelsprodukten. Und wieviel Jahre Aids muß es geben, bis die Heroinabhängigen das Recht erhielten, auch sterile Nadeln zu kaufen. In den Strafanstalten dürfen sie das meistens bis heute immer noch nicht. Aber auch auf der Ebene der zunächst einmal weniger tödlich erscheinenden Gefahren: hat man einmal eine Strafe weg, dann kommt man aus dem Teufelskreis von sozialem Abstieg, Perspektivlosigkeit und süchtigem Bedürfnis oft gar nicht mehr heraus. Schließlich macht die Illegalisierung der Drogen diese auch zu einem Mittel, den Ausstieg aus der Gesellschaft und den Protest gegen sie, gegen Eltern, Schule, Lehrer, Arbeitsplatzverhältnisse massiv ausdrücken zu können. Dieser Protest ist allerdings immer zweideutig, weil er die Werthierarchie, gegen die er angeht, zum Teil auch selber übernimmt. Am groteskesten ist dabei, daß eine Gesellschaft, die die Autonomie der Individuen zu ihrem höchsten Wert erklärt, Versuche, diese Autonomie auf eigene Faust, sozial unangepaßt, d.h. anders als über Geld und Macht, also gleichsam „unverdient“, erfahrbar zu machen, als schlimmstes Übel verfolgt: So als wenn Drogenkonsum eine Art Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung oder eine sakrilegbegehende Amtsanmaßung wäre. Der Verdacht liegt nahe, daß durch ihn der fundamentale Glaubenssatz angetastet wird, Autonomie sei legitimerweise nur durch Geld und Macht zu haben. Durch die Illegalisierung und die damit bedingte Verteuerung der Drogen wird die Herrschaft des Geldes über das Glück dann aber rasch wiederhergestellt.

11. Die Droge ist der kapitalistischen Gesellschaft zum Sündenbock schlechthin geworden. Sie hat, nachdem der Kommunismus sich aus dem Staube gemacht hat, im Reiche des Bösen die Herrschaft übernommen. Sie ist wie der Kommunismus der Versucher, der das Paradies verspricht und die von ihr Verführten geradewegs zur Hölle führt. In gewissem Sinne tritt die Droge in dieser Hinsicht auch die Nachfolge der nach 1968 ein Stück weit enttabuisierten Sexualität an. Sündenbock ist die Droge dabei für die Eltern, die sich keine Frage mehr stellen müssen, wenn ihr Kind durch sie auf die schiefe Bahn geraten ist, aber auch für die Gesellschaft und ihre Institutionen, weil sie von deren anderen selbsterzeugten Problemen, Schulfrust, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Umweltzerstörung so erfolgreich ablenken kann. So kann man den Verwahrlosungszustand, in dem sich ein Teil der oft arbeitslosen Jugendlichen, besonders in den Slumbezirken, befindet, nun der Droge allein zur Last legen und sich beruhigt seinen Geschäften zuwenden.

Das ist auch deshalb für die Herrschenden so wünschenswert, weil die rassistische oder erbgenetische Deutung dieses Elends trotz erheblicher ideologischer Anstrengung in diesem Bereich, so des Versuches, die Erbbedingtheit auch der Sucht zu beweisen, bisher noch nicht genug greift.

Da es sich aber in der Tat zumeist um Teufelskreise zwischen der Perspektivlosigkeit der Menschen, süchtigen Bedürfnissen, der Drogenwirkung und deren Illegalisierung handelt, die Drogen an dem Teufelskreis also mitbeteiligt sind, ist es auch nicht einfach, die schuldentlastende Funktion einer solchen Dämonisierung klarzulegen, ohne gleich schon der Komplizenschaft zum Drogenhandel oder der völligen Verharmlosung der Drogenwirkung geziehen zu werden.

12. Die Droge eignet sich durch diese Dämonisierung vorzüglich als Legitimation für die Ausweitung und Aufrechterhaltung von Repressionsapparaten, aber auch für die Suspendierung rechtsstaatlicher Garantien. Der Kampf gegen sie hat sich bisher als unwirksam erwiesen, ähnlich unwirksam wie derjenige gegen den Alkohol zur Zeit der Prohibitionsepoche in den USA, und dies wohl auch deshalb, weil die Illegalisierung die Profite immer weiter ansteigen läßt. Bei über 300%-Profit sind die Menschen bereit, jedes Verbrechen zu begehen, sagt Marx. So steht auch nicht zu befürchten, daß der immer weiter ausgebaute Repressionsapparat eines Tages überflüssig werden könnte. Wo er zuschlägt, trifft er übrigens nur selten die großen Bosse. Zu seinen Opfern werden meist Koka  und Mohnbauern, Arbeiter in den Labors, bei der Verpackung und beim Transport, die alle in den Elendsländern der Dritten Welt kaum eine andere Alternative zum Überleben hatten: und bei uns in erster Linie Kleinhändler, bestenfalls mal ein Dealer auf der mittleren Ebene.

13. Sehr enge Verbindungen existieren seit eh und je zwischen den Geheimdiensten und dem Drogenhandel. Sie sind im einzelnen in dem Buch von Alfred McCoy, „Die Politik des Heroins“, aber auch in der Studie von Rolf Üssler, „Mafia, Mythos, Moral und Macht“ beschrieben. Geheimdienste brauchen den Narcodollar, um Operationen durchzuführen, die sich parlamentarisch nicht legitimieren lassen. Eines Tages werden Operationen gegen Drogenhändler vielleicht auch selber mit Narcodollars finanziert, falls dies bisher noch nicht geschehen ist, was mich verwundern würde. Es geht dabei um die Stärkung der Exekutive auf Kosten parlamentarischer und öffentlicher Kontrolle. Aber es gibt auch Thesen, die darüber hinaus behaupten, daß die kapitalistische Wirtschaft ohne ein solches Polster unkontrollierter Geldmengen gar nicht mehr auskommt. Rolf Üssler spricht vom mafiosen Gesellschaftsmodell im Kapitalismus. Aufgaben, wie politische Einflußnahme auf Amtsträger, unkontrolliertes Einschleusen von Spendengeldern für Parteien und andere Organisationen, ließen sich ohne diese Narcodollars vielleicht gar nicht mehr bewältigen.

Gleichzeitig geht von den großen Geldmassen natürlich aber auch eine Gefahr aus, Märkte und Börsen durcheinanderzubringen und somit Krisen zu provozieren. Drogenhandel muß also sowohl bekämpft als auch am Leben erhalten werden. Seine Expansion, ermöglicht und angestoßen durch die staatliche Drogenpolitik in den letzten Jahrzehnten, droht allerdings dieses prekäre Gleichgewicht zum Einsturz zu bringen.

14. Als letztes taucht die Frage auf: Was tun?

Wir müssen uns der Situation stellen, daß die staatliche Repressionspolitik, ähnlich wie die Prohibition in den USA der 20er Jahre, nicht nur versagt hat, sondern inzwischen mehr Elend, Unheil und Verbrechen erzeugt als sie verhindert hat. Dies wissen wir sicher, während wir nicht genau voraussagen können, was eine Freigabe   etwa im Rahmen eines staatlichen Monopols   bewirken würde. Die Folgerung, die sich daraus ergibt, läuft darauf hinaus, daß wir eine solche Freigabe über einen Zeitraum, der lang genug ist, versuchen müssen. Als erster Schritt dazu sollte Cannabis nicht nur, wie schon heute, in begrenztem Umfange toleriert, sondern für Anbau, Vertrieb und Verbrauch völlig legalisiert werden. Nur dann besteht eine Hoffnung, die Märkte voneinander zu trennen.

Man wird aber auch überlegen müssen, ob es in der Bilanz nicht doch weniger Schaden stiftet, wenn auch die „harten“ Drogen, am besten in Apotheken zu einem moderaten Preis erworben werden können. Auch dann werden Menschen an ihrer Sucht leiden, manche an ihr auch zugrunde gehen. Aber vielleicht besteht Aussicht darauf, daß es weniger sein werden als heute, im Zeitalter der Prohibition.

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