Die Frage nach der Konstitution des Subjekts

Grundsatzreferat beim 3. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, Marburg 1984. Dokumentation in: Karl-Heinz Braun/Klaus Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie Marburg 1984, Frankfurt/M. 1985, Campus, S. 60-81. Download (PDF, 439 KB): wfh1985a

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Vgl. dazu auch die weiteren Kongreßbeiträge:

sowie:


Wolfgang Fritz Haug

„Subjektivität als Problem psychologischer Methodik“, unser Kongreß-Thema, wirft sogleich Fragen der Begriffsbildung auf. Jedoch das „Subjekt“ in Frage zu stellen, geht manchem gesunden Menschenverstand gegen den Strich. Daran hängt so viel buchstäblich Selbstverständliches, hängen so viele Formen, in denen wir uns spontan selbst verstehen. Wir fühlen und wissen uns „innen“ und wollen uns „äußern“. Subjekt, unklar übergehend ins Subjektive oder in Subjektivität (1), ist wie ein Fließblatt, das sich vollgesaugt hat mit vielfältigen Bedeutungen: Bewußtsein, Denken, Reflexion … Ich, das Selbst und seine Zusammensetzungen mit Erfahrung, Findung, Verwirklichung … die Person und das Persönliche, übergehend in das Individuelle, je Eigne, vielleicht gar Private … Da sind die konnotativen Seiten des Lebens, des Alltags, der Spontaneität angeschlagen. Die Eiswüste der Abstraktion und das Reich der Herrschaftsverhältnisse scheinen weit entfernt. Um was es hier zu gehen scheint, das bin „ich, wie ich mich und meine Welt hier und jetzt erfahre“. Subjekt-Diskurse fassen einen Schwarm solcher Bedeutungen zusammen und beziehen ihre Selbstverständlichkeit aus dem alltäglichen Selbstverständnis.

Wenn wir vom Subjekt sprechen, springt wie von selbst das Objekt in die Rede. Subjekt/Objekt sind polare Gegensätze, die einander ebenso ausschließen, wie sie unzertrennlich sind. Sie bilden das strukturierende Element eines binären Kodes. Sie fungieren wie ein Verteilungsautomat, der alles Vorkommende ins eine oder ins andere Fach wirft. Wie von selbst bilden sie ein Aggregat mit anderen polaren Paaren. Sie liieren sich mit Person/Sache, innen/außen, ||61| schließlich Bewußtsein/Sein oder Wesen/Erscheinung usw. Daß diese Paare nicht ganz „zueinander passen“, tut der Selbstverständlichkeit, in der sie zu Hause sind (wie sie in ihnen) keinen Abbruch. Ihre Evidenz ist die eines geschlossenen Spiegelsystems: „innen“ ist“ nicht außen“, spiegelt sich also in seinem Gegenteil, wie dieses sich in ihm. Der Versuch, diese Einschließung selber zum Erkenntnisgegenstand zu machen, also das Ideologische als gesellschaftliche – und das heißt „äußere“ – Anordnung zu begreifen, zieht sich alsbald den Verdacht zu, die Individuen würden so „nur noch als passive Objekte ‚des Ideologischen‘ auftauchen“ (Steil 1984, 14). Das Gegenteil ist der Fall. Unter der Charaktermaske des Subjekts und des Objekts müssen erst die handelnden Individuen, ihre Vergesellschaftungsformen und ihre materiellen Lebensbedingungen – naturale wie produzierte – auftauchen.

Manche mögen das Problem der Kategorien abtun als „theorielastig“, um von der Last der Theorie so viel als möglich abzuwerfen. Sie unterschätzen die praktische Macht der Kategorien. Die Kategorien gelten ihnen als Spielmarken, durch Konvention festlegbare, im Grunde beliebige Sprachregelungen, für deren vernünftige Bedeutung sie schon aufkommen zu können glauben. Aber das ist eine Illusion. Die Kategorien bilden ein Netzwerk; einzeln ist ihnen nicht beizukommen. Sie gleichen darin der Anlage einer Stadt. Sie schreiben Wege vor, blockieren hier eine Richtung, kanalisieren dort eine andere. Ihr Ensemble stellt ein Geflecht von Artikulationsmöglichkeiten dar. In ihnen äußern und bewegen sich Praktiken, bilden sich Objekte und Ziele der Erkenntnis wie Projekte des Eingriffs. Wir mögen uns einbilden, wir seien ihre souveränen Subjekte, die über sie verfügen und sich ihrer bedienen. Aber dieses souveräne Subjekt existiert nur in seiner Einbildung. Die Anlagen der Kategoriennetze produzieren unzählige Diskurse. Und wir diskurrieren darin, laufen hin und her in diesem Netz. Unser „Subjekt“ ist eher von dieser Anlage konstituiert, als daß wir über sie verfügten. So unbrauchbar Hegels metaphysisches Schema ist, so recht hat er mit seiner Behauptung von einer Dialektik solcher Ordnungsbegriffe wie Subjekt/Objekt, die auf den gesunden Menschenverstand wirkt wie zum Verlieren desselben. (2) Die spontane Metaphysik der philosophischen Sedimente aufzusprengen, worin jene Kategorien festliegen, wird zur Lebensbedingung für eine Theorie gesellschaftsverändernden Handelns. Die Frage nach den Kategorien ist eine der Strategiefragen im Bereich des Denkens. Beim Denken aber geht es um die Artikulation des Handelns. ||62|

Diese Strategiefrage pflegt nach dem Sprichwort angegangen zu werden: „Jeder Wolf ist König in seinem Walde.“ Oder: Jeder Kritische Psycholog ist sein eigner Philosoph. Wo danach gehandelt wird, kommt es zur spontanen Philosophie der Wissenschaftler, der Althusser 1967 eine höchst geistreiche (auf deutsch erst 1985 im Argument-Verlag erscheinende) Schrift gewidmet hat. Es versteht sich, daß unter Marxisten das Verbellen der jeweils andern als „Philosophen“, die sich gefälligst nicht einmischen sollen, ausgeschlossen sein müßte. Zumal es hier um ein Denken geht, das in ähnlicher Weise Philosophie ist, wie die Anti-Psychiatrie … Psychiatrie.

Wir haben den gemeinsamen theoretischen Rahmen unserer historischen Gesellschaftswissenschaft und den gemeinsamen Bezugspunkt auf das, was Marx seine theoretische Methode nannte. Und eine Kritische Psychologie in unserm Sinn muß unter allen Umständen – und hat das seit ihrem Beginn getan – die ideologische Einwirkung des disziplinären Grenzverlaufs zurückweisen. Was die disziplinäre Arbeitsteilung der bürgerlichen Wissenschaft für die jeweilige Einzelwissenschaft bedeutet, das läßt sich vergleichen mit dem, was die kategorialen Netze im Innern leisten.

Kategorien müssen immer als Knoten (und daher auch Kreuzungspunkte) in einem Begriffsnetz verstanden werden. Sie fungieren im Rahmen ihres jeweiligen Kontexts als Artikulatoren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Wenn wir untersuchen, wie Marx im „Kapital“ die Kategorienfrage methodisch angegangen ist, entdecken wir die andere Seite. Die kapitalistische Ökonomie produziert ihre eignen Kategorien in einer bestimmten Verknüpfung. „Wert“ und „Preis“, „Kapital“, „Arbeitslohn“, „Zins“ usw. „besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt. … Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.“ (Marx/Engels, Werke (MEW) 23, 90). Die Wirtschaftstheorie bleibt bürgerliche Ideologie, wo nicht gar vulgärökonomische Legitimationswissenschaft, solange sie diese Kategorien ohne Kritik, wie Marx sagt, aufgreift. Wenn wir uns die Macht und Wirkung dieser Kategorien erklären wollen, können wir sagen: sie sind objektive Gedankenformen, weil Formen gesellschaft-||63|licher Praxis. Und als gesellschaftliche Praxisformen sind sie eingeschrieben ins Institutionengefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sich die Individuen selbsttätig verhalten. Anders gesagt: indem die Individuen die Praxisformen der Tauschverhältnisse tätig ausfüllen, frei in diesen Formen ihren Vorteil suchen und miteinander konkurrieren, machen sie sich zu kleinen Subjekten dieser Verhältnisse.

Die Frage der Subjektivität – und mit ihr die Idee des Subjekts, von der sie nicht zu trennen ist – beinhaltet grundwesentliche Dimensionen und Ansprüche. Das „Wir“, und zwar als „wir selber“, steht dabei auf dem Spiel. Die menschliche Emanzipation, d.h. die Befreiung von Herrschaft und jeder Form der Vorenthaltung von Selbstbestimmung hat sich traditionell darin artikuliert. Freilich, wenn dies alles (und mehr Unverzichtbares) in diesen Kategorien artikuliert ist, dann müssen wir fragen: Wie? Es wäre ein Wunder, wenn gerade die Kategorie des Subjekts historisch unschuldig wäre und wir sie ohne alle Kritik aufnehmen dürften. Wir müssen daher fragen nach ihren Bedeutungen, Verflechtungen, ihrer Geschichte. Wir sollten fragen: gehört das Subjekt samt kategorialer Verwandtschaft zu den „gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise“ (s.o.), des Kapitalismus? Läßt sich das „Subjekt“ als institutionalisierte bürgerliche Praxisform begreifen?

Lektorski eröffnet seine Darstellung des „Subjekt-Objekt-Problems in der … bürgerlichen Philosophie“ folgendermaßen:

„Als ‚Subjekt‘ bezeichnen wir in der Erkenntnistheorie das erkennende Wesen, als ‚Objekt‘ den Gegenstand seiner Erkenntnistätigkeit. (…) Gehen wir terminologisch an unser Thema heran, so können wir bald feststellen, daß mit den angegebenen Bedeutungen der Termini ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ unser Problem erst in der klassischen deutschen Philosophie formuliert wurde, und zwar zuerst in der Philosophie Kants.“ (Lektorski 1968, 9)

In der Tat hatten dieselben Ausdrücke zuvor völlig andere Bedeutungen. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich von der enormen Wirksamkeit Kants, dieses bürgerlichsten aller deutschen Philosophen, auf dem Feld der Terminologie verblüffen zu lassen: Der historische Vergleich der Terminologie „vorher und nachher“, sowie, noch frappierender vielleicht, der linguistische Vergleich. Um einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, greifen wir zu Lalande, dem repräsentativen französischen Wörterbuch der Philosophie. Schlagen wir nach unter: SUJET. ||64|

Wer ein Freund klarer Verhältnisse ist und gern jederzeit eindeutig gesagt haben möchte, was rechts und was links ist, wird keine Freude haben. Lalande gibt dankenswerterweise die deutschen Äquivalente. Sujet übersetzt sich demnach also mit Subjekt, auch Person, und soweit so gut. Aber in erster Linie ist es Gegenstand, also Objekt, auch Versuchsperson, dazu anatomisch der sezierte Leichnam, schließlich politisch der Untertan.

Bei J.J. Rousseau heißt es: „Les associes … prennent collectivement le nom de peuple, et s’appellent en particulier citoyens comme participant à l’autorité souveraine, et sujets comme soumis aux lois de l’Etat.“ (Contrat social, 1.1, Kap. VI) – Ich übersetze versuchsweise: „Die assoziierten Individuen … geben sich kollektiv den Namen Volk und nennen sich im Besonderen Staatsbürger, insofern sie an der souveränen Autorität teilhaben, und Subjekte, insofern sie den Gesetzen des Staats unterworfen sind.“

Wie nun? Subjekt heißt in der Nachbarsprache plötzlich Objekt, Freiheit Untertänigkeit. So springen im selben Wort die Bestimmungen nach der Logik des Gegenteils um, anscheinend willkürlich. Wäre es zum Glück nur bei den Franzosen so? Flüchten wir zu den Engländern! Heißt es doch schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei Hobbes klassisch vertraut, ein Gedanke sei „a representation or appearance, of some quality … of a body without us, which is commonly called an object.“ (Leviathan, 1. Kap.). Die Welt scheint nach Innen/Außen geordnet, und „ein Körper außerhalb von uns heißt gemeinhin Objekt“. Aber die Frage nach dem Subjekt bringt uns schnell darauf, daß es im Englischen – mit deutschem Maßstab gemessen – keineswegs ordentlicher zugeht als im Französischen. Die erste Bedeutung, die das Oxford Dictionary unter „subject“ verzeichnet, ist die „Person subject to political rule“, der Untertan, wie das dazugehörige Tätigkeitswort, „to subject“, unterwerfen bedeutet. Dann folgt ein Reigen divergierender Bedeutungen, der sich kaum von der semantischen Springprozession des französischen Äquivalents unterscheidet. In der gewöhnlichen Sprache ist the subject zunächst der Gegenstand, Stoff, die behandelte Materie oder einfach das Thema. In den entsprechenden Sondersprachen bezeichnet es auch das logische, das grammatische und das metaphysische Subjekt. Aber Vorsicht! Ist auch das Wort gleich, so keineswegs die Sache. Subjekt der Grammatik, nicht Subjekt der Logik, und dieses nicht – sowenig wie das erste – Subjekt der Metaphysik … Wenn auch das deutsche „Subjekt“ äquivok diese Unterschiede überdeckt, so hat hier doch die philo-||65|sophische Terminologie gesiegt. Eine sprachliche Zusammenfassung verschiedener regionaler Bedeutungen, die in gewisser Weise analog sind (oder dadurch vollends analogisiert wurden), ist hier erfolgt. Eine genauere historische Untersuchung (vgl. dazu Haug 1984) zeigt, daß diese Bündelung das funktionale Produkt einer typisch bürgerlichen Konstellation ist. Die Verdrängung der anderen, älteren Bedeutungen durch die neue bürgerliche scheint – auf diesem Feld – eine deutsche Besonderheit, die in andere Sprachen nicht ohne weiteres übersetzbar ist.

Es mag für deutsche Ohren schmeichelhaft klingen, wenn ein sowjetischer Autor seine spezifisch deutsche Entwicklung zum universellen Entwicklungsmaßstab macht, ja sogar die gesamte Geschichte der Philosophie rückwirkend in das Subjekt-Objekt-Artikulationsmuster, das ihr ganz fremd war, hineinpreßt. Marxisten werden freilich wissen wollen: Nachdem nun heraus ist, daß die Subjekt-Objekt-Artikulation alles andere als selbstverständlich-natürlich ist, nachdem wir gelernt haben, daß sie in der bürgerlichen Philosophie Deutschlands geprägt und zum Sieg geführt worden ist, wie ist sie dann bestimmt von den Produktions- wie [von] den Politikverhältnissen dieser Tradition? Auf keinen Fall kann sie ohne Kritik in die marxistische Theorie aufgenommen werden.

Kant vergleicht in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sein Projekt mit dem des Kopernikus. Die Wende, die Kant in der Problematik der Erkenntnis herbeiführen will, bringt er auf folgende Quintessenz: „Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten …“ Er behauptet: „Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“ (KrV, B VI f.) Was sonst als Drehung der Sterne erscheint, ist jetzt Drehung des Beobachtungsobjekts. Der Vergleich ist beim zweiten Hinblicken merkwürdig unpassend. Der Zuschauer oder Kontemplator, wie es bei Kopernikus heißt, war ja durch jene Wende relativiert worden. Sein Beobachterstandpunkt wurde in das astronomische Geschehen einbezogen. Kopernikus hatte die Problematik nach außen, in den Weltraum übersetzt. Er rekonstruierte die Beobachtungen unter Bezug auf einen Standort auf dem „Raumschiff Erde“. Die Kantianische Wende hat einen ganz anderen Sinn. Sie restauriert einen Kontempla-||66|tor, um den sich neuerdings wieder alles dreht. Es ist freilich ein neuer Typ, der sich da artikuliert als Vernunft oder Subjekt. „Sein ‚transzendentales Subjekt'“, sagt Lektorski, „ist das, was der empirischen Wirklichkeit, der Natur, der Welt der Gegenstände zugrunde liegt. Sein ‚Objekt‘ ist das Produkt der Tätigkeit dieses Subjekts, dessen transzendentale Konstruktion.“ (Lektorski, 11). Entsprechend der kritizistischen Philosophie Kants bildete sich damals auch eine „Kritische Psychologie“ (oder „Reflexive Psychologie“ genannt).Ähnlich wie bei Kant figuriert dort das Subjekt als das Sein, welches erkennt etc., und zwar nicht individuell-besonders, sondern als notwendige Bedingung der Einheit der Vorstellungen, die als einheitliche dadurch zum Objekt konstituiert werden. Das Subjekt ist also objektkonstituierende Instanz. Freilich: die wirklich-sinnlichen, empirischen „Subjekte“ oder Individuen gelten damit nur als Lizenzen dieses transzendentalen Subjekts. Liegt es da nahe, Kant kurzerhand dergestalt zu beerben, daß wir dem transzendentalen Subjekt die Gesellschaft unterschieben? Diesen Weg gehen Heinz Wagner und eben auch Lektorski, um nur die beiden zu nennen. Oder wie Dieter Wittich im Vorwort zu Lektorskis Buch schreibt: „In Übereinstimmung mit einer Reihe von Autoren unserer Republik versteht Lektorski unter ‚Subjekt‘ die gesellschaftlich organisierte Menschheit und unter ‚Objekt‘ den Bereich der objektiven Realität, welcher der praktischen Einwirkung des Subjekts unterliegt.“ Aber kann man eine ideologische Schlüsselkategorie des Bürgertums marxistisch einfach beibehalten und nur mit einer anderen Bedeutung versehen? Kein Zweifel, die Bedeutung, die der Subjektkategorie hier zugeordnet wird, wollen wir hochhalten und verteidigen. Die gesellschaftlich organisierte Menschheit oder die menschlich organisierte Gesellschaft ist schon in den Feuerbachthesen von Marx als Orientierung seiner neuen Auffassung genannt worden. Aber muß sich diese Bedeutung nicht ändern, wenn sie in die alte bürgerliche Artikulation kanalisiert wird? Zumal, wenn die Bedeutungen derart verteilt werden, daß die wesentlichen Elemente des Sozialismus sich folgendermaßen darstellen: „die objektiven Bedingungen …, das Bewußtsein der Arbeiterklasse …, der subjektive Faktor, der Staat …“ (Oelßner 1959, 28 f.). Erinnern wir uns demgegenüber ans Marx‘ Hegel-Kritik: „Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivirten Staat.“ Und: „Wäre Hegel von den wirklichen Subjekten (Plural!), als den Basen des Staats ausgegangen, so hätte er nicht nöthig, auf eine mystische Weise den Staat sich versubjek-||67|tiviren zu lassen.“ (Marx/Engels, Gesamtausgabe [MEGA], I.2, 31 24; MEW 3, 231, 224.)

Wer Subjekt sagt, sagt Subjekt-Objekt und bewegt sich damit in einer binären Struktur. Dies gilt – mit Modifikationen – auch für die Hegelsche Überwindung des subjektiven Idealismus. Hegel wirft Kant vor, er habe „den Geist als Bewußtsein aufgefaßt“ (Enzykl. III, § 415) und sich damit an die Erscheinungsebene gehalten. Die Kantische Philosophie „betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes“ (ebd.).

Hegel faßt das Bewußtsein als eine Gestalt des subjektiven Geistes, das sich auf objektiven Geist bezieht.

In einer knappen Notiz von Marx, die überschrieben ist: Hegelsche Konstruktion der Phänomenologie, heißt es: „1. Selbstbewußtsein statt des Menschen. Subjekt-Objekt. 2. Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung … gefaßt wird. … 3. Aufhebung der Entfremdung identifiziert mit Aufhebung der Gegenständlichkeit … 4. Deine Aufhebung des vorgestellten Gegenstandes … identifiziert mit der … realen Tätigkeit …“ (MEW 3, 536).Diese Kritik ist ebenso treffend wie später immer wieder auf neue Weise aktuell angesichts bestimmter Entwicklungen im Marxismus. Lukacs‘ Generationen-faszinierender, immer wieder die Stichworte gebender Text von 1923, Geschichte und Klassenbewußtsein, der nicht nur die Frankfurter Schule mitgeprägt hat, fällt genau unter diese Kritik. Rückblickend kritisiert Lukacs 1967 diese Schrift: „ihre letzte philosophische Grundlage“, sagt er, „bildet das im Geschichtsprozeß sich realisierende identische Subjekt-Objekt.“ (Werke 2, 24 f.). Das Proletariat auf die Position des Subjekt-Objekts einzusetzen sei „ein Überhegeln Hegels“ (25).Den Hauptfehler sieht Lukacs darin, daß er die Vergegenständlichung des Subjekts mit seiner Entfremdung gleichsetzte. Er hätte weitergehen müssen. Sein Grund-Rückfall hinter das von Marx erreichte Niveau bestand darin, daß er – näher bei Dilthey – nach dem Subjekt-Objektivations-Muster dachte. Dieses Ausdrucksdenken drückt ein spontanes Selbstbild der interpretierenden und gestaltenden Berufe aus. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird so die „Zirkulation“ des Geistes gedacht: Hervorgehen aus dem Subjekt in die Objektivation oder Entäußerung – Re-Interiorisierung ins Subjekt als Verstehen. Dieses Muster wirkte auch unter Marxisten weiter. Ja, es wurde zum Artikulationsmuster revolutionärer Hoffnungen. Die Revolution wurde von den revolutionären Hermeneuten gedacht wie ein hermeneutischer Akt: als das endgültige Verstehen. ||68| Freilich gibt es auch in diesem Rahmen wieder große Unterschiede. Während die einen in der Subjekt-Objekt-Vermittlung das Entscheidende sehen, träumen die andern von der Abschaffung der Objektivität. Für Bloch galt der Kommunismus als „Entäußerung der Entäußerung“, „Objektivwerdung der Subjekte, Subjektvermittlung der Objekte“. (3) Dem jungen Oscar Negt bedeutete dieselbe Perspektive die Auflösung aller dem Subjekt gegen über selbständigen Objektivität.

Nicht anders äußerte sich gelegentlich der junge Marx, der sozusagen vormarxistische. In den Gründungsdokumenten der neuen Auffassung von Marx dagegen wird ein mehrfacher Bruch vollzogen: mit Feuerbach und mit Hegel. Vor allem aber wird von Anfang an eine historisch-materialistische Skizze gegeben, welche die gesellschaftliche Position der Philosophie als solcher aufweist, ihren Raum im Gefüge von Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und den großen ideologischen Institutionen, allen voran der Staat. In dieser komplexen Struktur sieht er die den ideologischen Mächten wie Recht, Religion, Philosophie etc. eingeräumten Positionen derart bestimmt, daß sie spontan einem strukturellen Idealismus verfallen. Die Regelung der gesellschaftlichen Dinge wird aus Ideen oder Idealen, aus der Heiligen Schrift oder dem Code Napoleon abgeleitet. Insofern scheint die Gesellschaft Kopf zu stehen. Die Ursachen der ideologischen Formen liegen aber in der realen Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens. Oder die ideologische Verkehrung, ihr Imaginäres, ist auch real.

„Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebens­prozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf ihrer Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“ (MEW 3, 26)

Auch die ideologischen Mächte mit ihren Praxen und Formen gehören zum wirklichen Lebensprozeß im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. So sehr wie Staat und Justiz, Schule und Psychiatrie Mächte des wirklichen Lebens sind, so sehr gehören die von ihnen unterhaltenen Formen des Imaginären zur „Sprache des wirklichen Lebens“. Nur wenn man sie abstrakt als „Bewußtsein“ faßt, entsteht die Einbildung zweiten Grades, daß hier autonome Ideen herrschen. Diese Einbildung kann sich überlagern mit der spontanen Ideologie der Ideologen, in der diese abbilden und idealisieren, was sie tatsächlich tun. Marx bringt das Beispiel vom Richter, der das Gesetzbuch vom Geist des Gesetzes her auslegt und auf die Gesellschaft anwendet, wenn sein Urteil auf deren individuelle Mitglieder niederfällt. ||69|

Das Beispiel – wie viele andere – soll zeigen, wie ein durchaus „äußeres“ Arrangement im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ derartige Innen-Außen-Praxen und ihre Ideologien generiert. „Historischer Materialismus“ wird zum Losungswort der Kritik solcher Ideologien (inklusive der des „abstrakten Spiritualismus der Materie“). Doch nicht nur auf dem Feld der Geschichte mußte Marx gegen solche Ideologien angehen. Sie hielten auch das Feld des Redens über Arbeit besetzt. Hier gilt das Produkt als Vergegenständlichung des Arbeitersubjekts. Marx fuhr mit wahrem Furioso dazwischen. Allein die Bourgeoisie hat Interesse daran, ein derartiges imaginäres Subjekt der Arbeit aufzubauen und „der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten“ und die Naturgrundlage der Produktivkräfte wie allen materiellen Reichtums zu unterschlagen.

„Denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, … der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben.“ (MEW 19, 15)

Der Lohnarbeiter könnte sich allenfalls als „Subjekt“ einer „gespenstigen Wertgallerte“ ansehen. Wie im letzten Beispiel und in den weiter oben zitierten Auffassungen die Natur weggedacht wird, so schlägt das Denken im Subjekt-Objektivations-Schema das ganze Multiversum des gesellschaftlichen Lebens ins Einerlei. Welche politische Praxis dem entsprechen könnte, sollte man sich rechtzeitig klarmachen.

Wie recht hatte Marx mit seiner Hegel-Kritik: „Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung gefasst … wird.“

Verfolgen wir einige der Unterschiede auf dem Feld des Subjekt-Diskurses selbst. Denn zur Stärke der Subjektideologie trägt bei, daß die unterschiedlichen „Subjekt“-Bedeutungen miteinander verzurrt sind. Wir beginnen mit dem grammatikalischen Subjekt. Spontan ist man geneigt, das grammatikalische Subjekt mit dem logischen Subjekt zu verwechseln, bzw. beide für identisch zu halten; womöglich wirft man sie überdies noch mit dem Subjekt einer Handlung zusammen. Das mag einen ersten Eindruck vom Äquivokationsproblem der Rede vom Subjekt geben. Der Status eines grammatikalischen Subjekts verdankt sich der Positionierung in einer propositionalen Form. Lalande bringt als Beispiel folgende Proposition: „Nichts ist schön als das Wahre allein.“ Dazu: 1) Es geht um keine Handlung (allenfalls mag man die Aussage als propositionalen Akt auffassen, ||70| dessen Subjekt indes nicht erscheint). 2) Das grammatikalische Subjekt („Wer oder was?“) ist: „Nichts“. 3) Das logische Subjekt ist „das Wahre“. 4) Das Beispiel weist nicht einmal ein Real-„Subjekt“ im aristotelischen Sinn (ousía próte), auf, d.h. ein real-existent zugrundeliegendes, notwendigerweise immer individuelles Sein, das Handlungen produziert oder der Sitz der ausgesagten Bestimmungen ist …

Wir wechseln über ins juristische Feld mit seinem Subjekt. Zum Einstieg soll ein Bundesgerichtsurteil dienen. Dabei geht es um Peep-Shows. 1982 wurden sie in der Bundesrepublik für ungesetzlich erklärt – und zwar in spezifischer Differenz zum Striptease. Das Verbot des einen und die Freigabe des andern Phänomens wurde mit Begriffen des Subjekt/Objekt-Schemas artikuliert. In der Peep-Show würde der Frau eine „objekthafte Rolle“ zugewiesen, in der sie „als bloßes Anregungsobjekt zur Befriedigung sexueller Interessen angeboten werde“ (FAZ, 15.2.82: „Die Frau soll nicht ein Objekt sein“).Aber trifft dies nicht auch auf den Striptease zu? Nein, hier sahen die Richter grundlegende Unterschiede: 1) das Publikum wird „vor ihr wahrgenommen“; 2) sie „bewege sich in einem Rahmen, der in der Tradition der herkömmlichen Bühnen- oder Tanzschau“ bleibe; 3) dieser Rahmen lasse „nach dem hier maßgeblichen regelmäßigen Erscheinungsbild die personale Subjektsituation der Darstellerin unberührt“ (Aktenzeichen BVerwg 1 C 232.79).

Das Beispiel zeigt: das „personale Subjekt“ ist (zumindest auch) eine institutionalisierte Form und als solche allgemeines Rechtsgut unserer Rechtsordnung. Die Sklaverei ist verboten. Die Individualform „personales Subjekt“ ist nicht nur schutzwürdig, sondern sie ist Pflicht; kein Individuum besitzt, juristisch gesehen, die Kompetenz, diesen Status zu veräußern. Wir erinnern uns, daß auch die Kirche mit ihren Formen und mit denselben Begriffen energisch dafür eintritt. Der gegenwärtige Papst hat in seiner Sexualethik die Artikulationsform des personalen Subjekts weiter ausgearbeitet. „Person“, woran das „Subjekt“ hängt, fungiert als zentraler Artikulator in seiner Moraltheologie. Dies alles deutet darauf hin; daß wir es hier mit einer Form des von den übergeordneten Institutionen (Recht, Religion, aber bei näherer Untersuchung wird sich die Liste verlängern) in Pflicht genommenen Individuums zu tun haben.

Dem gewöhnlichen Bewußtsein entgeht diese Tatsache, daß das, was ihm als Privatform gilt, nichts Privates ist, sondern Rechtsgut und Theologie in einem. Im Krisenfall (Konflikt in der und vor allem Verstoß gegen die Ordnung) tritt dies so schlagend hervor wie eine Verhaftung. Dann ||71| bedarf es des Personalpapiers zwecks Identifikation des Subjekts einer Untat. Ihr Subjektsein heißt, daß sie einem zurechenbar ist, sofern man im Augenblick ihres Vollzugs zurechnungsfähig war. Das Subjekt begegnet hier als das aristotelische Realsubjekt der Justiz: als das, woran (oder an dessen Eigentum) man sich halten kann. Auch das ist dem gesunden Menschenverstand sonnenklar, gilt ihm als selbstverständliche Naturform. Wir müssen uns also nach Beispielen umsehen, die diese Selbstverständlichkeit erschüttern. Auf den Flugblättern steht z. B. in der Regel ein Name mit dem Zusatz: „Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes“. Es ist nicht nötig, daß der Betreffende den Text inhaltlich verantwortet oder auch nur kennt, umgangssprachlich gesprochen. Der Justiz genügt es, jemanden zu haben, an den sie sich im Zweifelsfall halten kann. Es gab einmal eine Zeit in Deutschland, als die linken Organe Scheinredakteure angestellt hatten und im Impressum führten, die im Falle der häufig von Amts wegen angestrengten Majestätsbeleidigungsverfahren stellvertretend die Haft absitzen mußten, sogenannte „Sitzredakteure“. Sie sind juristische Subjekte, und das wirft ein Licht darauf, daß vielleicht „das Subjekt“ ganz allgemein auch ein Sitzredakteur der Verhältnisse ist.

Eine erhöhte Erkenntnischance bieten auch die Übergänge zwischen Mündigkeit und Unmündigkeit, die rituelle Passage über die Un-/Mündigkeitsgrenze. Überhaupt müssen wir die Vormund-Mündel-Verhältnisse hinzunehmen, um die naive Metaphysik des Alltags zu erschüttern. Wenn wir so weiterfragen, fächert sich uns die Frage nach dem Subjekt auf in Fragen der Schulpflicht & Erziehungsberechtigung, der Status des Zöglings muß in seiner Beziehung zum Subjektstatus untersucht werden; Vertrags- und Schuldfähigkeit(en) aller Art geraten in den Blick; die Heiratsfähigkeit, das Wahlrecht usw. Wir lernen daraus: Weder ist ein Individuum notwendig ein Rechtssubjekt, noch ein Rechtssubjekt notwendig ein Individuum (z.B. die Psychiatrische Anstalt, in die ein unzurechnungsfähiges Individuum eingeliefert wurde, tritt als Rechtssubjekt auf).

Ein Rechtssubjekt ist positiv der Besitzer eines Rechts (was hier gleich Macht ist) zur Befriedigung eines Interesses. Personen (als Rechtssubjekte betrachtet) sind nicht konkrete Individuen, sondern gelten „als Aktoren des sozialen Lebens in einer bestimmten Beziehung“ (Colin & Capitant, vol. I, p. 101). Die juristische Person hebt folgerichtig vollends ab vom Individuum. Für unsern Zweck genügt es, drei qualitativ heterogene Gruppen von Rechtssubjektivi-||72|täten zu unterscheiden, die in der Kategorie des Subjekts gebündelt sind und einander überdeterminieren: 1) Das zivilrechtliche Subjekt, bei dem es im wesentlichen um Übertragung von Eigentumsrechten in Form von Verträgen geht; eine besondere Untergruppe ist das Subjekt von Schulden. 2) Schuld in der Einzahl ist eine Zentralkategorie des Strafrechts, dessen Subjekt der Täter der kriminellen Tat ist. 3) Das verfassungsrechtliche Subjekt ist der Staatsbürger, mit Rechten und Pflichten eingeschrieben in den Staat, gegen dessen Verfassungsorgane in bestimmter Weise abgegrenzt und ihnen zugleich unterstellt. Wir sehen: Allein schon das Rechtssubjekt ist ein Kreuzungspunkt von Beziehungen in einem mehrdimensionalen juristischen Universum. Und darüber hinaus ist dieses Gefüge seinerseits verfugt oder verknüpft mit einem komplexen Netzwerk von Institutionen, die sich wechselseitig als Zulieferanten und Abnehmer begegnen. Das einzelne „Subjekt“ zeigt sich nun als der Knoten punkt vieler Linien im Individuum oder als juristische Person (etwa eine Aktiengesellschaft oder eine politische Partei). Als Subjekt-Dispositiv taucht auf der Staat, die politisch rechtliche Gestalt der Produktionsverhältnisse.

Was für ein Quid pro quo in ein- und derselben Kategorie: Subjekt – ist nicht mehr der Brenn- und Mittelpunkt des Subjektiven, Innersten, Eigensten, Individuellsten, dessen, was wir je selbst sind, was sich selbst das nächste ist, dieser Verbindung aus Interesse und Gefühl. Ist es die Staats- und Rechtsform des Individuums (oder kollektiver Aktoren)? Wäre es zudem entscheidend geprägt durch bürgerliche Besitzverhältnisse? Wäre Subjekt am Ende das in den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen festgehaltene Individuum?

Lassen wir uns für einen Augenblick erschüttern! Flüchten wir in die frühklassische Fassung der Kritischen Psychologie, d.h. zu Klaus Holzkamps „Sinnlicher Erkenntnis“ von 1973! Dort treffen wir auf einen Satz von Begriffen, der um die Artikulation von Individuum, Handeln, Fähigkeiten, Lebensbedingungen, Gesellschaft usw. gruppiert ist (vgl. dazu Haug 1983, 38-42). Zielbegriff ist das gesellschaftlich handlungsfähige Individuum. Seine Handlungsfähigkeit wird begriffen als Teilnahme an der Kontrolle seiner gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Sind wir hier vor der juristischen Ideologie sicher? Nein, nicht ohne weiteres. Betrachten wir das Element Handlungsfähigkeit (HF), finden wir das Recht schon wieder zur Stelle. Die juristische Besetzung dieser Stelle lautet etwa: „Unter HF ist die Möglichkeit zu verstehen, durch eigenes verantwortliches Handeln Rechts-||73|wirkungen hervorzurufen … Die Rechtslehre gliedert die HF … in die Geschäftsfähigkeit …, in die Deliktfähigkeit … und in die Verschuldensfähigkeit … Fehlt die HF (insbesondere bei Minderjährigen), so steht diese regelmäßig einem gesetzlichen Vertreter zu … Dagegen besteht heute keine Beschränkung der HF einer Frau, insbes. einer Ehefrau mehr …“ (Creifelds 1973, 543). Die Kritische Psychologie muß derartige institutionelle Handlungsbedingungen (die sich in bestimmter Hinsicht als ideologische In-/Kompetenz-Verhältnisse denken lassen) in Theorie und Praxis berücksichtigen und darauf achten, daß ihr Begriff von Handlungsfähigkeit nicht mit dem juristischen verfließt.

Sollten Psychologen sich im rechtsfreien Raum fühlen, müßten sie zumindest sehen, daß dieser Raum Wände hat und daß diese Wände juristisch konstruiert sind. Geht man nur einen Schritt weiter, wird man darauf aufmerksam, daß auch der Raum der Psychologie keine völlig schwarze, abgedunkelte Kammer ist; sondern wie die Camera obscura ihre Einlaß-Stellen mit dem Effekt einer bestimmten Kodierung des Eingelassenen hat. Die Um-Verhältnisse projizieren ihre Effekte in diesen Raum – mit der nötigen Verkehrung und Imaginarität, versteht sich. Was für die Psychologie, gilt auch für das Psychische, Um das zu verstehen, muß man sich die Art und Weise ansehen, in der das Individuum in die Ordnung eingelassen ist. Auch das Individuum ist institutionell vielfach „eingeräumt“. Es ist „erwartet“ von Positionen. Die beruflich-erwerbsmäßige ist nur eine aus einer Pluralität von Positionierungen ökonomischer, politisch-juristischer, religiöser etc. Art. Das Individuum ist immer selbsttätig in diesen Formen, seines Un-/Glückes Schmied – solange es kein „Sozialfall“ ist, Selbsttätigkeit und plurale institutionelle Konstituiertheit von oben verdichten sich im -Subjekt.

Die ideologischen Mächte sind bestrebt, das Individuum durchzuformen. Ihre spezifischen Kompetenzen – für die Rechtmäßigkeit, das Seelenheil, den Geschmack, den Körper, etc. – reflektieren sich als innere Gliederung des Individuums. Daß diese Gliederung und ihre Bestimmungen von innen nach außen gelebt werden und daß ihr Innerstes, wo sie alle zusammenlaufen, aber imaginär entquellen, das Subjekt ist, besitzt die gesellschaftliche Gültigkeit einer objektiven Gedankenform, Wie wir von Marx gelernt haben, daß der ideologische Grundfehler der bürgerlichen Wirtschaftstheorie darin besteht, daß sie die objektiven Gedankenformen des kapitalistischen Alltags ohne weitere Kritik aufgreift und zu ihren Begriffen macht, so werden wir verste-||74|hen, daß Entsprechendes für die Subjekt-Kategorie gilt. Bei Freud, der die innere Topographie aufgenommen hat, finden sich allenfalls metaphorische Bezüge zu den Mächten, die sich Stützpunkte im Individuum einrichten. So etwa, wenn er die „religiöse Neurose“ mit einem „Staat im Staat“ vergleicht.

Das Stabilitätsgeheimnis der Subjektkategorie ist ihre Überdeterminierung, die Tatsache, daß durch diesen Knotenpunkt so viele unterschiedliche Linien laufen. Sloterdijk erklärt: „… was in der Neuzeit Subjekt heißt, ist in Wahrheit jenes Selbsterhaltungs-Ich“ (650). Das ist eine reduktionistische Verabsolutierung einer von vielen Schalen des Subjekts. (4) Und wie die Zwiebel zwar sieben Häute, aber keinen Kern besitzt, so existiert das Subjekt nur als eine Folge von Schalen. Das Innerste ist – – nur ein spekulativer Reflex dieser Schalen, ihr metaphysischer Überbau-nach-innen, ansonsten leer.

Um nicht zurückzufallen in die alte Subjektphilosophie muß die Subjektwissenschaft die Kategorie Subjekt einer entsprechend radikalen Kritik unterziehen, wie Marx dies mit den Kategorien der politischen Okonomie gemacht hat. In der Sache entspricht dem: SUBJEKT darf nicht im metaphysischen Singular bleiben. „Das Subjekt“ gibt es nicht. Zu analysieren sind Subjekte, im Plural. Nicht einmal das einzelne Individuum, jeder von uns für sich selbst, erfährt sich als „DAS SUBJEKT“. Schon gar nicht darf, wie Marx an Hegel kritisierte, der Staat „versubjektivirt“ werden, während man „die wirklichen Subjekte“, wie Marx sagt, zu „anderes bedeutenden … Momenten“ macht. (MEGA 1.2 8; MEW 3, 206)

Vor allem aber müssen die Subjekte als sozial konstituierte begriffen bzw. untersucht werden. Ihre Konstitution ist ein elementarer Erkenntnisgegenstand einer im historisch-materialistischen Sinn Kritischen Psychologie und zuvor ihrer sozialtheoretischen und historischen Fundierung. Würden sie hingegen nicht in ihrer Konstitution analysiert, sondern als selber konstituierende gesetzt, fiele die Psychologie wieder in die alte, kritizistische Position des Kantianismus zurück.

Würde sie aber statt dessen die Wende zu Hegel wiederholen, Subjekt und Objekt aus ihrer Entgegengesetztheit herausholen und in eine einzige Bewegung werfen, in der das Objektive als Objektivation des Subjekts erscheint, fiele sie aus dem ideologischen Regen in die ideologische Traufe. ||75|

Vorgeschlagen sei, die Rede von „Subjektivität“ oder vom „Subjektiven“ sorgsam zu unterscheiden von der Rede vom „Subjekt“.

Die Kategorie „Subjektivität“ artikuliert ein ganzes Feld von Bedeutungen. ohne notwendig ein einheitliches, immer schon gegebenes Sein zu unterstellen, dessen bloße Erscheinungsformen sie mithin wären. Der Begriff faßt dann die Formen zusammen. in denen die wirklichen, vergänglichen Individuen sich selbst betätigen und erfahren bzw. selbst fremde Einwirkung oder den Druck der Verhältnisse erleiden. Wer wir aber wirklich sind oder werden, wie wir unser Leben leben, was wir lernen, wie wir uns organisieren, was und wie wir arbeiten, wie wir die Widersprüche unserer Lage verarbeiten, wie wir uns äußern, verständigen, was wir verdrängen, wo wir uns anpassen, wo wir Widerstand leisten usw. usf. -kurz, welche Handlungsfähigkeiten wir entwickeln, individuelle, kollektive, private oder gemeinschaftliche, mit welchen Restriktionen, welchem Verhältnis kurzfristiger und langfristiger Handlungschancen usw., dies alles stellt einen vielgestaltigen Prozeß dar, ein widersprüchliches Feld von unterschiedlich realisierten Handlungsmöglichkeiten, mit Konflikten und Verdrängungen, Freiräumen und Zwängen und vielen offenen, in absehbarer Zeit quälend unlösbaren Fragen.

Die Kritische Psychologie im neuen, historisch-materialistischen Sinn, muß diese Prozesse und Verhältnisse mit ihren Formen fassen können. Sie hat kein fertiges Subjekt und keine allgemeine Struktur vorzuweisen, zu denen sie die Individuen nur hinzuführen hätte, damit sie an ihnen gesunden.

Sie ist darin zu messen, wie sie die gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit der Individuen selbst fördern kann. Der unkritische Gebrauch der Subjektkategorie würde an dieser entscheidenden Stelle die Unterschiede, auf die es im individuellen Leben wie in der politischen Praxis vor allem ankommt, verwischen.

Die Subjektkategorie ist hingegen unentbehrlich für eine kritische Analyse der ideologische Mächte. „Das Subjekt“ – das ist in der Realität unserer Gesellschaft eine vielfach determinierte objektive Gedankenform, weil Praxisform, genauer: Form institutionalisierter ideologischer Praxen, allen voran und in allen andern unvermutet immer wieder durchschlagend die juristische Ideologie. Ist sie Ideologie, so ist sie nichtsdestoweniger real.

Viele der Formen und Gestalten, mit denen wir es zu tun haben, sind juristisch überformt. Auch ein Konzept ||76| wie Handlungsfähigkeit ist, wie wir gesehen haben, schon von der Justiz besetzt. Man muß sich vorsehen. „Volle gesellschaftliche Handlungsfähigkeit“ z.B., ein Konzept, das durch einige Texte der kritischen Psychologie spukt, ergibt in ihr, wo sie sich nicht selbst entfremdet, keinen Sinn. Die Aneignung und Weiterentwicklung des Sozialerbes, zumal unter antagonistischen Verhältnissen, ist ein unabschließbarer Prozeß, zudem einer, der, wie Sève gezeigt hat, desto mehr Mannigfaltigkeit der individuellen Unterschiede ermöglicht, je höher das gesellschaftliche Entwicklungsniveau ist. Kein Individuum kann je das Ganze sich zueigen machen. Mehr als alles andere wäre dieses personifizierte Ganze, mit Marx zu reden, „eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte“ (MEW 3, 27).Wobei freilich nicht unterschätzt werden soll die Macht imaginärer Aktionen imaginärer Subjekte. So kritisierte schon Marx die Artikulationsweise der staatlichen Ideologie bei Hegel: „Die Idee wird versubjektivirt und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginaire Thätigkeit gefasst. … Sie sind die eigentlich thätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt.“ (MEGA, 1.2, 8; MEW 3, 206). Diese Umkehrung, sei sie auch imaginär, ist nichtsdestoweniger real. Die Kritische Psychologie beginnt, wo sie die Effekte dieser ideologischen Verhältnisse kritisiert und praktische Anstrengungen orientiert, die Vergesellschaftung von oben zurückzudrängen zugunsten der unterschiedlichen politischen, kulturellen und sonstigen sozialen Formen der Selbstvergesellschaftung von unten.

Entscheidend ist ein analytisches Instrumentarium, das erlaubt, die unterschiedlichen Formen, Bedingungen und Probleme individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit, sozialer, kultureller, auch gedanklich-theoretischer und politischer Handlungsfähigkeit zu begreifen, auseinanderzuhalten, ihre unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten und Problematiken zu begreifen und überall die Effekte der herrschenden Ideologie aufzudecken und zurückzudrängen. Dazu muß an der hierarchischen Verteilung der Kompetenzen gerüttelt werden. Es gilt anzugehen gegen jede strukturelle Passivierung der Individuen, aus denen schließlich die berühmten Massen, auf deren Kräfte es in der Geschichte ankommt, sich zusammensetzen. Die Klassenherrschaft und die herrschende Ideologie hängen darüber zusammen, daß und wie sie die Kompetenzen in der gesellschaftlichen Handlungsstruktur aufteilen. Jede Konzentration spezifischer Kompetenzen erzeugt um sich herum Räume der Kompetenz-||77|verdünnung oder des Kompetenzentzugs. Diese Umgebung der Kompetenz durch Inkompetenz nimmt eine andere Bedeutung an je nach Bereich – ob Privatunternehmen oder Justiz oder Kirche oder Politik oder Psychiatrie usw. – und je nach Klassenlage und Status – ob Lohnarbeiter oder Selbständiger usw., ob Laie oder Priester Jurist, Arzt, Politiker usw. – Je nach Stellung und Mobilität im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nimmt die Kompetenz/Inkompetenz-Struktur eine andere Bedeutung an für die jeweiligen Individuen. Nie aber ist das Verhältnis nur eine Einbahnstraße der Macht, auch nicht für die Mächtigsten. Zwar entzieht die Anhäufung und institutionelle Sicherung von Kompetenz dieselbe allen außerhalb der Grenzen der jeweiligen Institution gelegnen Gebieten. Aber keine Institution ist allein auf der Welt, und aus den andern Institutionen wird mit gleicher Münze gezahlt. Vom faschistischen Staat, insbesondere von seinem „Führer“, ist gesagt worden, er habe die „Kompetenz-Kompetenz“ beansprucht – und das ist gewiß nicht von der Hand zu weisen. Aber selbst in diesem Extremfall blieb der Anspruch auf Kompetenz-Kompetenz (d.h. auf die grenzenlose Zuständigkeit, über Kompetenzen zu verfügen, ohne selber durch irgendeine Kompetenzgrenze eingeschränkt zu sein) eine Imagination der Allmacht. Ökonomisch blieben die Kapitalkompetenzen weithin unangetastet, wurden sogar teilweise entgrenzt. Auf den meisten ideologischen Gebieten resultierte die Macht der Nazis aus einer beachtlichen hegemonialen Fähigkeit, rechtspopulistische Kompromisse auszubilden. Und auf kirchlichem Gebiet erlitt der deutsche Faschismus mehrere lehrreiche partielle Niederlagen beim Versuch, die ideologischen Kompetenzen anzutasten (vgl. die Untersuchung von Rehmann).

Jede spezifische ideologische Kompetenz ist im doppelten Sinn von Inkompetenzen umgrenzt. Die Priester jeder dieser symbolischen Herrschaftsordnungen machen alle andern zu Laien. Aber da sind immer auch andere Ordnungen, die ihnen: auf ihrer Ebene nichts schuldig bleiben. So ist selbst jede Kompetenzanhäufung von vielfachem Kompetenzentzug umgrenzt. Wieviel mehr gilt dies auf den unteren Rängen der Gesellschaft. Hier erfährt man sich von allen höheren Mächten zur Ordnung gerufen. Das Sub- in „Subjekt“ erhält seine Bedeutung wie das Unten in „Unterdrückung“ und „Unterwerfung“. Beim Militär, sagte Hegel, „kann der Soldat geprügelt werden, er ist also eine Kanaille. So gilt der gemeine Soldat dem Offizier für das Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr, der Uniform ||78| und Portepee hat, sich abgeben muß, und das ist, um sich dem Teufel zu ergeben.“ In Haseks Schwejk und zuvor in Büchners Woyzeck werden die Unterworfenen, dieses letzte Subjekt, gestaltet. Büchner verfährt nach dem Lehrbuch der Psychiatrie. „Das hypnotisierte Subjekt“, heißt es bei Ribot, Maladies de la personnalite, „macht man nacheinander glauben, es sei eine Bäurin, eine Schauspielerin, ein General, ein Erzbischof …“ (131; z.n. Lalande, Sujet). Durch Gewalt und Imagination produziert sich die Ordnung. Die Individuen erscheinen als die der Ordnung zugrundeliegende Plastik, Zugerichtete und, wenn sie keinen Widerstand leisten, Zugrundegerichtete. Der plebejische Blick, wie ihn Hasek und Brecht literarisch gestaltet haben, wie er aber vielgestaltig in jedem Volk, in jeder Generation immer wieder aufs Neue sich ausbildet, bringt das Unmögliche zustande, von unten auf die Oberen herabzublicken. Freilich ist es so einfach nicht, und Oben/Unten ist nur ein vereinfachender Nenner, auf den man alle Kompetenz/Inkompetenz-Verhältnisse gebracht hat. Das ist eine Formel des Widerstands, der Ob-jektion gegen das Subjekt der Herrschaft, keine zureichende Formel der wirksamen Zurückdrängung oder gar des Sturzes von Herrschaft.

Betrachten wir noch einmal – auf unserm zugestandenermaßen abstrakten Niveau – das Problem: Die Kompetenz in der umfassenden Inkompetenz – das ist die allgemeinste ideologische Individualitätsform. Sie erhält in den bürgerlichen Gesellschaften ihre – je nach Entwicklungsstand, kulturellen Formen, demokratischen versus obrigkeitsstaatlichen Traditionen, Kräfteverhältnissen im Klassenkampf und politischer Regierungsform etc. abgewandelte – Spezifik. Diese allgemeinste ideologische Individualitätsform ist indes, die revolutionären Hoffnungen von 1917 enttäuschend, nicht auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Den schärfsten, schmerzlichsten, dabei poetischsten Ausdruck haben nicht grundlos Dichter aus sozialistischen Ländern der Problematik gegeben. Ich erwähne nur Tschingis Aitmatow. Sein 1982 in der DDR veröffentlichter Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ sollte ihm eine Professur honoris causae in Kritischer Psychologie und Philosophie zugleich einbringen. Er führt dort die mythische Gestalt des Mankurt ein, des Individuums, das in eine staatliche Zwangshaut gesteckt ist, die sich unwiderstehlich zuzieht, ihm jegliche Erinnerung auspreßt und jede Fähigkeit zum Widerstand erdrückt und es wahrhaft zum bloßen Staatssubjekt komprimiert. Und eine zweite Erfindung aus diesem Buch verdient, weiterberichtet zu werden. Wo es zum Konflikt kommt zwischen ||79| hierarchischer Struktur und der Kultur der einfachen Menschen, da redet der Vertreter der Staatsmacht den Arbeiter Edige folgendermaßen an: „Ich erkläre Ihnen noch einmal, Genosse Unbefugter, hier hat keiner Zutritt.“ (368) Die Botschaft Aitmatows ist die: die Unbefugtheit der großen Mehrzahl für die Fragen der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit, unserer Vergesellschaftung, wenn man so will, wird zu einem Unfug, der die Menschheit an den Rand ihres Untergangs geführt hat. Die „Genossen Unbefugten“ müssen sich Zutritt verschaffen zu den Prozessen der Vergesellschaftung, der Produktion wie der Geschlechterverhältnisse, des Mensch-Natur-Verhältnisses wie der Hochrüstungspolitik beider Blöcke.

Die Kritische Psychologie wird ihre Rolle spielen in den Anstrengungen zur Wiedereroberung der „Kompetenzen“. Freilich wird sie alle List und Umsicht brauchen, um nicht in die Falle der Psy-Kompetenz zu gehen, die jenen Psy-Markt unterhält, dessen Gefüge und Geschiebe Francoise und Robert Castel so erhellend analysiert haben. Nirgendwo macht die Subjektivität mehr von sich reden, als wo sie zur restringierten Psycho-Betroffenheit geworden ist, zum für sich selbst unzuständig gemachten Innern. Die Logik dieses Kompetenzentzugs ist. verflixt eingängig. Sie ordnet Handlungen und Situationen so an, daß sie sich von innen nach außen erklären. Damit bewegen sie sich auf der Spur des allgemeinsten ideologischen Subjekteffekts, der eben darin besteht, daß das Individuum für sich sein „Schicksal“ nach innen nimmt und die Verhältnisse von innen nach außen lebt und verantwortet. Natürlich wird so jedes Einzelleben zu einer imaginären Aktion eines imaginären Subjekts, und die Unkosten und der Druck auf die solcherart überdeterminierte „Psyche“ sind außerordentlich. Diese imaginäre Überzuständigkeit des Innern schlägt notwendig um in Unzuständigkeit fürs Innerste. Hier springen die Anbieter auf den Psy-Märkten ein. Die Kritische Psychologie muß die Kritik dieser Art sekundärer Ausbeutung der Subjekt-Effekte zu einer ihrer Aufgaben machen, nicht vor allem in der Theorie, sondern in ihrer Praxis der Förderung der Kompetenzaneignung und gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit der „Genossen Unbefugten“. ||80|

Anmerkungen

* (Vieles von dem, was im folgenden nur gestreift werden kann, ist ausführlich entwickelt und belegt in der „Camera obscura des Bewußtseins“ (Haug 1984).)

  1. Um zu verstehen, daß „Subjektivität“ nicht einfach eine semantische Gegebenheit, sondern ein sich wandelnder und umkämpfter diskursiver Prozeß ist, muß man nur Karen Ruoffs „Rückblick auf die Wende zur ‚Neuen Subjektivität'“ (1983) lesen.
  2. Selbst „Objektivität“ als beschwörender Ausdruck subjektunabhängiger Verläßlichkeit schillert ins Gegenteil hinüber. Das „Objektiv“ ist 1) das Einfallstor des Lichts in die Camera obscura und die optische Determinante des Lichts; 2) das Ziel, in der Militärsprache der „point vers lequel on dirige son attaque“ (Littre). Kurz, das Objektiv konstituiert das Objektive.
  3. Mithilfe eines Stalinzitats verdächtigt Bloch damals noch die Hegelkritiker als Anarchisten. Indem die Anarchisten gegen den konservativen Hegel wettern, „wollen (sie) die dialektische Methode widerlegen“ (Stalin), zit. b. Bloch 1952, 49). Im Kontext wendet sich Bloch gegen die „Unterschätzer des klassischen deutschen Kulturerbes“ (ebd.).
  4. Andrerseits reduziert sich für Sloterdijk das Subjektive auf eine Funktion der auf Informationsverarbeitung beruhenden Steuerungsautomatik. Die computerisierten, mit flexiblen Orientierungssystemen ausgestatteten Flugkörper verhalten sich in seiner Sicht „zum gegnerischen Ziel ’subjektiv'“ (650).

Literatur

Aitmatow, T. (1982): Der Tag zieht den Jahrhundertweg. Berlin/DDR.

Bloch, E. (1952): Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin/DDR und Weimar.

Castel, F.; R. Castel; A. Lovell (1982): Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Frankfurt/M.

Colin; Capitant: Cours elementaires de droit francais. 2e edition.

Creifelds, C., u.a.: Rechtswörterbuch. München. 3. Aufl. 1973.

Haug, F. (1983): Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch, in: Argument 141, 653-73. ||81|

Haug, W. F. (1983): Hält das ideologische Subjekt Einzug in die Kritische Psychologie? in: Forum Kritische Psychologie 11 (=AS 93: Argument-Sonderband), 24-55.

– (1984): Die Camera obscura des Bewußtseins. Zur Kritik der Subjekt-Objekt-Artikulation im Marxismus. In: Projekt Ideologie-Theorie 1984, 9-95.

Hobbes, Th.: Leviathan (1651). Zit.n.: W. Molesworth (Ed.), The English Works of Thomas Hobbes …, London 1839, Vol. VIII.

Lalande, A. (Hg.) (1968): Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Paris.

Lektorski, W.A. (1968): Das Subjekt-Objekt-Problem in der klassischen und modernen bürgerlichen Philosophie. Berlin/DDR.

Oelßner, F. (1959): Die Rolle der Staatsmacht beim Aufbau des Sozialismus, in: Probleme der politischen Ökonomie. Jahrbuch des Instituts für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 2, Berlin/DDR.

Projekt Ideologie-Theorie (1984): Die Camera obscura der Ideologie. Philosophie/Ökonomie/ Wissenschaft. Drei Bereichsstudien von Stuart Hall, Wolfgang Fritz Haug und Veikko Pietilä (= AS 70: Argument-Sonderband).WestBerlin.

Rehmann, J.C.: Staat und Kirchen im Dritten Reich. Ursachen und Formen ihrer Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, in: Ideologische Mächte im deutschen Faschismus, Argument-Sonderband AS 80 (in Druck).

Ruoff, K. (1983): Rückblick auf die Wende zur Neuen Subjektivität, in: Argument 142, 802-820.

Sloterdijk, P. (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/M.

Steil, A. (1984): Die imaginäre Revolte. Untersuchungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger. Marburg.

Wagner, H. (1976): Recht als Widerspiegelung und Handlungsinstrument. Beitrag zu einer materialistischen Rechtstheorie. Köln.

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