Zu einer psychologischen Konzeption der sinnlichen Erkenntnis

Veröffentlicht in: Probleme und Ergebnisse der Psychologie, Heft 61/1977, 5-12.
Verfügbar über: Leontjew Leontjew Sinnliche Erkenntnis

Alexej Alexejewitsch Leontjew und Alexej Nikolajewitsch Leontjew

Zu einer psychologischen Konzeption der sinnlichen Erkenntnis[1]

In den letzten Jahren vollzieht sich in der ausländischen Psychologie wie auch in anderen Gesellschaftswissenschaften eine ernsthafte Veränderung in der philosophischen Orientierung, die mit der Entwicklung des Interesses progressiver Wissenschaftler der kapitalistischen Länder am dialektischen und historischen Materialismus in Beziehung steht.

Die Zeit ist vorbei, in der positivistische Konzeptionen, von neopositivistischen gar nicht zu sprechen, sich fast als Krönung der wissenschaftlichen Erklärung des geistigen Lebens des Menschen darstellten. Immer mehr Psychologen, besonders der jungen Wissenschaftlergeneration, wenden sich dem Marxismus als der Philosophie zu, die als einzige dem theoretisch orientierten, wie auch dem experimentell tätigen Psychologen ein folgerichtiges und wahrhaft materialistisches Herangehen an die Untersuchung der psychischen Prozesse und Erscheinungen gestattet. Besonders wichtig ist dabei, daß die Verbreitung des Marxismus in der gegenwärtigen westlichen Psychologie nicht nur mit der konkreten wissenschaftlichen, sondern auch mit der allgemeinen weltanschaulichen und politischen Orientierung der Wissenschaftler, die sich in ihren Arbeiten auf den Marxismus stützen, verbunden ist. Der sich in der westlichen psychologischen Wissenschaft vollziehende Prozeß der verschärften Abgrenzung zwischen der überlebten idealistischen und neopositivistischen Psychologie einerseits und der „jungen“ Psychologie, der marxistischen (bzw. sich zumindest auf den Marxismus orientierenden) andererseits, ist jetzt besonders deutlich sichtbar. Dieser Prozeß geht untrennbar von der sich mehr und mehr offenbarenden theoretischen Haltlosigkeit der Richtungen, die in der gegenwärtigen bürgerlichen, vor allem amerikanischen Psychologie vorherrschen, vor sich. Man braucht nur auf die scharfe Kritik zu verweisen, die das oft erwähnte Buch von Skinner (1971) hervorrief, in dem die politisch reaktionäre Ideologie der behavioristischen Konzeption offen zutage trat. Große methodologische Bedeutung haben die kürzlich vorgebrachten Einwände gegen Versuche der Zurückführung des Psychischen auf das Physiologische und seine physikalische Interpretation. Die Frage wird nunmehr so gestellt: Wenn die idealistischen Anschauungen offen zu verwerfen sind, was kann dann dem Re-||6|duktionismus entgegengesetzt werden? Die einzig hier mögliche Alternative ist der dialektische Materialismus, lesen wir auf den Seiten einer der letzten Nummern der internationalen Zeitschrift „Cognition“ (Rose und Rose 1973, S. 479). Die Bestrebung zum Aufbau einer Psychologie auf marxistischer Grundlage tritt gegenwärtig in vielen kapitalistischen Ländern auf. Leider wird auf diese sich ständig vergrößernde Bewegung in unserer psychologischen Literatur kaum eingegangen. Eine Ausnahme bilden lediglich die bekannten Arbeiten der französischen Autoren Politzer sowie Wallon und seiner Schule. Aber auch hier gibt es große Lücken. So wurde die Monographie von Sève „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit“, der eine wichtige methodologische Bedeutung für die Psychologie zukommt, nicht analysiert. Sie kam 1969 heraus und danach dreimal in überarbeiteter Fassung in Frankreich und in einigen Übersetzungen. Der sowjetische Leser ist unzureichend mit psychologischen Arbeiten vertraut, die in Italien, England und anderen kapitalistischen Ländern publiziert werden und sich auf den Marxismus stützen. Besonders wenig bekannt sind bei uns Arbeiten, die von Psychologen der BRD und Westberlins von der Position des Marxismus geschrieben wurden. Diese Tatsache veranlaßte uns zu einer kurzen Analyse eines der jüngsten Bücher zur Psychologie der sinnlichen Erkenntnis, das in Westberlin erschien. Es ist bemerkenswert, daß in Westberlin das Interesse an der marxistischen, vor allem der sowjetischen psychologischen Literatur in der Gegenwart erheblich wächst. Allein im Verlaufe der letzten drei Jahre wurden in der BRD zwei Bände ausgewählter Arbeiten sowjetischer Psychologen (vgl. Kussmann 1971) und Psychophysiologen (vgl. Kussmann und Kölling 1971), ein umfangreicher analysierender Überblick zur sowjetischen Psychologie (Kussmann 1974), Bücher zur Rolle der Sprache beim Lernen (Keseling u. a. 1974), zur Theorie der Herausbildung der geistigen Handlungen von Galperin (Lompscher 1973), Übersetzungen von Büchern Wygotskis (1971), Leontjews (1973) und Petrowskis (1973) herausgegeben. Außerdem erschien in diesem Zeitraum in der BRD eine Reihe Monographien, Sammelbände und Artikel, die den sich verstärkenden Einfluß des Marxismus-Leninismus auf die psychologische Wissenschaft in diesem Land widerspiegeln (Haug 1972, Holzkamp 1972, 1973 und Holzkamp-Osterkamp 1975).

Im Jahre 1970 entbrannte am Psychologischen Institut der Westberliner Universität ein heftiger Konflikt zwischen progressiven Vertretern der Psychologie, die mit der Studentenbewegung verbunden waren, und dem konservativ eingestellten Teil der Professoren. Als Resultat vollzog sich damals eine Teilung des Instituts für Psychologie. Vor dem neu gebildeten Institut der Freien Universität Westberlins standen Aufgaben der ideologischen Auseinandersetzung und der Kritik der bürgerlichen Psychologie (Holzkamp 1972) sowie hinsichtlich der Entwicklung des marxistischen Herangehens an die Psychologie.

Man begann mit der Herausgabe von allgemeinverständlicher Psychologieliteratur und von Lehrbüchern zur marxistischen Psychologie im Rahmen einer Reihe gesellschaftspolitischer Literatur. Die erste größere psychologische Arbeit dieser Serie war das Buch von Holzkamp (1973) „Sinnliche Erkenntnis — Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung“. Dem Wesen nach stellt es ein theoretisches Manifest der Westberliner Gruppe marxistischer Psychologen dar. Vor kurzem kam die zweite Ausgabe in dieser Serie heraus, ein kleines Buch von Ulmann „Sprache und Wahrnehmung“ (1975). Das allgemeine Herangehen Holzkamps an die Psychologie wird dadurch charakterisiert, daß er die Not||7|wendigkeit einer ernsthaften Untersuchung des Zustandes der psychologischen Wissenschaft selbst, ihrer Wurzeln und sozialen Funktion, die sie erfüllt, hervorhebt. Bei der Analyse des theoretischen Zustandes der modernen bürgerlichen Psychologie verweist er darauf, daß sie sich in einer methodologischen Sackgasse befindet. Die marxistischen Psychologen dürften allerdings nicht bei ihrer harten Kritik stehenbleiben (was unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Aufgaben besonders wichtig sei, bemerkt der Autor), sondern sie müssen ihre entgegengesetzten Ansichten entwickeln, die sich aus der marxistischen Lehre ergeben. Die wichtigste Aufgabe besteht nach Meinung des Autors darin, daß in der Psychologie das historische Verständnis ihres Gegenstands realisiert wird. Die Wahrnehmung und ebenso z. B. auch die Bedürfnisse müssen als Produkte des historischen Werdens und der Entwicklung betrachtet werden, die unter den Bedingungen der realen Lebensbeziehungen und Verhältnisse des Subjekts vor sich geht.

Ein solches historisches Herangehen muß nach den Worten des Autors als „wissenschaftsbezogene“ und „gegenstandsbezogene Analyse“ vollzogen werden, die vom Psychologen die „methodische Konkretisierung des historisch-materialistischen Forschungsverfahrens“ erfordert (Holzkamp 1973, S. 49). Holzkamp (1973, S. 52) hält für eine Schlüsselfrage „die Frage nach der Vermittlung zwischen der individualgeschichtlichen Entwicklung des Menschen und der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung“.

Es geht darum, daß die psychologische Erforschung des „natürlichen“ Menschen, wie er sich ontogenetisch gestaltet, nicht isoliert von dem gesellschaftlich-historischen Prozeß vorgenommen wird. „Das empirische Faktum, welches zum Thema psychologischer Forschung werden muß“, sagt der Autor, „ist der gesellschaftliche Mensch in seiner wirklichen Lebenstätigkeit“ (S. 53). Und dies bedeutet mit Notwendigkeit, klassenmäßig an die Psychologie des Menschen heranzugehen, weil der gesellschaftliche Mensch nicht an sich existiert, außerhalb der konkreten (in dem Fall meint der Autor die bürgerliche) Gesellschaft. Auf diesen Gedanken kommt der Autor in seinem Buch des öfteren zurück.

Warum wählt der Autor aber gerade das Problem der Wahrnehmung? Er argumentiert hierzu mit zwei Überlegungen. Erstens mit der Tatsache, daß Fragen der sinnlichen Erkenntnis in der marxistischen Psychologie einen sehr wichtigen Platz einnehmen, und zweitens damit, daß das Studium der sinnlichen Wahrnehmung eine Voraussetzung für das Verständnis der menschlichen Praxis ist und dadurch auch zu ihrer Veränderung.

Die Untersuchung der Wahrnehmung beginnt der Autor mit dem Versuch, einen Kreis von Erscheinungen herauszugliedern und zu beschreiben, die zur Wahrnehmung in Beziehung stehen. Er bezeichnet eine solche Beschreibung von Erscheinungen, die Gegenstand der Untersuchungen sind, als Phänographie — ein Terminus, der in der sowjetischen Literatur keine Verwendung findet. Darunter wird eine beschreibende Interpretation der menschlichen Lebensaktivität verstanden: Das ist Phänomenologie, die aber keinesfalls zurückzuführen ist in den Rang einer Grundmethode wie bei Husserl oder Scheler. Der Autor orientiert keineswegs nur auf die einseitige Betrachtung der Widerspiegelung in der Wahrnehmung. Grundlage der Analyse der sinnlichen Erscheinungen ist die Vorstellung von der Gegenständlichkeit der Wahrnehmung und die Auffassung der Wahrnehmung als Tätigkeit. Die phänographische Beschreibung der Wahrnehmung erfaßt einen bestimmenden Aspekt, nämlich die Wahrnehmung als „Beobachtungstätigkeit“, indem sie in Beziehung mit der menschlichen Praxis betrachtet wird. Wahrnehmung ist bewußte ||8| Widerspiegelung stofflich-sinnlich vorhandener Umwelt und keine illusionäre und gar unvorstellbare oder symbolisierende. Dieses Merkmal unterscheidet die Wahrnehmungsprozesse von den eigentlichen Denkprozessen.

Die phänographische Analyse, wie sie von Holzkamp vorgenommen wird, markiert eine sehr wesentliche Tendenz in der Aufdeckung der lebendigen sozialen Funktion der Wahrnehmung, die nicht in vitro, sondern in ihrer realen Breite und in ihrem ganzen Reichtum genommen wird. Im Resultat verschieben sich die Akzente der Forschung auf den gegenständlichen Inhalt der Wahrnehmung, ihre Bedeutung. Hierbei ergeben sich einige Verluste in der Analyse der prozessualen Seite der Wahrnehmung, z. B. hinsichtlich der Rolle von motorischen Gliedern. Anscheinend besteht die Absicht des Autors darin, in die materialistische Auffassung zur Wahrnehmung nicht nur Untersuchungsergebnisse, die Abstraktionen der Form, der Größe, der Farbe oder der Entfernung der Objekte beinhalten, einzubeziehen, sondern die Untersuchung der Wahrnehmung der Objekte in ihrer Ganzheit, in der sie existieren, in jener realen vielfältigen Welt, in der wir leben, vorzunehmen. Die Phänographie dient dafür als erster vorbereitender Schritt. Diese Haltung vertritt der Autor auch in dem Abschnitt, der dem naturhistorischen Werden der Wahrnehmung gewidmet ist.

Unter Bewahrung des allgemeinen Entwicklungsschemas — von den ursprünglichen Formen der Reizbarkeit zu den Subjekt-Objekt-Prozessen der menschlichen Erkenntnistätigkeit — bezieht er in dieses ein neues ökologisches Thema ein: die Wahrnehmung nicht nur von Objekten wie z. B. Nahrung, sondern auch von anderen Organismen.

„Die phylogenetische Entwicklung der Rezeptor-Systeme ist also nicht nur durch die überlebensfördernden Orientierungsanforderungen einer jeweils besonderen Umwelt bedingt, sondern auch spezieller durch die überlebensfördernden Kommunikationsanforderungen dieser Umwelt“, schlußfolgert der Autor (S. 77), d. h., er betont die Notwendigkeit, mit anderen Organismen zu kommunizieren.

Der Gedanke zur Rolle der Wahrnehmung der kommunikativen Prozesse in der Phylogenese findet seine Rechtfertigung und Vollendung in der Analyse der gesellschaftlich-historischen Genesis der spezifisch menschlichen Charakteristika der Wahrnehmung. Die Hauptthese, die hier von Holzkamp aufgestellt wurde, besteht darin, daß nur in den Anfangsetappen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft solche Wahrnehmungsfunktionen auftauchen, ohne die es nicht möglich wäre, sich die gegenständlich-gesellschaftliche Arbeit in ihren einfachsten Formen vorzustellen. Der Autor nennt als notwendiges Moment der spezifisch menschlichen Wahrnehmung das „Verhältnis zum Allgemeinen“, das, was auch für andere Menschen existiert, indem es das Auftauchen dieser Beziehung mit der Produktion und dem gesellschaftlichen Gebrauch der Instrumente verbindet. Der Autor hebt hervor, daß die gemeinsame Arbeit der Menschen vor allem Kooperation ist, verbunden mit der Differenzierung der Ziele und Funktionen.

Das wesentliche Merkmal der Arbeitsteilung ist nach Holzkamp die Unabhängigkeit des kooperativen Charakters der Arbeitsteilung von der räumlich-zeitlichen Nähe der Teilnehmer dieser Tätigkeit. Hier führen die Gedankengänge des Autors den Leser erneut auf das Thema Kommunikation zurück.

„Interpersonale Wahrnehmung ist demnach von allem Anfang an keine bloße soziale Beziehung zwischen zwei Menschen, sondern impliziert ein allgemeines gesellschaftliches Verhältnis, da sie vermittelt ist über die Gegenstandsbedeutungen von Produkten gesellschaftlicher Arbeit“ (S. 142).

||9| Holzkamp schlägt weiter vor, Fertigkeit und Fähigkeit als verschiedene Niveaus der möglichen Tätigkeit zu unterscheiden. Der Hauptgedanke des Autors besteht darin, daß in jedem gegebenen Moment das System der gesellschaftlich notwendigen „Fertigkeiten“ und „Fähigkeiten“ von der Spezifik und dem Niveau der vermittelnden gegenständlichen Bedeutungen und den Strukturen der kooperativen Tätigkeit und der Arbeitsteilung der gegebenen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung abhängt. Die Fähigkeiten, Fertigkeiten u. a. gehen immer in das Verhältnis der interpersonalen Wahrnehmung als spezifische Form kommunikativer Orientierung der Menschen, die an der Kooperation beteiligt sind, ein. „Gegenstandsbedeutungen sachlicher und personaler Art haben den Charakter der gegenseitigen Bedeutungsverweisung von Menschen auf Sachen, von Sachen auf Menschen, von Beziehungen zwischen Menschen auf Beziehungen zwischen Sachen, von Beziehungen zwischen Sachen auf Beziehungen zwischen Menschen; solche objektiven Bedeutungsstrukturen sind der allgemeinste orientierungsrelevante Aspekt der Produktivkraft — Entwicklung und dabei zwischen Menschen eingegangenen Produktionsverhältnissen“ (S. 146). Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Genesis der sprachlichen Systeme meint der Autor, daß die Arbeit dem Menschen gestattet, die sinnliche Wahrnehmung und die gegenständlichen Bedeutungen zu verbinden. Wesentlich sind auch die Überlegungen von Holzkamp zum Auftauchen von sprachlichen Symbolen als neue Grundlage für die kommunikative Orientierung. Überhaupt ist der Teil des Buches, in dem die Sprache analysiert wird, nicht nur von großem Interesse für den Philosophen und Psychologen, sondern auch für den Linguisten. Leider gestattet es der begrenzte Raum nicht, darauf näher einzugehen. Eines der Kapitel des Buches von Holzkamp trägt den Titel „Gnoseologische Implikationen der historischen Rekonstruktion biologisch-organismischer und allgemeinster spezifisch menschlicher Wahrnehmungscharakteristika“. Hier werden eine Reihe methodologischer Probleme der psychologischen Theorie behandelt, besonders das Prinzip, das in der sowjetischen Psychologie unter der Bezeichnung „Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit“ bekannt ist, sowie erkenntnistheoretische Probleme von Subjekt, Objekt u. a. In diesem Zusammenhang wirft Holzkamp das Problem der Zweiheit und sogar der Dreiheit von Bedeutungen auf. Der Autor entwickelt die These von der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen sprachlichen (symbolischen) Bedeutungen und „sachlichen Gegenstandsbedeutungen“. Diese Notwendigkeit ergibt sich daraus, daß die Gegenstände selbst in ihrer Stofflichkeit sinnlich entdeckt werden und dabei auch ihre Bedeutung erhalten, d. h., daß ihre gesellschaftliche Verwendung in Handlungen, in der Praxis realisiert wird und sich nicht nur in verbalen Erklärungen manifestiert. Indem er häufig sowjetische Autoren zitiert, sieht Holzkamp die Begrenztheit der Konzeption Leontjews darin, daß Leontjew diesen Unterschied nicht macht. „Leontjew verwendet den Begriff der ,Bedeutung’ nur im Sinne von sprachlich-symbolischer Bedeutung, ohne die Besonderheit von Gegenstandsbedeutungen in ihrem Verhältnis zu den Symbolbedeutungen adäquat gedanklich er erfassen“ (S. 169, Fußnote). Natürlich stimmt es, daß das Kind die menschliche Funktion, z. B. die des Löffels, zuerst in der praktischen Bedeutung „Löffel“ besitzt. Ist nicht aber zu fragen, ob diese Abfolge und diese Übergänge von den gegenständlichen Bedeutungen zu den sprachlichen in den folgenden Etappen der ontogenetischen Entwicklung fortbestehen?

Hinsichtlich abstrakter Inhaltsbedeutungen kann das nur unter den Bedingungen behauptet werden, wenn der praktische Umgang äußerst weit gesehen wird, d. h., ||10| wenn man ganz allgemein von Tätigkeit spricht, in die die Beziehungen zwischen den Individuen und der Gesellschaft, darunter auch die theoretische Denktätigkeit, eingehen. Und dann taucht die Frage auf, ob mit Notwendigkeit beide Arten von Bedeutungen — die gegenständliche und sprachliche — existieren müssen. Holzkamp besteht darauf. „Das Kind kann in dem Maße begreifen, was mit bestimmten Symbolbedeutungen, die ihm in seiner Umwelt angeboten werden, gemeint ist, wie es die jeweils zugeordneten Gegenstandsbedeutungen in praktischer Tätigkeit angeeignet hat“ (S. 193).

Kommunikation ist nach Holzkamp allgemein eine solche Form menschlicher Kooperation, die durch gegenständliche und Symbolbedeutungen vermittelt wird.

Schließlich wird von Holzkamp eine dritte Kategorie von Bedeutungen eingeführt: personale Gegenstandsbedeutungen. Diese personalen Bedeutungen stehen in Wechselbeziehung mit den gegenständlich-praktischen Bedeutungen. „Bedeutungswahrnehmung ist immer Erfassung der Vermitteltheit zwischen sachlichen und personalen Gegenstandsbedeutungen, wobei der Wahrnehmende als solcher in das gesellschaftliche Verhältnis kooperativ-arbeitsteiliger Produktion einbezogen ist“ (S. 197). Diese These wird auch auf die Wahrnehmung des Menschen durch den Menschen ausgeweitet, insofern der andere Mensch für den Wahrnehmenden als Wesen existiert, das in der Welt der menschlichen Beziehungen durch seine zielgerichtete Tätigkeit, durch die Aneignungsprozesse teilnimmt. Die Analyse der Struktur von Bedeutungen setzt Holzkamp in Beziehung zu Besonderheiten in der Wahrnehmung des Menschen, der in der bürgerlichen Gesellschaft lebt. Das Grundproblem sieht der Autor darin, daß die Widersprüchlichkeit der Gegenstandsbedeutungen durch die sozialen Widersprüche geschaffen wird, und von daher auch die klassenmäßigen Besonderheiten der Wahrnehmung der Welt bestimmt sind. Er kritisiert berechtigt die traditionelle Psychologie, die die psychischen Prozesse abstrakt, ohne Bezug zum konkret-historischen Subjekt, losgelöst von den sozialen Entwicklungsbedingungen betrachtet. Es ist eben nicht ausreichend, die menschliche Psyche ganz allgemein von der Seite ihres gesellschaftlichen Wesens zu betrachten.

Dies bezieht sich insbesondere auf das Studium des Prozesses der Aneignung der gesellschaftlich-historischen Erfahrungen, die sich in einem System von Bedeutungen, von Symbolbedeutungen darstellen. In der bürgerlichen Gesellschaft trägt dieser Prozeß die Widersprüchlichkeit von Gegenstandsbedeutungen in sich, die für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch ist.

Sowjetische psychologische Untersuchungen zur menschlichen Aneignung unter sozialistischen Gesellschaftsbedingungen können von solchen Umständen abstrahieren.

Unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die in antagonistische Klassen geteilt ist, treten diese Besonderheiten in ganzer Schärfe auf. Hier kann das Problem der Inadäquatheit der Wahrnehmung der menschlichen Welt durch die Individuen auf keinen Fall umgangen werden. Ihre wissenschaftliche psychologische Analyse muß der Praxis der Umgestaltung dieser Welt dienen. Einzelne Thesen von Holzkamp müssen mit Vorsicht betrachtet werden, und sein Buch ruft viele ernsthafte theoretische Einwände hervor. Aber das von ihm aufgeworfene Problem kann nicht einfach übergangen werden.

Die wesentliche Frage zielt darauf ab, ob das klassenmäßige Herangehen in der Psychologie beschränkt ist auf die theoretischen Konzeptionen und die ideologische ||11| Funktion, oder ob dieses Herangehen auch das Studium von konkreten Besonderheiten des Sehens der Welt durch die Individuen in Abhängigkeit von den sozialen Beziehungen der jeweiligen Gesellschaft und das Studium der Verarbeitungsprozesse dieser Wahrnehmung einschließt.

Dieses Problem steht vor der Allgemeinen Psychologie und nicht nur vor den sozialpsychologischen und soziologischen Forschungen, worin aber auch seine Kompliziertheit ersichtlich wird.

Man kann feststellen, daß der Autor einen interessanten, wenn auch in mancher Beziehung subjektiv gefärbten Abriß zu Besonderheiten der menschlichen Wahrnehmung in der bürgerlichen Gesellschaft gibt, die er vor allem mit den dieser Gesellschaft eigenen Merkmalen der Arbeit und Kooperation in Verbindung bringt. Im Vordergrund stehen dabei gnoseologische Voraussetzungen von funktionellen Besonderheiten der Wahrnehmung. Im Schlußkapitel seines Buches analysiert der Autor verschiedene Faktoren der Inadäquatheit der Wahrnehmung wiederum hinsichtlich ihrer konkret-sozialen Bedingtheit.

Interessant ist hier der Abschnitt, in dem das „orientierende“ und „begreifende“ Verhältnis zur Welt gegenübergestellt werden. Ersteres ist charakteristisch für den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft und findet nach Ansicht des Autors seine Widerspiegelung in einseitigen anschaulichen Konzeptionen der Wahrnehmung, insbesondere in der Gestalttheorie. Holzkamp analysiert hierzu auch verschiedene Variationen der „kognitiven Dissonanz“ in der Sozialpsychologie. Alles das führt zu dem Resultat „des fraglosen Sich-zurecht-Findens in einer unbegriffenen Wirklichkeit“ (S. 344).

Die alternative Lösung besteht keineswegs einfach in der Wahrnehmung der Problemhaftigkeit von Situationen.

Die Sache ist die, daß das „problemlösende“ Herangehen in der Psychologie an die Stelle der Aufdeckung von Strukturen der realen Wirklichkeit Teilprobleme setzt, die angeblich durch sauberes Denken zu lösen seien. Bei einem solchen Herangehen, schreibt Holzkamp, geraten wir in die Klauen des Pragmatismus, weil anstatt der realen inneren Probleme an das Äußere appelliert wird, was bei weitem nicht unbedingt den entsprechenden realen wesenseigenen Widersprüchen adäquat ist. Das ist für ihn der Ausgangspunkt für eine scharfe kritische Einschätzung der modernen Psychologie, die mit dem „problem solving“ verbunden ist. Als reale Alternative zur bloß „orientierenden Erkenntnistätigkeit“ wird von Holzkamp die „begreifende Erkenntnistätigkeit“ postuliert, die mit der „kritischen Praxis“ verknüpft ist.

Hier, wie auch in den anderen Kapiteln, stützt sich der Autor auf Arbeiten von Marx und von sowjetischen Philosophen, die sich mit dem Wesen der gesellschaftlichen Praxis im marxistisch-leninistischen Sinne befaßten.

Wir können in diesem Artikel selbstverständlich keine vollständige Darstellung des Inhalts der Monographie von Holzkamp geben. Unsere Aufgabe besteht darin, die Aufmerksamkeit auf diese unbestreitbar außergewöhnliche Erscheinung in der westlichen psychologischen Literatur zu lenken.

Man kann sich mit den Ideen des Autors einverstanden oder nicht einverstanden erklären, aber unbeachtet darf sein Buch nicht bleiben, weil die aufgeworfenen theoretischen Probleme aktuell und mit aller Schärfe formuliert werden. Wie jede theoretische Untersuchung ist natürlich auch diese Arbeit noch in philosophischer und soziologischer Hinsicht detailliert zu analysieren, wobei selbstverständlich die Notwendigkeit bestehen bleibt, ihre Wertigkeit als psychologische ||12| Arbeit einzuschätzen. Obwohl viele für die Psychologie nichttraditionelle Probleme eingeführt werden, kann man hier nicht von dem Bestreben sprechen, eine irgendwie „anders“ geartete psychologische Wissenschaft zu schaffen, ein Vorwurf, der, nebenbei gesagt, von einigen Psychologen an die Adresse von Sève gerichtet wird.

In der Situation der sich verschärfenden theoretischen Krise in der westlichen Psychologie, besonders nach der vorausgegangenen Selbstentlarvung des Behaviorismus und dem Scheitern der reduktionistischen Konzeptionen, gewinnt die Idee der Hinwendung zum historischen Materialismus als einzig mögliche Grundlage für den Umbau des Systems psychologischen Wissens für immer mehr Psychologen verschiedener Länder an Anziehungskraft. Dieser Prozeß, der uns selbst angestrengtes Studium abfordert, vollzieht sich jetzt auch in der BRD. Zusammenfassend möchten wir feststellen, daß das Buch von Holzkamp nicht wenige und nicht geringe Unzulänglichkeiten besitzt:

– eine gewisse Unterbewertung der progressiven Errungenschaften der Psychologie,

– mangelnde Bezugnahme zum empirischen Material,

– Verkomplizierung hinsichtlich der Verwendung von Termini,

– äußerst schwieriger Stil der Darstellung.

Aber das ist natürlich nicht das Wichtigste, das Wesentliche besteht darin, daß das Buch von einem marxistischen Psychologen geschrieben wurde, der als aktiver Kämpfer für die materialistische Psychologie auftritt.

Literatur

Haug, F.: Kritik der Rollentheorie, Frankfurt (Main) 1972 Holzkamp, K.: Kritische Psychologie, Frankfurt (Main) 1972

Holzkamp, K.: Sinnliche Erkenntnis — Historischer Ursprung und gesellschaftliche

Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt (Main) 1973 Holzkamp-Osterkamp, U.: Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung I,

Frankfurt/New York 1975 Keseling, G.,  u. a.: Sprachlernen in der Schule, Köln 1974 Kussmann, T. (Hrsg.): Bewußtsein und Handlung, Bern/Stuttgart/Wien 1971 Kussmann, T.: Sowjetische Psychologie auf der Suche nach der Methode, Bern/Stuttgart/Wien 1974

Küssmann, T., und H. Kölling (Hrsg.): Biologie und Verhalten, Bern/Stuttgart/ Wien 1971

Le Ny, J. F.: Une autre science psychologique? La Pensee 147, 1969

Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen; mit einer Einführung

von K. Holzkamp und V. Schurig, Frankfurt (Main) 1973 Lompscher, J.: Sowjetische Beiträge zur Lerntheorie. Die Schule P. J. Galperins, Köln 1973

Petrowski, A. W. (Hrsg.): Allgemeine Psychologie, Köln 1973

Rose, S., and H. Rose: Dorit adjust your mind, there is fool in reality. Cognition 4, 1973

Sève, L.: Marxisme et theorie de la personnalite, Paris 1969; Marxismus und Theorie

der Persönlichkeit, Berlin/Frankfurt (Main) 1972 Skinner, B. F.: Beyond freedom and dignity, New York 1971 Ulmann, G.: Sprache und Wahrnehmung, Frankfurt (Main) 1975 Wygotski, L. S.: Denken und Sprechen, Frankfurt (Main) 1971

[1] Nachfolgend übernehmen wir einen Beitrag der beiden bekannten Moskauer Autoren aus Woprossy Psichologii 4, 1975. Für die Übersetzung danken wir Herrn Dr. E. Köster, Berlin.

 

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Online-Publikationen und getaggt als , . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.