Kritische Psychologie: Eine Psychologie von »je mir«

Einleitungsartikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der  »CONTRASTE — Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Uli Frank

Wie kommt die Kritische Psychologie (die mit dem großem »K«) in die CONTRASTE? Ist das nicht etwas aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts? Gibt’s die »Holzkamp-Psychologie« denn immer noch?

Eine Reihe von Projekten und Themen, von den in den letzten Jahren in der CONTRASTE zu lesen war, hatten immer wieder mal Bezüge zur Kritischen Psychologie — ohne, dass explizit die Rede davon war. Begriffe wie »Selbstentfaltung«, »Handlungsfähigkeit«, das »je ich« als Hinweis auf die Verallgemeinerbarkeit des individellen Standpunktes, die fünf Schritte bei der Entstehung des Neuen usw. wurden in verschiedenen Artikeln verwendet. Die Kritische Psychologie kommt also ungenannt in der CONTRASTE immer wieder mal vor, nun machen wir sie explizit zum Thema.

Das jedoch ist nicht ganz einfach. Denn neben den oben genannten eher eingängigen Begriffen, gibt es viele weniger bekannte eigenwillige Wortschöpfungen Klaus Holzkamps, die die Lektüre seines 600 Seiten starken Hauptwerks »Grundlegung der Psychologie« manchmal zur Qual machen:»Verfügungsbehinderungen«, »Möglichkeitsverallgemeinerung«, »Kategorialanalyse«, »Aktualempirie« usw. Holzkamp nimmt diese Schwierigkeiten in der Einleitung schon vorweg: »…Man wird mir sagen, es mache große Mühe, dieses Buch zu lesen. Ich halte dem entgegen, daß es auch Mühe gemacht hat, es zu schreiben….«

Eine ungewöhnlich knappe Selbstdarstellung der Kritischen Psychologie findet sich auf ihrer Homepage (kritische-psychologie.de): »Die Kritische Psychologie entstand aus der Studentenbewegung und den in dieser Zeit angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Mit der Überschreitung ›binnenwissenschaftlicher‹ Fragen und im Zusammenhang einer ›tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Umorientierung‹ (Holzkamp 1985) wandte sie sich auch gegen eine Psychologie als Herrschaftswissenschaft und die ›Psychologisierung‹ gesellschaftlicher Widersprüche. (…) Gegenstand subjektwissenschaftlicher Forschung ist nicht das Subjekt, sondern dessen Welt, wie sie von ihm empfindend, denkend und handelnd erfahren wird.«

Der Ursprungsimpuls der Kritischen Psychologie ist also nicht nur die Einsicht, dass die akademische Psychologie ihren eigenen Gegenstand (»Psyche«) nicht kennt, sondern auch, dass sie ihrem Forschungsgegenstand »Mensch« nicht gerecht wird, weil sie ihn vom Außenstandpunkt betrachtet und damit objektiviert und funktionalisiert. Als Individualwissenschaft erhebt die Kritische Psychologie dagegen den Anspruch, jedes besondere »ICH« von seinem subjektiven Standpunkt in der Gesellschaft her zu begreifen und dazu beizutragen, die eigene Handlungsfähigkeit real zu erweitern und neue Möglichkeiten zu eröffnen. Es geht damit also unter anderem darum, das wissenschaftlich zu fundieren und praktisch zu unterstützen, was CONTRASTE im Untertitel führt: Selbstorganisation.

Die Kritische Psychologie ist auch von Bedeutung, wenn es darum geht, dem Mythos des antriebslosen Menschen entgegen zu treten. In einer Gesellschaft, in der Menschen sich verkaufen müssen, um Leben zu können, ist es völlig nachvollziehbar, dass sie sich dem Zwang entziehen, sobald dies möglich ist. In völliger Verdrehung wird daraus geschlossen, dass Menschen »gar nichts« mehr tun, wenn man sie nicht besticht (»Lohn zahlt«) oder sie nicht zwingt (»Arbeitszwang bei ALG-2«). Wer nicht »motiviert« sei, den müsse man »Fördern und Fordern«, so heißt es. Dekonstruiert man die dahinter stehenden Annahmen, so wird deutlich, dass »jemanden zu etwas motivieren« immer einen Außenstandpunkt einschließt: Da ist jemand, der weiß vorher, wozu ich gebracht werden soll. Der Standpunkt erster Person, mein Standpunkt, bedeutet hingegen, dass nur ich wissen kann, was mein Platz in dieser Welt ist, wie mein Beitrag aussieht, wie ich mich am besten entfalten kann — und wie die Gesellschaft sein muss, dass mir dies »motiviert« möglich ist. Das Unmotiviert-Sein in einer Gesellschaft, deren selbstbezügliche Sinnlosigkeit an allen Ecken sichtbar und für mich in meinen Lebensbereich hautnah erfahrbar wird, ist kein individuelles Problem. Gleichwohl bin ich für mein Handeln jederzeit verantwortlich, es ist nicht beliebig, was ich tue. Ich kann Isolation und Exklusion aktiv betreiben oder für Zusammenschluss und Einschluss der Anderen sorgen. Sich in diesen vielfältigen Widersprüchen bewegen zu können, dafür bietet die Kritische Psychologie einige Denkmittel.

Unser AutorInnenteam: Stefan Meretz schrieb die Einführung. Vier engagierte Studierende der Psychologie, Leoni Breuer, Moritz Thede Eckart, Leonie Knebel und Marcel Thiel, berichten von den Schwierigkeiten, neben dem akademischen Studium aus eigener Initiative den Zugang zur Kritischen Psychologie zu finden, und warum sie das trotzdem so wichtig finden. Grete Erckmann und Michael Zander (AG Berufspraxis) liefern einen Praxisbericht aus der psychosozialen Arbeit, und die Philosophin Annette Schlemm (»Philosophenstübchen«, Jena) diskutiert die Bedeutung der Kritischen Psychologie für emanzipatorische Bewegungen.

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