Zur Funktion phänomenologischer Analyse in der Psychologie, speziell: in der Kritischen Psychologie

Kongreß-AG-Bericht mit Beiträgen von R. Seidel, N. Groeben, C.F. Graumann und K. Holzkamp

Dokumentation in: Karl-Heinz Braun/Klaus Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie Marburg 1984, Frankfurt/M. 1985, Campus, S. 142-167. Download (PDF, 453 KB): ag3kongress1985

[Editorischer Hinweis: Die Angabe ||143| etc. verweist auf die Seitenumbrüche und -zahlen in der Originalquelle. Es wird die jeweils ab der Markierung neue Seite angezeigt]


Vgl. dazu auch die weiteren Kongreßbeiträge:

sowie:


Koordination: Klaus Holzkamp

Teilnehmer: Carl Friedrich Graumann, Norbert Groeben, Rainer Seidel

Vorbemerkung

Die Aufgabe, die Tonbandaufzeichnungen über die AGs so zu kürzen und zu bearbeiten, daß daraus nach Länge und Bedeutung ein für die Kongreßmaterialien brauchbarer Text resultiert, wurde mir durch den Verlauf der AG sehr erleichtert. Die Diskussion, anfangs um unterschiedliche Themenbereiche kreisend, zentrierte sich nämlich immer mehr auf das Problem, wie das Verhältnis zwischen phänomenologischer Analyse und der marxistisch begründeten Kategorialanalyse der Kritischen Psychologie zu bestimmen sei, und gewann erst mit der Ausrichtung auf dieses Thema an Prägnanz und Aussagekraft. Da nun Auseinandersetzungen zwischen dezidierten Vertretern des phänomenologischen Ansatzes und eines marxistischen Ansatzes wie dem der Kritischen Psychologie (jedenfalls in unserem Sprachraum) nicht eben häufig sind und m.E. die weitgehende Ungeklärtheit des Verhältnisses dieser grundsätzlichen Herangehensweisen eine angemessene Problementwicklung innerhalb beider Ansätze gravierend behindert, hat – wie mir scheint – die hier stattgehabte Diskussion zudem so etwas wie eine psychologiehistorische Dimension.

So habe ich mich kurzerhand entschlossen, das vorliegende Tonbandprotokoll derart zu kürzen und zu redigieren, daß nur die auf dieses Thema bezogenen Teile der Ausführungen bzw. der Diskussion und die dazu unbedingt nötigen Rahmeninformationen berücksichtigt, alle anderen Einlassungen und Stellungnahmen aber weggelassen sind. Das folgende ist also alles andere als eine getreue Dokumentation des ||143| gesamten Diskussionsverlaufs; allerdings ist bei der Wiedergabe der für die Thematik des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Kritischer Psychologie relevanten Diskussionspartien (in den Grenzen des aufgrund der relativ schlechten Aufnahmequalität Möglichen) weitgehende Authentizität angestrebt: Gerade durch die Wahrung des „Live-Charakters“ der Formulierungen und der Wechselreden kommen nämlich, so meine ich, die Gesichtspunkte und Widersprüche der Diskussion besser zum Ausdruck, als dies in einer stilistisch stärker geglätteten Fassung der Fall wäre.

In der ersten Runde der AG, in welcher den auf dem Podium sitzenden Teilnehmern Gelegenheit gegeben wurde, Statements abzugeben, bezog sich nur Groeben auf ein vorbereitetes Manuskript, Seidel machte seine Ausführungen aufgrund von Notizen, Graumann und Holzkamp dagegen ließen ihre Manuskripte beiseite und formulierten ihre Statements eigentlich schon als freie Diskussionsbeiträge. [vgl. hierzu das Grundsatzreferat von Graumann, das in diesem Band, S. 38-59 abgedruckt ist: auf dieses Referat wurde in der Diskussion mehrfach Bezug genommen. Außerdem verweise ich auf meinen ausführlichen Artikel: „Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft“ (Forum Kritische Psychologie 14, 1984), in welchem ich Gesichtspunkte und Anregungen aus der hier wiedergegebenen Diskussion aufgegriffen und ausgearbeitet habe.] Ich habe hier grundsätzlich nicht auf schriftlich Vorliegendes zurückgegriffen, sondern alle Ausführungen aufgrund der Tonbandaufzeichnung dokumentiert, sodaß nur wiedergegeben ist, was alle AG-Teilnehmer (auf dem Podium und im Auditorium) gehört haben, worauf sie sich also in der Diskussion beziehen konnten. Alle drei Beiträge sind dabei nach den genannten Kriterien (mehr oder weniger) rigoros gekürzt worden, wobei große Abschnitte bzw. Teile weggelassen wurden, innerhalb der wiedergegebenen Passagen aber die ursprüngliche Rede weitgehend erhalten ist. Auslassungen wurden durch … gekennzeichnet, von mir eingefügte Anschlüsse oder (etwa durch schlechte Wiedergabequalität nötige) sinngemäße Zusammenfassungen in Klammern gesetzt. Die weggelassenen Teile wurden nicht eigens markiert.

Bei der Wiedergabe der anschließenden Diskussion wurde im Prinzip genau so verfahren. Die Beiträge aus dem Publikum konnten hier allerdings kaum wörtlich wiedergegeben ||144| werden, weil sie auf dem Band nur schlecht zu verstehen waren. In den wörtlich dokumentierten Passagen wurde(n) nur redebedingte Wiederholungen und Neuansätze gestrichen, sonst aber der umgangssprachliche Ton bewahrt. Zwischenrufe und Publikumsreaktionen wurden berücksichtigt und gekennzeichnet, weggelassene Teile auch hier nicht markiert. Ich weiß natürlich, daß die Art und Welse, In der Ich hier mit den Beiträgen der Kollegen umgegangen bin, nicht unproblematisch ist, gebe aber zu bedenken, daß ich (um das vorgegebene Limit einzuhalten) fast die Hälfte der Aufzeichnung weglassen mußte und hoffe im übrigen, die berücksichtigten Diskussionsaspekte sind so ertragsreich und spannend, daß dadurch mein Vorgehen in gewissem Umfang gerechtfertigt ist.

Klaus Holzkamp

1. Statements

Rainer Seidel: (Zum Verhältnis von kritisch-psychologischen Kategorien und der phänomenalen Welt): Wenn die Kritische Psychologie und die Phänomenologie in wesentlichen Aussagen, in einigen zumindest, zu vergleichbaren Erkenntnissen kommen, so geschieht das doch auf methodisch völlig unterschiedliche Weise. Während die Phänomenologie davon ausgeht, daß das Bewußtsein rein aus sich selbst sich offenbart, schafft die Kritische Psychologie, obwohl das Bewußtsein immer im Auge behaltend, zunächst einmal eine Distanz zum Bewußtsein – in gewissem Sinne klammert sie es methodisch zunächst mal aus. Denn der Gang der Ableitung ist ja der: Wir gehen aus von der empirischen, historisch-empirisch faßbaren Lebenspraxis und fragen‘ dann, diese Lebenspraxis als gegeben annehmend: Welche Strukturen müssen notwendig angenommen werden, damit diese Praxis überhaupt möglich ist? D.h. also, die psychischen Grundbestimmungen, die Kategorien, werden nicht aus dem Bewußtsein selbst bezogen, sondern sie werden erschlossen von einer historisch-empirischen Position aus. Durch diese Loslösung oder zumindest vorübergehende Loslösung von der Phänomenalität können, das ist der Sinn dieser Sache, glaube ich, unter anderem die vorfindlichen Phänomene relativiert werden. Wir können sie z. B. als fal-||145|schen Schein, als Mystifikation bezeichnen; und umgekehrt können Dinge, die sich nicht zeigen, die also zunächst nicht Phänomene werden, wie etwa produktive Bedürfnisse, als den noch existierend postuliert werden; wenn sie z. B nur verschüttet sind unter bestimmten historischen Bedingungen.

Nun scheint mir hierbei das Verhältnis von Kategorien und Phänomenen methodisch noch ganz ungeklärt zu sein. Zunächst einmal werden wir uns vom Phänomenologen sicher den kritischen Einwand gefallen lassen müssen, daß die Phänomene ja in die historische Rekonstruktion selbstverständlich mit eingehen, daß sie auf Schritt und Tritt mit dabei sind, bloß in einer unreflektierten naiven Weise. Man kann in der historischen Rekonstruktion natürlich nur herausholen, was man irgendwo gesucht hat. Man kann z.B. einen Begriff von Emotion nicht rekonstruieren, wenn man nicht vorweg schon eine Idee hat, was Emotionen wären und was man da rekonstruieren will.

Nun könnte man dabei sagen, diese Naivität, mit der wir zunächst mit der Phänomenalität umgehen, wird eben gerade durch die historische Rekonstruktion wieder aufgehoben. Dann bleibt allerdings die Frage, was passiert mit der Phänomenwelt nun, nachdem die Kategorien da sind? Werden sie revidiert oder was geschieht damit? Ich wollte mich hier auf die Frage beschränken, ob die unmittelbare Erfahrung, also die uns zugängliche Phänomenalität, irgendein Wort mitzureden hat, wenn es um die Geltungsbegründung der Theorie geht.

Ich meine, wenn der Anspruch aufrecht erhalten werden soll, das Bewußtsein, ich sag das jetzt bewußt in einem unspezifischen sehr weiten Sinne, nicht auszuklammern, mithin Psychologie als Subjektwissenschaft zu betreiben, dann muß meines Erachtens die Forderung aufgestellt werden, daß die Ergebnisse der Kategorienanalyse auf die Phänomenwelt rückbeziehbar sein müssen, d.h. Kategorien müßten, in welcher Form auch immer, als für die phänomenale Welt gültig ausgewiesen werden, sie müßten quasi in die Phänomenwelt zurückprojiziert werden. Denn sonst wäre diese Distanz zum Bewußtsein, die wir zunächst eingegangen sind, mehr als eine vorübergehende und würde letztlich eine Eingeschlossenheit des Bewußtseins, eine Unzugänglichkeit des Bewußtseins bedeuten. Ich weise darauf hin, daß in allgemeiner Form, nicht bezogen auf solche Kategorien, diese Forderung z.B. von Alfred Schütz aufgestellt worden ist. ||146|

Nun ist es bekanntlich mit dieser Rückbeziehung etwas schwierig bestellt in der Kritischen Psychologie. Ich habe z.B. immer Schwierigkeiten gehabt, den Begriff des „produktiven Bedürfnisses“ in dieser Weise zu verstehen oder den Begriff der Emotion als Wertung des Gesamtzustandes, es scheint mir eine relativ kognitive Version von Emotion zu sein usw.,.. dies sind Probleme, die meines Erachtens daraus erwachsen, daß zunächst mal Kategorien abgeleitet werden, und sich dann eine Kluft auftut zur Phänomenwelt, zu dem, was man selbst an sich zu erfahren glaubt.

Nun sagt Holzkamp in seinem neuen Buch dazu: Kategoriale Bestimmungen dürften nicht „glatt auf die Erscheinungsebene herunterkonkretisiert werden“. Dem würde ich auch zustimmen, aber er geht noch weiter und sagt: überhaupt dürften Kategorien und Beschreibungsbegriffe nicht kontaminiert werden, und er führt meines Erachtens eine relativ scharfe Trennung zwischen den Kategorien einerseits und der Phänomenalität andererseits ein. Und diese Auffassung halte ich allerdings für ziemlich problematisch, denn wenn die Kategorien die Phänomene letztlich doch nicht erreichen können, wenn da irgendeine Kluft bestehen muß, dann haben hier die Kategorien denselben Zustand wie die Konstrukte des modernen Behaviorismus, und der Unterschied wäre dann nur eine kosmetische Angelegenheit, ob man nun wie im Behaviorismus das Bewußtsein bloß als hypothetisch betrachtet oder wie wir als existierend. Es bliebe allemal der Standpunkt von außen, der das Bewußtsein nicht unmittelbar fassen kann.

Norbert Groeben: (Nachdem er die allgemeine intentionale Bezogenheit des Menschen auf die Welt als „Intentionalität im weiteren Sinne“ bezeichnet hat): Eine ganz eklatante Grenze des variablenpsychologischen Vorgehens ist dann erreicht, wenn das auftritt, was ich freisteigende Intentionalität nennen möchte, d.h. also (Intentionen), die aktiv aus dem Menschen als Intentionen im engeren Sinne (also im Sinne der analytischen Handlungstheorie als „beabsichtigt“ oder planvoll) hervorgehen. Gegenüber solchen planvollen Handlungen etc., der freisteigenden Intentionalität also, ist das variablenpsychologische Design völlig nutzlos: Dort muß ich nämlich die unabhängige Variable manipulieren. Freisteigende Intentionalität bedeutet aber gerade, daß es sich hier um Intentionalität handeln muß, die nicht mehr manipuliert werden kann. Somit läßt sich dies auch nicht mehr experimentell erforschen. Hier würde ich also dem Dualismus der Frankfurter Schule das Wort reden: Mit Steinen kann ich herummanipulieren, dies ist keine Verfehlung des ||147| Gegenstandsbereiches, beim Menschen kann ich das nicht, soweit ich freisteigende Intentionalität als konstitutiv für den Menschen als Gegenstand ansehe. Ich halte dies für einen außerordentlich zentralen strukturellen Unterschied und sehe hier deswegen eine grundsätzliche Beschränkung der experimentellen Variablenpsychologie.

Daraus ergeben sich nun wesentliche Konsequenzen für die wissenschaftliche Forschungskonzeption: Man muß unterscheiden zwischen Wissenschaft der ersten Person und Wissenschaft der dritten Person. Während die Wissenschaft der dritten Person in der Außensicht auf den Menschen blickt, ihn als objektiven Tatbestand betrachtet, will ich die Perspektive der Wissenschaft der ersten Person allgemein verbinden mit dem, was man Innensicht nennen kann, d.h. mit dem, was man selbst als seine Planungen, Absichten etc. angeben kann, einschließlich der Gründe, die man dafür hat.

Meine These ist, daß – da die Psychologie versucht hat, sich an den Naturwissenschaften auszurichten (unsinniger Weise, wie gesagt, da sie damit ihren Gegenstand verfehlt) – hier eine Dichotomisierung zustande gekommen ist zwischen Sinnkonstituierung (Innensicht) und Geltungsprüfung (Außensicht). Die Mainstream-Psychologie hat sich, seit der Mitte dieses Jahrhunderts, auf die Geltungsprüfung festgelegt und den anderen Aspekt als unwissenschaftlich mehr oder weniger ausgeklammert. Die Überwindung der Dichotomie sehe ich nun darin, daß m.E. ein optimales Menschenbild für die Psychologie darin bestehen müßte, festzustellen, ob es nicht Gründe innerhalb der Innensicht gibt, die von der Außensicht als Ursachen, tatsächlich effektive Gründe zu akzeptieren sind. Die Rationalisierung in der Psychoanalyse ist ein klassisches Beispiel für das Auseinanderfallen der angegebenen Gründe und der tatsächlichen Ursachen. Ich nehme mal ein konkretes Beispiel aus der Hochschuldidaktik: Ich habe jemanden im Seminar, der ganz außerordentlich mitarbeitet. Die Frage ist: Warum tut er das? Er selbst gibt als Grund dafür an, das Thema der Veranstaltung interessiert ihn, deswegen arbeite er mit. Es könnte sich aber herausstellen, daß er eine Nachbarin hat, zu der er gewisse emotionale Bezüge entwickelt hat und der er. durch seine zur Schau gestellte Intellektualität imponieren will. Dies wäre dann die Ursache. (Zwischenruf Holzkamp: Ist doch auch ein Grund). Er weiß es nur nicht. (Ho1zkamp: Ist aber trotzdem ein Grund, und keine Ursache). Was ich vom Menschenbild her als optimal ansehen würde, wäre ein reflexives Subjekt, das Gründe angeben kann, die auch ||148| gleichzeitig Ursachen sind. Theorien sollten dem gemäß so beschaffen sein, daß Gesetze der ersten Person auch Gesetze der dritten Person sind, wobei im Optimalfall die Gesetze der ersten Person und die Gesetze der dritten Person zusammenfallen, d.h. die Gesetze der ersten Person als gerechtfertigt, auch in der Sicht der dritten Person ausgewiesen werden können. Eine Optimalvorstellung, die sicherlich nicht immer einzuhalten ist.

(Es folgte ein Plädoyer für eine dialogische Hermeneutik; damit verbunden war eine Kritik der ’strukturellen Verallgemeinerung‘ innerhalb der funktionalen Kategorialanalyse als monologische Hermeneutik, die für Groeben nur einen Wechsel von der Arroganz des das Bewußtsein des Erforschten weitgehend ausschließenden Behavioristen zur Arroganz des es immer schon ‚intersubjektiv‘ besser wissenden ‚Kritischen Psychologen‘ bedeutet.)

Carl Friedrich Graumann: (Phänomenalität darf nicht im Sinne des alten Phänomenalismus mit dem unmittelbar Erscheinenden gleichgesetzt werden. Mindestens seit Heidegger meint man mit Phänomenen gerade das, was nicht sich zuerst und zunächst zeigt; Phänomenanalyse ist also nur deswegen möglich und nötig, weil die phänomenale Struktur aus der Enderscheinung rekonstruktiv herausgearbeitet werden muß).

(Ich stimme mit Groeben soweit überein), daß auch der Psychologe und nicht nur der Sozialpsychologe, seine wissenschaftlichen Konstruktionen als Konstruktionen über Konstruktionen, als sekundäre, als abgeleitete Konstruktionen dessen aufzufassen hat, was sozusagen in der ersten Empirie, also der Empirie des alltäglich Handelnden, bereits an Konstruktion, an Interpretation, an Auslegung, an Intentionsbegründung vorliegt. Die Frage ist hier … nur dadurch zu einer kritischen geworden, daß (Groeben mir gegenüber auf dem Durchhalten der Dichotomie bestanden hat)Und da würde ich allerdings, nun auch mal böse, fragen, wieso eigentlich so dogmatisch?: Erklärung, das reservieren wir für Ursachenerklärung, …und das andere nennen wir, nun ja wie, Beschreibung oder Hermeneutik oder Verstehen und ziehen uns damit wieder in den geisteswissenschaftlichen Schrebergarten zurück …Ich möchte hier alle solche Dichotomisierungen in Frage stellen: nicht nur die zwischen links und rechts, sondern auch die zwischen Beschreibung und Erklärung, Bewußtsein und Verhalten o.ä. Ich interessiere mich mehr für die Übergänge und Wechselwirkungen. Dichotomisierungen sind, wie dies ja die Sozialpsychologie gezeigt hat, zunächst Tendenzen unserer Wahrnehmung, und solche (unmittelbaren) Tendenzen zur kategorialen ||149| Dichotomisierung müssen wir uns (in der Wissenschaft) bewußt machen, um sie zu überwinden. Ich will jetzt nicht nochmal über Bewußtsein reden, aber es war für mich gestern wichtig, deutlich zu machen, daß der Bewußtseinsbegriff der neueren Phänomenologie eben nicht das Sich-selbst-Wissen des Subjekts in einem gehobenen kognitiven oder intellektuellen Sinne meint. Auch die leibliche Stellungnahme des Subjekts zur Welt ist etwa im etre-au-monde, Zur-Welt-Sein, der französischen Phänomenologie mitgemeint … mit welchem die ganze Innerlichkeitsmythologie gerade überwunden werden soll. Dies nochmal zur Klärung dieses Bewußtseinsbegriffs, den ich für unglücklich halte. Ich arbeite lieber mit einem geklärten Erfahrungsbegriff als mit einem hochgradig äquivoken Bewusstseinsbegriff für das, was hier unmittelbare Erfahrung heißt. Schließlich greife ich (aus dem Gesagten) noch etwas heraus, über das wir reden sollten: In der analytischen Philosophie (am frühesten wohl in der Arbeit von Peters „The Concept of Motivation“) (1958) gibt es eine Unterscheidung zwischen dem Grund, den jemand angibt, intentional bekundet, und dem wahren Grund, den ich aus seinen Aussagen, aus der Beobachtung seines Verhaltens (erschließen kann) Aber auch dieser eigentliche Grund (bleibt immer ein Grund) und wird nicht zur Ursache. Die Ursache, eine denkbare Ursache, für eine plötzliche Steigerung der Studienleistungen könnte etwa eine Veränderung des Hormonspiegels sein …

Klaus Holzkamp: Zunächst mal zur Frage der Funktion der Phänomenologie – Rainer Seidel hat das angesprochen also der zentralen Frage, die uns hier beschäftigt. Für mich ist die Phänomenologie schon immer, schon in der ‚Sinnlichen Erkenntnis‘, eine Art von Minimalwissenschaft gewesen, in dem Sinne, daß bestimmte Strukturbestimmungen des zu untersuchenden Phänomens in der weiteren wissenschaftlichen Analyse nicht unterschritten werden dürfen Für mich stellt sich z. B. zunächst die Frage: Was will ich eigentlich unter Wahrnehmung verstehen? Wir müssen uns also erstmal darüber einigen, was Wahrnehmung ist, ehe wir in irgendeiner Form mit dieser Sache umgehen können …Gestern wurde dargestellt: Intentionalität, Situiertheit des Menschen, Reziprozität der Perspektiven, Perspektivität usw. All dies ist für mich eine Art von strukturellen Grundbestimmungen menschlicher Erfahrung, und wenn ich jetzt Psychologie mache, kann ich dahinter nicht zurück: Zwar ist das nicht alles, was ich mache, sondern ich fange jetzt mit meinen inhaltlichen Analysen erst an, aber es darf am Ende nichts rauskommen, was hinter das zurückfällt, was ||150| in diesen Bestimmungen drin ist. Wenn ich anfange mit meinen logisch-historischen Analysen und am Ende kommt irgend was raus, bei dem das Moment der Reziprozität der Perspektiven rausgefallen ist, ist meine Analyse Mist, und zwar deswegen, weil sie nicht mehr von dem spricht, von dem sie zu reden behauptet. Ich weiß nicht, ob das klar ist? Es kann jemand sagen, ich mach da nicht mit. Dann sag ich: gut, machst Du nicht mit, aber dann rede ich nicht mehr mit Dir, weil Du von etwas anderem sprichst. Wenn mir jemand sagt, eine Handlung sei für ihn nicht intentional, nicht zielgerichtet, kann Ich sagen: o.k., Du definierst die Handlung nichtintentional, redest von etwas anderem. Und das heißt also, man muß das nicht mitmachen, aber wenn man es nicht mitmacht, heißt die Konsequenz, daß man kein Gesprächspartner mehr für bestimmte Leute ist, nämlich für die, die das darunter verstehen. Und insofern ist die Differenziertheit und der Reichtum dessen, was in dieser Strukturanalyse drin ist, eigentlich ein bißchen schon eine Voraussetzung für das, was später überhaupt an weitergehenden Analysen noch rauskommen kann. Wenn ich von vornherein die Handlung herunterbringe auf eine Art von Reizbestimmtheit auf einer bestimmten physikalischen Ebene, dann kann am Ende auch nichts anderes rauskommen als diese Art dürftiger Form von Verständnis menschlicher Lebenstätigkeit. Und man wird vom Standpunkt der Erfahrung dieser Lebenstätigkeit sagen: Na schön, ihr untersucht ja irgendwas, bloß was ich jeden Tag mache und meine Probleme, die ich habe, die sind davon nicht betroffen. Schön und gut, Ihr untersucht das, aber mich interessiert es nicht, weil es sozusagen bloß ein Restbestand, ein reduzierter Bestand dessen ist, was mich eigentlich interessiert. Insofern ist also auch Phänomenologie für mich eine Strukturwissenschaft, nicht eine inhaltliche Beschreibung, nicht: wie fühle ich mich, wenn ich kalte Füße habe oder irgendsowas. Diese Art von Deskription hat mit Phänomenologie überhaupt nichts zu tun, sondern diese ist die Herausarbeitung solcher grundlegenden Strukturbestimmungen der Erfahrung, wie sie gestern von Graumann dargestellt worden sind.

Wesentlich ist allerdings, daß es dabei nicht bleiben kann. In der „Grundlegung“ habe ich z.B. versucht, dieses Moment der Möglichkeitsbeziehung, Perspektivität, was ja eine große Rolle auch in der Phänomenologie spielt … Also, ich selber finde mich in diesem Zustand vor, aber sehe mich in einer bestimmten gesellschaftlichen Beziehung oder Verfaßtheit, aus der diese Möglichkeitsbeziehung selbst wieder begreifbar wird. Ich habe versucht zu zeigen, daß, ||151| sobald das gesamtgesellschaftliche System in der historischen Entwicklung anfängt, aus sich heraus existenzfähig zu werden, also eine Art von Systemcharakter des Gesellschaftlichen entsteht, ich als Individuum davon entlastet bin, ununterbrochen Beiträge zu meiner eigenen Lebenssicherung zu leisten, um existieren zu können. Und aus dieser Art von Distanz, daß ich handeln kann, aber nicht handeln muß – ich bin mindestens vorübergehend auch in meiner Existenz gesichert, wenn ich nicht handle -, daraus entstehen Alternativen, ich kann so und kann auch anders. Von da aus wird dann also dieses Moment der Möglichkeitsbeziehung zur Realität: auf menschlichem Niveau sind Handlungen Handlungsmöglichkeiten, und von da aus kommen wir dann zum Begriff der Gründe. Damit ist also eine gesellschaftlichhistorische Explikation dieses Moments der Handlungsmöglichkeit versucht. – In der Phänomenologie gibt es also bloß den Begriff Möglichkeitsbeziehung, und ich versuche zu zeigen, daß auf der gesellschaftlichen Ebene diese Möglichkeitsbeziehung durch die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit meiner Existenz ein wesentliches Bestimmungsstück unserer materiellen gesellschaftlich-individuellen Existenz ist (Zwischenruf Graumann: Einspruch, Euer Ehren! Das ist nicht richtig, daß es das in der Phänomenologie nicht gibt, das finden Sie in der Form der sprachlichen und sozialen Bedingtheit der Möglichkeitsräume, also d.h. imgrunde der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Möglichkeitsräumen, bei Schütz).

O.k., solche Gemeinsamkeiten und vielleicht dennoch bestehenden Unterschiede müßte man genauer diskutieren. Aber was ich hier sagen wollte, ist, daß diese Strukturbestimmungen nicht unterschritten werden dürfen, aber nicht alles sind, sondern sozusagen nur ein Kriterium darstellen dafür, ob ich nicht während dieser Analyse unversehens meinen Gegenstand verliere. Bei der Psychoanalyse z.B. kann man sehr schön zeigen, daß sie in ihrer Kategorialanalyse in vielen Fällen ihren Gegenstand verliert. Es ist eigentlich gar nicht mehr von dem die Rede, was die Leute erfahren, sondern man guckt da schon immer hindurch auf das, was dahintersteht, und das wird kontaminiert mit dem, was sie erfahren. Man redet quasi immer uneigentlich: Wenn jemand was sagt, braucht man gar nicht mehr richtig hinzuhören, man weiß ja sowieso schon, was dahintersteckt. Deswegen auch die gelangweilte Attitüde des Notizen machenden Analytikers hinter der Couch (Unruhe). Sicher kann man diese Auffassung von Psychoanalyse für falsch halten, aber nehmen wir an sie wäre richtig, dann wäre sie ein Beispiel für das was ich hier meine. Und man muß sehen, ||152| daß auch und gerade in der materialistisch oder marxistisch gemeinten Forschung die Gefahr, daß man aufgrund der Analyse objektiver Verhältnisse die Phänomene unter den Hammer bringt, ungeheuer groß ist: Daß man am Ende eigentlich von meiner Erfahrung gar nicht mehr redet, man redet dann nur noch von gesellschaftlichen Strukturen und von falschem Bewußtsein als objektiver Bewußtseinsform, glaubt das Bewußtsein aus den Strukturen erschließen zu können, und was eigentlich bei mir selbst so los ist, die Art und Weise, in der ich selber mich hier in dieser Welt befinde, geht dabei reduktionistisch in die Binsen … Und auch zur Frage der Methodik dieser Strukturanalyse, die nicht aufgeht in irgendeiner anderen Methodik: Man kann nicht sagen, die funktional-historische Analyse steht in Konkurrenz mit der Phänomenologie, das kann nicht sein, sondern das, wovon ich rede und was ich analysiere, muß ja zuvor klar sein und muß bewahrt bleiben … Zu unserem Konzept der Kategorialanalyse: Wenn ich im Alltag von irgendwas rede, dann stecken da schon kategoriale Bezüge in unserem Sinn drin, von denen es abhängt. was ich eigentlich unter Realität verstehe, was ich davon mitkriege, auf welche Art und Weise ich überhaupt an die Wirklichkeit herangehe. Und diese Art von kategorialem Bezug, die ist sozusagen eine von diesen blinden Selbstverständlichkeiten, die erstmal in der wissenschaftlichen Analyse aufgeknackt werden müssen, ehe ich überhaupt wissen kann, was ich mache. Was wir versuchen in der Kritischen Psychologie, ist eine bestimmte methodische Herangehensweise an das Aufknacken dieser Selbstverständlichkeiten des Gegenstandsbezuges im Alltag und damit gleichzeitig eine Kritik an der unserer Meinung nach blinden Übernahme dieser Vorstellungen in vielen Bereichen der traditionellen Psychologie. Unsere Kritik‘ ist also die, daß in der traditionellen Psychologie die kategorialen Bestimmungen des Alltags blind verdoppelt werden. Und wir versuchen, in unserem logisch-historischen Verfahren der subjektwissenschaftlichen Kategorialanalyse mit der Herausarbeitung wissenschaftlich begründbarer psychologischer Grundkategorien gleichzeitig eine Basis für die Kritik der traditionellen Kategorien zu finden. (Ich kann die Eigenart dieses kategorialanalytischen Verfahrens und sein Verhältnis zur phänomenologischen Analyse hier nicht ausführen. Auch das Verhältnis zwischen der Kategorialanalyse und den darin gegründeten aktualempirischen Verfahren und zugeordneten Theorien muß hier prinzipiell unerörtert bleiben.) ||153|

2. Diskussion

Publikum: (Ich als Forscher habe also die logisch-historisch erarbeiteten Kategorien. Wie vermittle ich die denn nun den Betroffenen im Forschungsprozeß? Und: Was muß ich denn überhaupt noch erforschen, wenn mir dies gelungen ist, wenn die Betroffenen sich also mit Hilfe der Kategorien bewußt verhalten? Dann haben sie den gleichen Bewußtseinsstand wie ich, was gibt es da also noch zu erforschen?)

Holzkamp: Zur Beantwortung dieser Frage kann ich mich auf unser Projekt „Subjektentwicklung in der frühen Kindheit“ beziehen (vgl. FKP 14, 1984). Dort geht es ganz zentral um die Vermittlung der Kategorien an die Betroffenen als „Mitforscher“, ein Lernprozeß, der übrigens Jahre dauert (wir sind in dem Projekt bereits fünf Jahre zusammen). Also, diese Vermittlung und Diskussion der Kategorien besteht in deren jeweiliger Erprobung auf ihre praktischen Konsequenzen für das, was da in diesem Projekt läuft Es gab also keinen Kursus, wo vorweg die Kategorien trainiert wurden, sondern es wird z.B. bei einem bestimmten Konflikt zwischen Eltern und Kindern versucht, in den Projektdiskussionen diesen Konflikt zu analysieren unter gleichzeitiger Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen der alltäglichen Sichtweise und der Sichtweise, die sich ergibt, wenn man den Konflikt aufschließt oder aufschlüsselt, versucht, durchschaubar zu machen von unseren kategorialen Bestimmungen her. Die Beteiligten selber haben dann natürlich zu entscheiden, ob das für sie was bringt, ob sie damit ihre Situation besser kapieren als vorher. Es geht aber im Projekt nicht darum, daß am Ende die Leute die Kategorien kennen, sonst wäre es ja ein Seminar – noch nicht mal ein gutes Seminar, denn da müssen auch praktische Probleme drin sein, an denen diese Kategorien exemplifiziert und in ihrer Bedeutung für die Lebenstätigkeit deutlich werden, sonst kann man so ein Seminar sich auch schenken – aber es wäre dann eher ein Seminar. Also diese Kategorialbestimmungen sind die Voraussetzung dafür, bestimmte konkrete empirische Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, zu klären, ganz konkrete Fragestellungen im Hinblick auf Entwicklungsprobleme. Ein solches Problem ist, daß Eltern mit bestimmten Formen der versuchten Entwicklungsförderung der Kinder in Wirklichkeit Bedingungen schaffen, unter denen sie die Entwicklung der Kinder behindern: Es ist eines unserer Hauptprobleme in diesem Projekt, zu zeigen, daß sozusagen vordergründige Erziehung und bestimmte Figuren des Umgangs mit den Kindern daher, ||154| wenn man sie kategorial durchdringt von unserem Konzept aus, sich als tatsächliche Behinderungen des Kindes und der Eltern erweisen. Und diese Auffassung können die Betroffenen nur dann für sich realisieren, wenn mit diesen Kategorien in ihrer Erfahrung nachher auch sichtbar wird, daß sie in der Praxis diese Behinderung aufheben können. Es gibt also ganz spezifische theoretische Fragestellungen, auf konkreterer Ebene als die Kategorien, aber mit ihnen als Grundbegriffen, die wir da entwickelt haben, bestimmte Theorien des Umgangs zwischen Eltern und Kindern, in denen angenommen wird, daß die Regulationsformen der Erziehung in Wirklichkeit Entwicklungsbehinderungen darstellen, und diese Theorien werden dann im Projekt überprüft. Das heißt also: der Zweck ist die Klärung oder die Überprüfung dieser empirischen Annahmen, wobei der praktische Vollzug der Überwindung der Behinderung das zentrale Kriterium der Überprüfung ist; darum gehts, und nicht darum, daß die Leute nachher die Kategorien kennen und sich in Worten der Kategorien miteinander unterhalten können.

Publikum (Hannelore Vathke): Zum Verhältnis zwischen Phänomenologie und Kritischer Psychologie habe ich die Frage, ob bei der hermeneutischen, der phänomenologischen Analyse der Inhalt der sozialen Strukturen, der situationalen Bestimmungen mitgefaßt ist? Ob also etwa sprachliche Bedeutungen inhaltlich miterfaßt werden in ihrer jeweiligen Doppelbedeutung als Existenzsicherung und Entwicklungsbehinderung? Ob die Phänomenologie also die konkrete alltagspraktische Funktionsweise für das Subjekt miterfaßt oder ob sie dies nicht leistet, und insofern eher aufgehoben ist in einer dialektischen, funktional-historischen Vorgehensweise.

Graumann (diese Passage teilweise akustisch kaum verständlich): Die Frage ist, wie es mit dem konkreten Inhalt oder Gegenstand der Erfahrung aussieht in der phänomenologischen Analyse. Es ist richtig, daß davon ausgegangen wird, daß die Gegenstände in unterschiedlichen Medien sozusagen zur Erfahrung kommen, wobei das allgemein-verbindliche, quasi universelle Medium die Sprache ist – natürlich als einzelne Sprachen, schichtspezifisch oder wie immer aufgegliedert. Ich darf nochmal auf Schütz verweisen, der sich ja über etwas wie Realitätsabstufungen Gedanken gemacht und dabei die fundierende oder zentrale Universalität der Sprache herausgehoben hat, die zentrale Universalität der Sprache herausgehoben hat, die aber weniger bedeutsam ist für die alltägliche Praxis. Er geht immer von der alltäglichen Praxis aus, von der entscheidend die Bedeutsamkeit ||155| oder Relevanz abhängt, wobei zwar die Sprache impliziert bleibt, aber nicht mehr das Entscheidende ist. Selbstverständlich wird immer nach Bedeutungen erfahren. d.h. es wird natürlich für jedes einzelne Ding gelten. daß es zum Beispiel im Prozeß der Arbeit in einer anderen Bedeutung erfahren wird als etwa das gleiche Ding als ästhetischer Gegenstand. Das. glaube ich. stimmt ja auch mit unserer Alltagserfahrung überein. Zur Frage der Konkretheit … ein Ding bedeutet konkret das und das … gerade die Art der Konkretheit ist durch den praktischen Bedeutungszusammenhang bestimmt. Ein Ding ist konkret. das heißt konkret das Ding. mit dem ich etwa im Arbeitsprozeß als Instrument zu arbeiten habe oder mit dem ich ästhetisch oder. im Freizeitbereich. spielerisch umgehe. Dies ist das eine. Das andere ist, … ich kann den zweiten Teil Ihrer Frage nicht so gut beantworten. vielleicht weil ich ihn nicht so gut verstehe. Aber ich verstehe durchaus, was Klaus Holzkamp vorhin gesagt hat über die Ambivalenz etwa eines Erziehungsstils der sozusagen im traditionellen Bewußtsein der Eltern förderlich gemeint ist. und man kann zeigen daß er eben in anderen Hinsichten für den Betroffenen (und seine Entwicklung) hinderlich ist. Das schließt sich auch auf von dem aus. was man im Sinne von Merleau-Ponty menschliche Dialektik nennen kann. Jede Struktur, die irgendwie sich etabliert – und Struktur heißt natürlich auch beispielsweise Infrastruktur – … dies kann genauso ein konkretes Gitter sein, ein Zaun, nicht wahr, wie eine Grenze, die ich aus sozialen Gründen zu achten gelernt habe. Solche Strukturen sind immer als Bedingung der Ermöglichung von Handeln wie gleichzeitig als Behinderung von Handeln aufzufassen. Die Heraushebung dieser prinzipiellen Ambivalenz, daß das, was ermöglicht. zugleich behindert, das ist (die hier gemeinte) dialektische Argumentation. Dies würde prinzipiell anwendbar sein auch auf alle, insbesondere aber anonym gewordene Subjektivität Erziehungsstil, wie ihr ihn da untersucht, wäre eine solche anonym gewordene Subjektivität bzw. anonym gewordene Intentionalität … ich lasse etwas als selbstverständlich gelten, was unbefragt bleibt. einfach so gesellschaftlich tradiert wird. Daß das dann auch seinerseits wieder Dinge, also Gegenstände konstituiert, was weiß ich, entweder den Rohrstock oder den Bolzplatz, würde also mit zur Herausbildung auch physischer Strukturen gehören, die dann aber immer nur im jeweiligen intersubjektiv vermittelten intentionalen Zusammenhang zu verstehen sind. – Also ich würde die Frage so beantworten. daß die Gegenständlichkeit ||156| die konkrete Gegenständlichkeit, Inhaltlichkeit, immer im Sinne intentionaler Korrelate sowohl alltäglicher Praxis, also etwa der Arbeit oder des Spiels, wie etwa wissenschaftlicher Empirie zu fassen ist.

Seidel: Ja, ich wollte zu der Frage direkt auch mal was sagen. Zu dem zweiten Teil besonders. Es geht doch darum, ob die alltägliche vorfindbare Phänomenalität durch die Kategorien nicht relativiert wird, oder so ähnlich. Und ich meine, natürlich wird die das. In der Phänomenologie wird versucht, diese Alltäglichkeit an dem Phänomen selber zu entwickeln, in der Kritischen Psychologie, indem man über die funktional-historische Rekonstruktion geht. Ich muß aber sagen, daß ich mittlerweile schon wieder umgekehrt denke, ob nicht die Kategorien, ich sagte das vorher schon, an der Phänomenalität wieder gemessen werden müssen: Zwar müssen sich einerseits die Phänomene, die Alltagsphänomene, kritisieren lassen durch eine historische Analyse, wobei aber auch umgekehrt die historische Analyse sich wieder an den Phänomenologie kritisieren lassen müßte.

Um es konkret zu machen am Begriff der Handlungsfähigkeit. Also es gibt ja verschiedene Konzepte. Persönlichkeit, Individualität … Es gab gute Gründe in der Diskussion, warum jetzt nicht die, sondern gerade Handlungsfähigkeit zu einem Grundbegriff wurde. Aber auf der anderen Seite scheint mir jedoch der Begriff Handlungsfähigkeit relativ phänomenfern zu sein: Einen Begriff von Handlungsfähigkeit kann ich sozusagen in jeder „Person“ formulieren, ich kann feststellen, ob jemand handlungsfähig ist oder nicht handlungsfähig, ohne überhaupt in seine Innenwelt hineinzugehen oder es sieht zumindest so aus. Von daher würde ich z.B. fragen zum Konkurrenzbegriff … die Existentialisten, die haben den Begriff des Entwurfs stattdessen. Wie ist die Phänomenalität im Begriff Handlungsfähigkeit aufgehoben, ist sie es tatsächlich oder ist da nicht das Pendel schon etwas wieder zugunsten der objektiven Analyse durchgeschlagen?

Holzkamp: Also Hannelore, zu dem was Du gefragt hast. Mir scheint die Antwort vom Kollegen Graumann ziemlich zu verdeutlichen, wie hier sozusagen der Anschnitt der Phänomenologie ist: Es wurde gezeigt, daß etwa dieser Widerspruch zwischen vordergründigem Erziehungserfolg und darin liegender Entwicklungsbehinderung, in phänomenologischen Bestimmungen faßbar ist. Also das ist ein Widerspruch, den man aufschlüsseln kann aus der Phänomenanalyse, auf eine bestimmte Weise. Das ist aber eine Ebene. Die zweite Ebene ist die Frage, wie nun inhaltlich diese Widersprüche ausse-||157|hen: Bei uns ist ja ein entscheidender Punkt, der nun wirklich nichts mit Phänomenologie zu tunt hat, daß wir in unserer Analyse den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Reproduktion und individueller Reproduktion quasi als unhintergehbare Prämisse einführen. Es ist eine marxistische Voraussetzung, keine phänomenologische, daß wir annehmen, daß die individuelle Reproduktion Teilaspekt der gesellschaftlichen Reproduktion ist. Keiner von uns kann sich reproduzieren ohne daß er in irgendeiner Form beteiligt j ist an der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, weil wir nämlich alle davon abhängen, keiner kann sich individuell wie in der natürlichen Umwelt reproduzieren Und von da aus versuchen wir, den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der individuellen Reproduktion durch die historische Analyse empirisch herauszuarbeiten. Das heißt also: Wenn wir jetzt rangehen an sowas wie diese Widerspruchsanalyse, dann sind dabei nun mögliche phänomenologische Differenzierungen wie der Kollege Graumann sie dargestellt hat, vorausgesetzt. Aber wir versuchen zu zeigen, wie aus der konkreten Situation in der bürgerlichen Gesellschaft, in der Situation und Klassenlage der Betroffenen, mit denen wir es zu tun haben, sich bestimmte Widersprüche ergeben, aus denen es sozusagen ihnen nahegelegt ist, bestimmte Techniken anzuwenden zur Bewältigung der Situation mit den Kindern, die in Wirklichkeit Entwicklungsbehinderungen sind. Das ist eine inhaltliche Füllung dieser allgemeinen phänomenologischen Bestimmungen aufgrund eines sehr umfangreichen Umweges der Forschung, wo versucht wird, zu zeigen: Was heißt eigentlich individuelle Entwicklung als Aspekt der Reproduktion der gesellschaftlichen Entwicklung unter bürgerlichen Verhältnissen in bestimmten konkreten Positionen, Situationen in dieser Gesellschaft? Und von da aus kommen wir dann … z.B. die Individuen entwickeln sich, entwickeln ihre Handlungsfähigkeit, müssen sie aber in der bürgerlichen Gesellschaft so entwickeln, daß sie nachher in der fremdbestimmten Erwachsenenexistenz in dieser Gesellschaft handlungsfähig werden. Sie werden nicht absolut handlungsfähig, sondern entwickeln sich widersprüchlich hin auf diese Art von gebremster Handlungsfähigkeit unter der allein sie sich nachher unter unseren Verhältnissen reproduzieren können. D.h. schon in der Entwicklung der Kinder steckt der Widerspruch drin und dieser Widerspruch zwischen vordergründiger Entwicklungsförderung und tatsächlicher Entwicklungsbehinderung, der hat für uns auch mit dem genannten gesellschaftlichen Widerspruch zu tun, und von da aus ||158| leiten wir das ab. Dies steht nicht in Widerspruch zu den phänomenologischen Bestimmungen, sondern ist eine Konkretion aufgrund eines anderen, historisch-empirischen Ansatzes, wobei diese phänomenologischen Bestimmungen selber halt nicht verloren gehen dürfen.

Publikum (Jaques Zelen): Nach der bisherigen Diskussion scheint es so, als ob die Phänomenologie viel breiter ist, als sie meistens gefaßt wird, und die die Kritische Psychologie viel phänomenologischer, als sie je vorgegeben hat. Aber eine spezifische Frage an Herrn Graumann: Ist der kategoriale Umweg überhaupt nötig, um die Phänomene zu verstehen? (Rest akustisch unverständlich)

Graumann: Zu der Frage, ob der kategoriale Umweg zu Phänomenen überhaupt nötig sei, würde ich sagen: Phänomenologisch gibt es keinen kategorialen Umweg zu den Phänomenen, weil das, was Phänomen genannt wird, ja nicht so etwas ist wie eine pure beispielsweise sensorische Erscheinung, sondern noematisch in dem Sinne, daß etwas, egal, wie es im einzelnen beschaffen ist, in seinem Sinn erlebt wird. Wir haben in der Phänomenologie ein besonderes Interesse an der sogenannten vorprädikativen Erfahrung, an der präreflexiven Erfahrung, aber eine präkategoriale Erfahrung kann es nicht geben. Es kann dann natürlich immer noch Umwege geben, indem man also Dinge in einem Sinne erfaßt, nicht wahr, den man später korrigieren muß, den man präzisieren muß. Aber in dem Maße, wie jedes Ding, das erscheint, nicht notwendig als etwas erscheint, (das ist bereits eine Reflexionsstufe darüber) aber über sich hinaus verweist auf weitere Möglichkeiten, es zu erfahren, steht es immer in einem Sinnkontext, ist nicht nur Einzelding – es gibt gar kein Einzelding, es gibt auch keine einzelne Erfahrung – und das wird im Grunde kategorial erfahren. An der Kategorialität der Erfahrung führt, soweit ich die Dinge verstehe, kein Weg vorbei.

Seidel: Ja, aber, vielleicht ist der Unterschied: Phänomenale Kategorien und außerphänomenale Kategorien. Z.B. umfaßt die Kategorialanalyse der Kritischen Psychologie meinethalben Bestimmungen wie: die Menschen produzieren ihr Leben gesellschaftlich. Das ist eine ganz andere Aussage, als die Aussage, daß wir in unserem Sein immer auf die Mitmenschen bezogen sind, phänomenal, also wenn wir unsere Innenwelt richtig bestimmen, daß dann der andere immer darin sein muß. Das ist eine Aussage, würde ich sagen, die1iegt ganz auf der phänomenalen Ebene, ist auch kategorial irgendwie, ist aber was ganz anderes als eine Aussage, die aus der materialistischen Geschichtsauffassung kommt ||159| oder so, das ist eine völlig andere Art von Kategorien, und, ich glaube, darauf zielt auch die Frage ab, ob solche Kategorien … die werden hier als Umweg, glaube ich, genannt.

Graumann: Es gibt sicher im Kontext der kritisch-psychologischen Kategorialanalyse Kategorien, die sich phänomenologisch geradezu ganz unmöglich sind. Das ist klar, die sich nicht phänomenologisch rechtfertigen lassen, meine ich, die in diesem Kontext überhaupt keinen Sinn ergäben. So ist es z.B. phänomenologisch völlig sinnfrei zu sagen, daß ich mich selbst reproduziere. Phänomenologisch wäre das ein Witzwort. Man kann etwas reproduzieren usw., aber, daß ich mich reproduziere, das wäre phänomenologisch nicht ausweisbar. Während Bestimmungen mit höher Abstraktheit wie etwa Intentionalität, das haben Sie gerade ganz richtig gesagt, das ist erst mal ein Wort, für etwas, das, wie ich glaube, in allen Erfahrungen besteht. Man könnte andere Wörter dafür finden. Was es gibt, ist natürlich unterschiedliche Nähe zu den Phänomenen; das ist klar, daß es da, wie bei allen Begriffen, so etwas wie Begriffshierarchien gibt. Aber der Anspruch auch an eine phänomenologische Begriffsklärung ist, daß letztlich immer der Rekurs auf die Phänomene möglich ist, d.h. die Legitimierung der Wirklichkeit etc. immer von der unmittelbaren Erfahrung aus erfolgt, abgesehen von den Umwegen, die Verkehrsunfälle sind, die sicher sehr häufig sind, gibt es kein Vorbei an einer phänomenologischen (ja, wir verwenden den Begriff nicht so) an einer phänomenologischen Kategorisierung, der Bemühung um eine möglichst phänomengetreue Kategorisierung.

Holzkamp: Also ich würde das in der selben Richtung noch ein bißchen weiter verdeutlichen wollen. – Also zunächst zur Kategorialanalyse: Unsere Erfahrung hat eine bestimmte Struktur, mit Dimensionen wie Intentionalität usw., das kann man phänomenologisch analysieren. Und nun so etwas wie marxistische Herangehensweise: Dabei habe ich diese Struktur der Erfahrung, und das ist unhintergehbar: was darüber, wenn es adäquat gemacht wird, phänomenologisch festgestellt wird, ist durch nichts aus der Welt zu schaffen. Es kann also keine marxistische Analyse ergeben, daß ich nicht intentional auf meine Mitmenschen bezogen bin, das ist ein Quatsch, kann es nicht geben, also das steht nicht zur Disposition; und auch die Reziprozität der Beziehung, meiner Beziehung auf den anderen Menschen, daß wir uns sozusagen wechselseitig erfahren: es gibt keine mögliche materialistische Analyse, die diesen Sachverhalt ||160| aus der Welt schaffen kann. Wenn man den aus der Welt schaffen will, dann muß man ihn nämlich auf der Ebene der phänomenologischen Analyse methodisch kritisieren oder so. Das ist erst mal ein Punkt, aber das ist nicht alles. Sondern man kann jetzt weiter fragen: Schön, ich befinde mich hier an dieser Stelle der historischen Entwicklung, das ist zunächst mal auch ein Stück Phänomen für mich. Aber, daß ich hier an dieser Stelle meine Erfahrung analysieren kann, setzt ja sozusagen meine Existenz voraus, … der schöne Satz von Marx (in der Deutschen Ideologie) man muß erst mal leben ehe man denken kann, man muß erst sich kleiden, ehe man Philosophie machen kann oder so. Also, ich habe zwar hier die Erfahrung, die Tatsache dieser Erfahrung ist aber nicht allein erklärlich aus der phänomenologischen Analyse ihrer Struktur, sondern es muß auch verständlich werden, wie ich mich jetzt dabei hier so überhaupt am Leben erhalte, um Erfahrungen mit der phänomenalen Struktur machen zu können. Und sich am Leben Erhalten ist zwar phänomenologisch abbildbar, aber als solches ein nicht-phänomenaler Prozeß. Dazu gehört, daß real die Bedingungen da sind unter denen ich essen, leben, mich kleiden kann, unter denen ich nicht totgeschossen werde, unter der mir die Raketen nicht auf den Kopf fallen. Die Raketen sind zwar auch ein phänomenaler Tatbestand, und wenn sie auf uns runtergefallen sind, kann der Phänomenologe hinterher, falls er noch lebt, sich damit beschäftigen, die Dinge im phänomenalen Bezugssystem zu fassen. Aber die Prozesse, die dazu geführt haben, daß mir die Rakete auf den Kopf fällt, gehören zu einer anderen Art Bezugssystem als der Phänomenanalyse. Und diese Ebene versuchen wir einzubeziehen, indem wir die Befindlichkeit, in der wir uns hier wiederfinden, historisch rekonstruieren aus dem Reproduktionsprozeß des gesellschaftlichen Lebens, in dem die Individuen nur dadurch sich selber reproduzieren können, daß sie einen Beitrag leisten zur Reproduktion des gesellschaftlichen Systems, weil sie davon nämlich abhängen. Sie können tatsächlich objektiv sich nur so reproduzieren. Wenn ich diesen ganzen Prozeß nun analysiere hinsichtlich der Konsequenzen für meine konkrete Lebenslage, dann heißt das, daß ich eine umfassendere Sichtweise auf meine eigene Lebenstätigkeit kriege, mit inhaltlichen Bestimmungen, konkreten empirischen inhaltlichen Bestimmungen, in denen ich dann diese Phänomenbestimmungen nicht unterschreiten darf, die aber einfach mehr enthalten als die bloße Bestimmung dieser Struktur der Erfahrung. D.h. ich selber bin in der Situation, finde ||161| mich wieder in dieser Situation, als Teil einer umfassenden historischen Entwicklung der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, in der ich jetzt gerade an diesem speziellen gesellschaftlich-historischen Punkt bin. Und kann versuchen, das zu kapieren, und das kann ich nicht kapieren durch Phänomenanalyse, das kann ich nur kapieren, indem ich den Prozeß in den ich mit meinen Erfahrungen eingebettet bin, reproduziere, gedanklich reproduziere in seinen Widersprüchen, in seinen Interessenkonstellationen, nicht wahr, in den objektiven Bestimmungen, denen ich unterstehe, und die sich niederschlagen können auch in meinem individuellen Bewußtsein und da alle möglichen Mystifikationen hervorrufen können: Das ist einfach ein anderer Ansatz und damit sind die Phänomene nicht aus der Welt, sondern die Phänomenanalyse ist inhaltlich überschritten, aufgrund dieser historischen Analyse der konkreten Erfahrung. Meinetwegen: Intersubjektivität als phänomenaler Tatbestand … aber, was eigentlich jetzt intersubjektive Beziehungen unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen im Zusammenhang mit bestimmten Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion im Kapitalismus heißen, und welche Beschränkungen und spezifischen Bestimmungen sich daraus ergeben, ist einfach eine andere Frage, und zwar deswegen, weil das, was wir tun in unserem täglichen Leben bis hin in unsere intimsten Beziehungen hinein eben nicht unabhängig ist von den Widersprüchen, von den Interessenkonflikten, der gesellschaftlichen Lage, in der wir leben.

Graumann: Ich falle mal einen Augenblick aus meiner freundlichen Rolle heraus, weil ich jetzt gegen einen, ich sage das auch ganz böse, gegen einen Trick der Argumentation protestiere, den Klaus Holzkamp gerade begangen hat, wenn er nämlich sagt, Phänomenologie, alles schön und gut, alles akzeptiere ich, alles kassiert, usw., aber wir gehen darüber hinaus, und insofern ist das was wir machen, sehr viel reicher. Das finde ich eine. unzulässige Art zu argumentieren. Weder die Kritische Psychologie noch die marxistische Theorie haben die Kategorien entwickelt, die wir bislang als phänomenologische bezeichnet haben und wo wir jetzt feststellen, daß es einen gewissen Konsens oder eine gewisse Konvergenz gibt, wenn Sie sich die jetzt alle untern Nagel reißen, ich drück mich drastisch aus, als Unterbau oder so etwas unter eine Theorie, die mehr also Wert legt auf sozioökonomische Strukturanalyse, und dann sagen, wir sind aber reicher als ihr, dann finde ich das eine unzulässige Konfundierung von zwei Diskurssystemen, und kein Beispiel für Reichtum. ||162|

Holzkamp: Hab ich gesagt ‚reicher‘? Dann nehme ich das zurück. Ich hab aber, glaube ich, nicht ‚reicher‘ gesagt. Vielleicht können wir das Problem dadurch neutralisieren, daß wir sagen, es sind unterschiedliche, nicht auf einander reduzierbare Sichtweisen. Also, wenn ich hier immer wieder betone, daß die phänomenologische Herangehensweise für uns nicht hintergehbar ist, dann meine ich damit, daß wir bei diesen Analysen, die ich jetzt hier dargestellt habe, also der Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion, die konkrete Situation von Individuen nach den Bestimmungen, wie sie phänomenologisch beschrieben sind, nicht unterbuttern dürfen, d.h. es gibt eine bestimmte Widerständigkeit der Struktur der Erfahrung von Subjekten, die nicht verloren gehen darf bei diesen Analysen ; was nicht heißt, daß wir uns darauf beschränken müßten. Wir versuchen eben, darüber hinaus noch auf ne andere Art und Weise an Dinge heranzukommen. Wieweit wir dabei kommen, muß jeder selber beurteilen. Wenn wir z.B. auf dieser Grundlage Analysen machen über die Widersprüche zwischen scheinbarem Erziehungserfolg und Entwicklungsbehinderung, dann wird das von uns halt nicht nur phänomenanalytisch als Widerspruch gefaßt, sondern in einer bestimmten Art und Weise versucht zu begründen auch als einen Aspekt der individuellen Reproduktion des Lebens und der Entwicklung unter den konkret-historischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft jetzt und hier. Also nicht nur irgendein Widerspruch zwischen Erziehungstechniken, vordergründig, und Entwicklungsbehinderungen, sondern ein Widerspruch, der sich ergibt aus ganz bestimmten gesellschaftlichen Widersprüchen unserer konkreten Situation Können wir doch machen! (Zwischenruf Graumann: „Unbestritten“) Und daß das reicher ist, also diese Bewertung mit reich und nicht reich, will ich damit nicht …, ich will mir auch nichts unter den Nagel reißen. Sondern mein. Plädoyer auch vor den marxistischen Kollegen, die das in keiner Weise immer so sehen, ist, daß wir hinter das, was hier als unmittelbare Erfahrung gegeben ist, dabei nicht zurückfallen dürfen … Wir machen eine materialistische Analyse in der Psychologie und am Ende fällt z.B. die Intersubjektivität raus, oder die Reziprozität der Perspektiven, ist nicht mehr davon die Rede, kommt nicht mehr vor. Wenn das raus kommt, dann hat die historische Analyse nichts getaugt, dann war die schlecht. Das ist ein Maßstab, und zwar deswegen, weil wir ja Erfahrung aufschlüsseln und nicht Erfahrung untern Tisch kehren wollen. Wir wollen nicht Erfahrung abschaffen, auch nicht Erfahrung zensieren, ||163| sondern wir wollen Erfahrung verdeutlichen im Sinne der Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Lebensqualität der Individuen, das wollen wir.

Publikum: … wenn es bei Ihnen (Graumann) in erster Linie um Erfahrungen geht und jetzt auch im Rahmen der Kritischen Psychologie gesagt wird, die sind nicht hintergehbar, was ich auch finde, so mache ich aber als Individuum z.B. folgende Erfahrung: Herr Reagan spricht im Fernsehen und sagt, wir wollen Frieden, uns liegt nichts näher, als den Frieden auf Erden zu sichern und dafür machen wir jetzt hier Politik, und ich bin Präsident der Vereinigten Staaten geworden, um das zu sichern, und das ist die Hauptaufgabe meiner Politik. Die Erfahrung mache ich abends um acht bis viertel nach acht, die kann ich auch bei Herrn Kohl und anderen Politikern machen, diese Erfahrung. Ich mache aber gleichzeitig die Erfahrung (auch über die Medien), daß der Reagan 1000 Pershing 2 hier aufstellen läßt und soundsoviel Cruise Missiles, und dabei ist, ein Rüstungsprogramm in Gang zu setzen, was die Welt noch nicht gesehen hat, und daß gleichzeitig der Hunger in der Welt weiter zunimmt, die Erfahrung mache ich auch. Nun stehe ich da mit meinen beiden Erfahrungen, und frage mich, woran ich mich orientieren soll, weil ja beides Erfahrungen sind, die ich mache. Jetzt wäre meine Frage an Sie, wieviel gilt Ihnen der Umstand, daß ich widersprüchliche Erfahrungen mache, wie erklären Sie das, also wie stellen Sie sich zu dem Umstand, daß ich als Subjekt, als einzelne Person eine Geschichte, soundsoviel Jahre alt, eine Geschichte widersprüchlicher Erfahrungen habe und mitkriege, daß ich manchmal die Erfahrung als solche nicht leben kann, sondern mich damit auf die Nase lege und gefordert bin, hinter meine Erfahrungen zu gehen und Dimensionen einzuschließen, die erst mal mit der unmittelbaren Erfahrung als solcher wenig zu tun haben?

Graumann: Vielen Dank, es ist sehr wichtig, daß mal so eine Frage gestellt wird. Also natürlich Punkt eins, Phänomenologie, phänomenologische Psychologie als solche ist natürlich keine Lebenshilfe, ganz klar, daß man aus diesen theoretischen Systemen heraus keine praktischen Anleitungen dafür kriegt, wie ich mich verhalten soll bei solchen Erfahrungen, da sind noch eine Reihe Vermittlungsinstanzen, ob kritisch, marxistisch oder bürgerlich …? Aber wenn Sie beunruhigt sind, daß Sie auf der einen Seite Leute von Frieden reden hören und auf der anderen Seite wissen, daß die Raketen aufstellen, andere stellen Raketen auf und reden auch vom Frieden, so daß Sie also Ihr Ver-||164|ständnis von Frieden, mit der offenkundigen Bedeutung von Raketen nicht in Übereinstimmung bringen können, und wenn Sie jetzt weiterfragen: woher kommt das, dann haben Sie einen Widerspruch und wenn Sie jetzt auch noch Vertreter der Dissonanztheorie sind, dann sind Sie motiviert, da rauszukommen. Das ist ein wichtiger psychologischer Punkt, nicht wahr, Widersprüche steckt man nicht schlicht in die Tasche, sondern man will wissen – unter Umständen – was dahintersteckt, d.h. Sie werden versuchen, Ihre Erfahrungen anzureichern, sich beispielsweise politisch informieren oder wie immer, daß Sie andere Informationsquellen als die bisher üblichen, als das abendliche Fernsehen verwenden. D.h. jede Erfahrung erweist sich, das ist also (ein Aspekt) des phänomenologischen Ansatzes, als etwas, was prinzipiell über sich hinaus drängt bis zu einer Stell, wo Sie sagen: jetzt hab ich’s, jetzt weiß ich woher das kommt. Es liegt beispielsweise an diesem System. Sie können auch zu ganz anderen Erkenntnissen kommen. Sie können zur Erkenntnis kommen, daß Gott die Welt allmählich aufgibt und der Teufel die Herrschaft übernimmt – nicht lachen, mir ist kein anderes Beispiel eingefallen.

Holzkamp: Zumal ja auch Reagan sie selber vertritt, diese Auffassung …(Gelächter)

Graumann: Wobei die Frage, wessen Werkzeug wer ist, aber … (Gelächter) Ich meine, dieses Weiterfragen, ist genau das, was mit Horizontstruktur der Erfahrung gemeint ist, aber das „ah, jetzt weiß ich’s, das kommt daher“, das wäre phänomenologisch zu hinterfragen, und (dem gegenüber hervorzuheben), daß es mehrere Auslegungsmöglichkeiten für Ambivalenzen, Konflikte, Widersprüchlichkeiten gibt. Also gerade dieser Mechanismus, den Sie schildern, der Sie z. B. auf eine ökonomische, auf eine politische oder auf eine religiöse oder was weiß ich Antwort bringt, Sie wissen, daß die Menschen sich danach unterscheiden, das glaube ich, steht nicht in einem Widerspruch.

Aber, um noch einmal (auf einen frühen Punkt der Diskussion) zurückzugreifen: Wenn man (von marxistischer Seite) sagt, (die phänomenologische Analyse und ihre Resultate), dies ist für uns unhintergehbar, nicht wahr, so kann ich natürlich, wenn ich mich jetzt mal als Vertreter der phänomenologischen Position betrachten würde, was ich gar nicht muß, eine artige Verbeugung gegenüber einem Vertreter der Kritischen Psychologie machen und sagen: Vielen Dank, daß Ihr uns entdeckt habt, und daß Ihr uns sozusagen für unüberspringbar oder dergleichen anseht, und bereit seid, keine kritisch-psychologische, oder gar marxistische ||165| Schlußfolgerung zuzulassen, die in Widerspruch zu einer phänomenologischen Aussage steht: Das ist sensationell!

Seidel: Jetzt ist es mir ein bisschen zu friedlich … also ich denke, der Phänomenologe hätte jetzt an den Fragenden folgende Fragen gestellt: Wie kommt es denn, daß Du vor dem Fernseher sitzt und Dich über das, was Du siehst, echauffierst, und wie kommt es, daß genügend andere davor sitzen, und die erleben das gar nicht als Widerspruch Woran liegt das, das liegt doch sicher daran, daß einerseits diese Millionen und andererseits diese Minderheit, die sich darüber echauffiert, andere Grundstrukturen ihres Erlebens haben und aufgrund dieser anderen Grundstrukturen etwas anderes als objektive Realität sehen, und insofern müßte man möglicherweise eben diese Frage von objektiver Realität in diesem Sinne relativieren, weil ja auch der historisch-materialistische Forscher mit einer ganz bestimmten Struktur in seinen Erlebnismöglichkeiten an die Untersuchung herangeht, und die Frage muß ja auch irgendwo, gerade im Sinne der historisch-materialistischen Forschung, beantwortet werden, wie entsteht das Bewußtsein, die Erkenntnis der objektiven Realität… Wir stellen immer wieder fest, der eine erkennt es, der eine erkennt es nicht, wie kommt es dazu? …

Holzkamp: Die Sache mit der Lebenshilfe find ich ganz interessant … Ich würde schon meinen, daß Wissenschaft immer Lebenshilfe ist, und zwar auf einem sehr allgemeinen Niveau schon gesel1schaftlich-historisch. Ich meine, die Wissenschaft ist eine arbeitsteilige Institution, die sich herausgebildet hat, um bestimmte Probleme der Entwicklung und des Lebens und der Entfaltung der Menschheit, der Individuen, der Lebensbedingungen usw. arbeitsteilig in Angriff zu nehmen, die sozusagen in der allgemeinen alltäglichen Praxis in der Form nicht mehr bewältigbar waren. D.h. wenn Wissenschaft keine Funktion hätte, die in irgendeiner Form mit der Entwicklung des Lebens zu tun hat, dann wäre sie nicht entstanden, das ist jedenfalls die Auffassung, die man als historischer Materialist hier vertreten würde. Und infolgedessen stehe ich auch nicht an, ohne weiteres zuzugestehen, daß die Kritische Psychologie Lebenshilfe bieten soll. Jetzt ist nur die Frage, was man darunter versteht … (Zwischenruf Graumann: bieten soll). Auch bietet, sofern sie Erkenntnisse erbringt. Das Vermitteln von Erkenntnissen und das Bieten von Lebenshilfe sind in der Psychologie zwei Seiten derselben Medaille. Allerdings würde ich sagen, daß Wissenschaft, oder Psychologie, Kritische Psychologie, in dem Sinne keine Lebenshilfe bringen darf, daß sie Individuen Resultate vorschreibt: Dies wäre ||166| nämlich Entmündigung, also gar keine wirkliche Lebenshilfe In dem Moment, wo ich irgendjemand sage, wie er denken soll, was er inhaltlich denken soll, zu welchen Schlußfolgerungen er kommen soll … Es geht also nicht darum, Lösungen der Widersprüche anzubieten, sondern zu vermitteln, wie man mit solchen Widersprüchen vernünftig, d.h. im eigenen und allgemeinen Interesse, umgeht. Also, etwa in unserem Konzept der Entwicklung der Handlungsfähigkeit haben wir ja diese beiden Alternativen restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, und mit Hilfe dieser Begrifflichkeit kannst Du Dich selber fragen, auf welche Art und Weise Du eigentlich mit dem Widerspruch umgehst: Du kannst damit so umgehen, daß Du die Elemente dissoziierst, ja, meinetwegen denkst, da sagt er das, da sagt er das, ist mir wurscht, wie es viele machen. Du kannst auch so damit umgehen, daß Du einen bestimmten Aspekt aus Deiner Praxis ausklammerst, entweder kein Fernsehen mehr siehst oder sonst was, nicht wahr … Oder Du versuchst, diesen Widerspruch zusammenzubringen und daraus für Dich praktische Konsequenzen, meinetwegen als Arbeit in der Friedensbewegung zu ziehen: Was bedeutet das eigentlich für Deine Lebenspraxis? D.h. also, die Implikationen dieser beiden Alternativen nicht nur im Erkenntnisprozeß, sondern auch emotional und motivational klarer zu fassen, das ist eine Funktion der Kritischen Psychologie. Nicht, daß Dir gesagt wird, welche Entscheidung Du treffen sollst, aber die Implikationen der einen und anderen Alternative für Deine Befindlichkeit … Dir selber die Möglichkeit zu geben, etwas klarer auf den Punkt zu bringen, was bedeutet das für mich, das eine und das andere, und Dir damit die Entscheidung jetzt selber zu erleichtern, indem Du weißt, was Du tust, und zwar nicht nur für die Welt oder für irgendwas, für die Geschichte, sondern für Dich selber, was das für Dich selber in Deiner subjektiven Lebenspraxis bedeutet, so oder so Dich zu verhalten, das für Dich klarer faßbar zu machen, das ist in der Tat eigentlich das zentrale Ziel der Kritischen Psychologie. Die Entscheidung selber hast Du nachher zu treffen, und wie die aussieht, das hängt von einer Unmenge von konkreten Faktoren ab, von Deiner konkreten Situation, die ich gar nicht kenne. Aber ich würde sagen, daß auf jeden Fall die Entscheidung, wie sie auch immer ausfällt, bewußter und realitätshaltiger und für Dich selber, für Deine Entwicklung perspektivenreicher ist, wenn Du, vorausgesetzt, die Kategorien bringen was, auf diese Weise weniger Realität rausschmeißt, ja, insofern ist sie dann auch wieder Lebenshilfe, indirekt. ||167|

Graumann: Vielen Dank, ich kann es jetzt ganz kurz machen, denn ich glaube, Klaus Holzkamp ist jetzt gerade aus der Kurve getragen worden im Eifer der Argumentation: Die Kritische Psychologie oder welche Psychologie auch immer, ist nicht Lebenshilfe als solche, sondern man muß die konkreten Lebensbedingungen kennen. In dem Moment, wo ich die konkrete Lebenssituation des einzelnen kenne, kann ich Hilfe anbieten … dazu brauche ich übrigens kein Psychologe zu sein. Und genau das hab ich gemeint, als ich sagte, Phänomenologie oder Psychologie als solche ist keine Lebenshilfe. Daß sie Erkenntnis schafft und daß Erkenntnisse immer Bedingungen der Möglichkeit der Hilfe sind, ist eine Erkenntnis, die von den alten Griechen bis heute reicht, diese bürgerliche Erkenntnis brauchen wir nicht aufzuwärmen, das ist doch trivial.

Holzkamp: Aber wie es aussieht, wie der Zusammenhang aussieht, ist nicht trivial.

Graumann: Nicht trivial ist dagegen, was ich alles im einzelnen wissen muß, nicht wahr, und das ist natürlich die genaue Kenntnisnahme der konkreten Situation, dagegen ist auch kein Widerspruch.

Holzkamp: Nur, daß die Art und Weise, wie man die konkrete Lebenssituation zur Kenntnis nimmt, in keiner Weise auf der Hand liegt (Graumann: Hat mein Pfarrer auch immer gesagt) und daß die begriffliche und empirische Arbeit man meinetwegen als Kritischer Psychologie leistet, eben dazu beitragen soll, sich selber und anderen auf wissenschaftlicher Grundlage dazu zu verhelfen, die Situation so zu analysieren, daß man wirklich nachher weiß, was da drin steckt und welche verallgemeinerten Handlungsmöglichkeiten da drin sind. Der allgemeine Appell, wir müssen die konkrete Lebenssituation berücksichtigen, reicht da überhaupt nicht, denn das versuchen alle … (Graumann: Alles ungemein nützlich)

Seidel: Wir müssen aber Schluß machen.

Holzkamp (Schlußwort): Ich habe also an der Diskussion relativ viel Spaß gehabt, am Ende wurde es dann ein bißchen brisanter. Die volle Friedfertigkeit zwischen allen Beteiligten wieder zu rekonstruieren, würde vielleicht noch zehn Minuten in Anspruch nehmen, aber das brauchen wir wohl nicht. (Graumann: I wo) Ja, dann, herzlichen Dank und noch schönen Kongreß.

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