Praxisforschung: Widersprüche in Therapie und Beratung

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der  »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Grete Erckmann, Michael Zander

Kann man in der psychosozialen Arbeit — also in den Berufsfeldern von Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik — emanzipatorische Ziele verfolgen? Für bestimmte Tätigkeiten muss man dies klar verneinen, wenn etwa Psycholog_innen dabei helfen, Bundeswehrsoldat_innen kriegstauglich zu machen, Arbeitsplätze wegzurationalisieren oder die Ablehnung von Studienbewerber_innen mit Hilfe von Testdiagnostik zu legitimieren.

In vielen Fällen ist die Situation weniger eindeutig. Klient_innen erwarten Hilfe, sei es bei psychischer Überforderung, die sich u.a. in Ängsten, Depressionen oder Sucht ausdrücken kann, sei es bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen wie Erwerbslosigkeit, dauerhaften Schulproblemen der Kinder oder Umgang mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Gleichzeitig sind Praktiker_innen mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, die sie bei der Erfüllung ihres Auftrags behindern, etwa restriktive Vorgaben von Kostenträgern zum Beratungs- bzw. Behandlungsumfang oder unzulängliche »offizielle« Theorien, die die Verantwortung für das zu lösende Problem allein der Klientin bzw. dem Klienten zuschieben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Erfolgschancen von Therapie und Beratung immer auch davon abhängen, ob es aus Sicht der Klient_innen erstrebenswerte Alternativen zu ihrer aktuellen krisenhaften Situation gibt.

Die kritisch-psychologische Praxisforschung wurde entwickelt, um die konkreten Probleme der Praktiker_innen und Klienten_innen zu erforschen und möglichst zu überwinden. Viele Konzepte gehen auf das »Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis« (ASB) an der FU Berlin zurück. In diesem Projektseminar werden Praktika und Diplomarbeiten unter bestimmten Fragestellungen diskutiert, die die Studierenden selbst einbringen. Die Berliner AG Berufspraxis, ein Zusammenschluss von Studierenden und Praktiker_innen, führt ebenfalls Praxisanalysen durch, vor allem im Hinblick auf die Bereiche Psychotherapie und Beratung.

Im Mittelpunkt steht die Falldarstellung einer Praktikerin bzw. eines Praktikers. Es geht zunächst um die Darstellung von Vorgängen, Ereignissen und Aussagen Dritter. Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, wer welches Problem wie definiert. Im beruflichen Alltag ist man häufig mit einer Vielzahl von Deutungen und Diagnosen konfrontiert, hinter denen regelmäßig zu verschwinden droht, worin eigentlich die Klientin oder der Klient selbst das Problem sieht. Nach und nach werden in der gemeinsamen Diskussion des Falles die Bedingungen herausgearbeitet, die mutmaßlich bei der Entstehung des ursprünglichen Problems und bei den bisherigen Lösungsversuchen eine Rolle gespielt haben.

Begründet statt bedingt

Angestrebt wird eine Analyse im Begründungsdiskurs. In der alltäglichen Kommunikation führen wir für unser Handeln in der Regel Gründe an, nach dem Muster: »Ich habe x getan, weil ich unter den Bedingungen von y ich z erreichen wollte«. Es gibt aber vielfältige Anlässe, aus diesem Diskurs auszusteigen, also Handlungen nicht mehr auf mögliche Gründe zu beziehen, sondern auf bloße Bedingungen oder Seinsunterstellungen (die/der macht das, weil sie/er nun mal so und so »ist«). Vor allem Unverständnis für eigenes und fremdes Verhalten oder psychische Symptome sind solche Anlässe. Wenn in der kritisch-psychologischen Analyse versucht wird, Unverständliches konsequent als Begründungsmuster zu formulieren, dann ist damit nicht gesagt, dass alle Gründe »bewusst« sind. Es wird lediglich angenommen, dass unser Handeln mit unseren Wünschen, Bedürfnissen und Interessen einerseits und mit den jeweiligen objektiven Lebensbedingungen andererseits vermittelt ist. Gleichzeitig sind die Kontexte, in denen wir handeln, meist auch von Kausalitäten durchsetzt, wie Wirkungen von organischen Krankheiten und Drogen, Schlaflosigkeit oder Lärmbelastungen. Sie sind Teil der jeweiligen Prämissen des Handelns, aus denen wir wiederum die Gründe für unser Verhalten ableiten.

Das Gegenmodell zum Begründungsdiskurs ist der Bedingtheitsdiskurs, in dem die meisten akademisch-psychologischen Mainstream-Theorien formuliert sind. In ihm werden die Handelnden nicht als Subjekte betrachtet, vielmehr erscheinen Erleben und Verhalten als bloße Resultate von Bedingungen. Je nach Theorie fehlt den Betroffenen lediglich Serotonin, positive Verstärkung, libidinöse Besetzung, Ich-Stärke oder Anerkennung. Menschen werden als nahezu vollständig fremdbestimmbar angesehen. Sie sind bedingt und verändern demnach auch nicht aktiv und bewusst die Bedingungen. Philosophisch gesprochen handelt es sich um Objektivismus. Dessen Gegenteil, Subjektivismus, wäre allerdings genauso problematisch. Es liefe darauf hinaus, die Bedeutung der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben und zu denen wir uns verhalten, und die Frage nach Einflussmöglichkeiten, die jeder einzelne hat, zu vernachlässigen.

Ein besonderer Fall, der Fragen nach Handlungsgründen abschneidet, ist die Personalisierung: Hier werden die Ursachen eines Problems einer Person angelastet — u.U. auch der eigenen — indem man ihr bestimmte Eigenschaften (Faulheit, Schüchternheit, Aggressivität etc.) zuschreibt und gleichzeitig die Kontexte ausklammert, in denen Verhaltensweisen subjektiv begründet sind. Erklärungen im Bedingtheitsdiskurs und Personalisierungen haben vor allem eine entlastende Funktion, indem der Veränderungsbedarf an einzelne Individuen delegiert wird, ohne soziale und gesellschaftliche Verhältnisse anzutasten.

Machtverhältnisse im Blick

Besondere Aufmerksamkeit bei der Analyse verdienen die spezifischen Machtverhältnisse, mit denen die Betroffenen konfrontiert sind. Machtverhältnisse werden durch Institutionen wie Schule, Lohnarbeit, Behörden, Krankenhäuser, Familie o.ä. konstituiert. Praxisreflexionen können die von ihnen ausgehenden Zwänge nicht ermäßigen oder aus der Welt schaffen. Aber sie können zur Einsicht führen, dass man gesellschaftliche Anforderungen nicht unhinterfragt übernehmen muss, sondern vielmehr eine kritische Distanz und ein bewusstes Verhältnis zu ihnen gewinnen und sie zusammen mit anderen verändern kann.

Psychische Probleme, so die These, hängen mit solchen Machtverhältnissen zusammen: Auf kognitiver, emotionaler und motivationaler Ebene werden Möglichkeiten verdrängt, unbefriedigende Lebensbedingungen zu verändern und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Die Verdrängung hat insofern eine sinnvolle Funktion, als Wahrnehmung und Durchsetzung notwendiger Veränderungen für das Subjekt angesichts bestehender Machtverhältnisse potenziell riskant sind. Die jetzige Lebensqualität mag unbefriedigend sein, aber ein gescheiterter Veränderungsversuch kann die Lage noch weiter verschlechtern. Dieses kritisch-psychologische Konfliktmodell ist oft sehr hilfreich. Ob und inwieweit es in einem bestimmten Fall passt, ist allerdings eine empirische Frage.

Reflexion in Fallbesprechungen

Die Rekonstruktion der Probleme von Klient_innen muss im Rahmen der Praxisforschung zunächst in gewissem Maße spekulativ bleiben, da die Personen, über die diskutiert wird, nicht anwesend sind. Praxisforschung ist Intervision, also Fallbesprechung unter Kolleg_innen. Es werden zunächst nur Hypothesen gebildet. Vermutungen aus dem Plenum können von der Praktikerin oder dem Praktiker teilweise aus eigener Kenntnis bestätigt oder entkräftet werden. Fragen, zu denen die Klientin oder der Klient selbst Stellung nehmen muss, können in den Beratungs- oder Therapieprozess eingebracht und später ins Plenum zurückgemeldet werden.

Idealerweise findet am Ende eines Treffens eine Reformulierung von Problemen statt. Auf der Basis dieser neuen Sicht können Praktiker_innen möglichst klärende Gesichtspunkte in den Dialog mit Klient_innen einbringen. Eine im Plenum erarbeitete Reformulierung kann erfolgreich sein, indem ein (Teil-) Problem einer Lösung näher gebracht wird. Sie kann aber auch scheitern, wenn z.B. ein Klient sagt: So sehe ich mein Problem nicht, die Mutmaßungen, die über mich und meine Situation angestellt wurden, treffen nicht zu. Dann werden diese Einwände bei Bedarf ans Plenum zurückgemeldet, und der Klärungsprozess beginnt von Neuem.

Nicht selten werfen die Diskussionen auch Licht auf problematische Anforderungen, mit denen Praktiker_innen konfrontiert sind: So müssen in der Regel Berichte in einer Sprache formuliert werden und Diagnosen vergeben werden, die wenig Raum für den Begründungsdiskurs lassen. Es bestehen womöglich Stress und Arbeitsüberlastung, von den Praktiker_innen wird verlangt, nach außen ein Bild der Institution zu vermitteln, das nicht in jeder Hinsicht realitätsgetreu ist etc. Kritisch-psychologische Praxisreflexion dient nicht zuletzt auch dazu, sich gegenseitig darin zu unterstützen, taktisch mit derartigen Zwängen umzugehen und sie, wo nötig und möglich, zu unterlaufen oder gar zu beseitigen.

Ein Praxisbeispiel1)

Der Klient befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung. Er stammt aus dem Libanon und lebt seit 10 Jahren zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Deutschland. Die Familie seiner Frau stammt ebenfalls aus dem Libanon, sie selbst ist aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er lernte seine Frau bei einem ihrer Urlaubsaufenthalte im Libanon kennen und zog schließlich zu ihr nach Deutschland. Seit vier Jahren leidet er unter starken migräneartigen Kopfschmerzen und gelegentlich auftretenden Schwindelanfällen. Er hat bereits eine Odyssee von Untersuchungen, Arztbesuchen und Klinikaufenthalten mit immer wieder unbefriedigenden Behandlungserfolgen hinter sich und ist zur Zeit arbeitsunfähig. Gegenüber der Therapeutin verhält er sich immer sehr höflich und fast ehrfürchtig, blockt aber sehr bestimmt jedes Mal ab, wenn das therapeutische Gespräch vom »eigentlichen Thema Kopfschmerzen« abzuweichen droht. Die Therapeutin führt sein Verhalten in erster Linie auf kulturelle Unterschiede zwischen »ihrer westlichen« und »seiner arabischen Kultur« und dem dazugehörigen Verständnis vom Geschlechterverhältnis zurück und fühlt sich damit aber in einer Sackgasse.

In der gemeinsamen Diskussion arbeiten wir folgende Gesichtspunkte heraus: Kulturelle Normen sind nicht eindeutig vorgegeben, sondern werden individuell verschieden angeeignet. Dies zeigt sich u.a. daran, dass er selbst seine ebenfalls muslimische Frau als sehr selbstbewusst und in religiösen Fragen liberal beschreibt. Sie ist erwerbstätig und arbeitet in einer Kindertagesstätte. Das Dilemma »muslimischer Klient« vs. »westliche Therapeutin« wird durch diese Überlegung relativiert.

Die Kopfschmerzen treten überwiegend dann auf, wenn sich der Klient überfordert fühlt und beispielsweise Ämtergänge, Elternsprechabende, Besuche von Verwandten und Freunden anstehen oder seine Frau beruflich sehr eingespannt ist und gelegentlich für Kolleginnen zusätzliche Schichten übernehmen muss. Er selbst führt seine Kopfschmerzen auf eine plötzliche Unverträglichkeit von deutschen Lebensmitteln und/oder dem Klima zurück. Die genaue Ursache, auf welche Lebensmittelbestandteile er allergisch reagiere, sei allerdings noch nicht gefunden worden.

Aus Sicht des Klienten, so vermuteten wir auf Basis der diskutierten Sachverhalte, stellt sich seine Situation folgendermaßen dar: Die Kopfschmerzen sind für ihn einerseits schwer zu ertragen, andererseits werden sie in der Familie als Krankheit anerkannt und führen dazu, dass er emotionale Zuwendung von allen Familienmitgliedern, insbesondere seiner Frau, erfährt. Sie bringen eine Entlastung, ohne dass der Klient als weich und unmännlich angesehen wird. Er selbst hat den Anspruch an sich, die Familie nach außen — sei es gegenüber deutschen Institutionen oder arabischen Verwandten — angemessen zu repräsentieren. Da er sich selbst aber nicht klar darüber zu sein scheint, welche Rolle er an der Seite seiner als sehr selbstbewusst geschilderten Frau einnehmen sollte und möchte, schwankt er zwischen dem »muslimischen« und dem »westlichen« Männerbild. Auch in der therapeutischen Situation ist er mit diesem Dilemma konfrontiert und versucht durch übertriebene Höflichkeit von seiner Unsicherheit abzulenken. Unklar bleibt zunächst, ob es sich dabei ausschließlich um seine eigenen Ansprüche an das eigene Mannsein handelt, oder, ob auch von Verwandten oder seiner Frau durch Erwartungen und Ansprüche Druck auf ihn ausgeübt wird.

Die hypothetische Skizze kann im weiteren Verlauf bestätigt oder auch widerlegt werden bzw. sich als unzureichend erweisen, sollte sich z.B. zeigen, dass die Kopfschmerzen auch nach einer bewussten Klärung seiner »männlichen« familiären Aufgaben unverändert stark bleiben. Bei einer späteren Praxisanalyse können neue Fragen aufgeworfen werden, etwa danach, inwiefern der Klient an seiner Arbeitsstelle in einer Einzelhandelskette von der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse betroffen ist und seine Kopfschmerzen ihn vor der Wahrnehmung dieser Bedrohung abschirmen.

1) Fiktiver Fall, der Erfahrungen mit der Praxisreflexion in der AG Berufspraxis widerspiegelt. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Zum Weiterlesen

Morus Markard & Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000): Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Wider Mainstream und Psychoboom. Hamburg: Argument

Jochen Kalpein (2007): Praxis — neue Phalanx subjektwissenschaftlicher Theorieentwicklung? Oder: »The greatest act can be — one little victory«. Forum Kritische Psychologie 51, 87-108

ders. (2010): ProblemKinder und KinderProbleme. In Klaus Weber (Hrsg.), Kinder (189-217). Hamburg: Argument

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