Einstieg: Was ist Kritische Psychologie?

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE — Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011


Stefan Meretz

Auf dem »Psycho-Markt« bewerben sich viele Theorien um den Erklär-Award für die Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« Die Kritische Psychologie gibt eine bemerkenswerte Antwort: Der Mensch ist das, was er geworden ist — und was er werden kann. Diese Antwort hat es in sich. Der folgende Text beschreibt einiges von dem, was die Kritische Psychologie ausmacht.

Wenn es um Menschen geht, dann geht es um uns, genauer gesagt: um »je mich«, also um alle »Ichs« dieser Welt. Doch was haben die individuellen Menschen gemeinsam, was macht sie als Menschen aus? Bei der Beantwortung dieser Frage kann man in eine Menge Fallen tappen.

Ontologisierungsfalle

Eine Möglichkeit besteht darin, zu beschreiben, wie sich Menschen verhalten, um dann diese Beschreibungen zu verallgemeinern. Woher weiß ich jedoch, dass die Verallgemeinerung zutreffend ist? Wie kann ich entscheiden, was tatsächlich allen Menschen zukommt und was nur Ausdruck ihrer besonderen Lebenssituation ist?

Verallgemeinerungen wie »Menschen sind Nutzen-Maximierer« oder » Menschen sind egoistisch« sind Ontologisierungen: Beobachtungen, wie sich Menschen heute verhalten, werden zu generellen Aussagen darüber umgedeutet, wie Menschen von Natur aus seien (Ontologie: Lehre vom Sein). Solche Seinszuschreibungen sagen in Wahrheit mehr über die gegenwärtigen Verhältnisse aus, als über Menschen im Allgemeinen. So erkennen wir im »Nutzen-Maximierer« die Ideologie des »homo oeconomicus« (»Wirtschaftsmensch«), der den Kern der neoliberalen Ideologie ausmacht. Und auch der »Egoismus« spiegelt Verhältnisse wider, in denen sich die Einen auf Kosten der Anderen durchsetzen.

Determinismusfalle

Wenn Verallgemeinerungen aufgrund von Beobachtungen nicht sinnvoll sind, könnte man vielleicht dem naturwissenschaftlichen Modell folgen: Ich setze Menschen bestimmten Bedingungen aus und registriere, wie sie reagieren. Statistische Bereinigungsrechnungen erlauben mir anschließend Voraussagen darüber, wie sich Menschen in bestimmten Situationen wahrscheinlich verhalten werden.

Einer solchen Sichtweise liegt die Annahme zu Grunde, dass Menschen durch die Bedingungen determiniert sind. Abweichungen, die sich in unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten ausdrücken, werden damit erklärt, dass sich nicht alle bedingenden Faktoren gleichzeitig im Experiment abbilden ließen. Doch die Annahme, dass die Bedingungen das Verhalten determinieren, ist damit nicht aufgeweicht. Sie wird sowohl von behavioristischen (Reiz-Reaktions-) Ansätzen wie von kognitivistischen (Input-Output-) Ansätzen geteilt.

In der deterministischen Grundannahme spiegeln sich sowohl das naturwissenschaftliche Modell, das von einem festen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ausgeht, als auch gesellschaftliche Verhältnisse wider, in denen Menschen tatsächlich zu Objekten politischer oder ökonomischer Entscheidungen gemacht werden. Zu kritisieren ist nicht nur der Herrschaftscharakter, sondern die deterministische Grundannahme als solche ist zu verwerfen.

Biologismusfalle

Wenn die Annahme einer bloßen Außendeterminationen am wirklichen Menschen vorbei geht, sind wir nicht aber durch unsere biotisch-natürliche Beschaffenheit bestimmt? Determinieren nicht etwa unsere Gene, was aus uns wird?

Der oben beschriebenen Determinismusfalle entkommt man nicht, wenn man die Außen- durch eine Art Innendetermination ersetzt. Genau diese Ansätze sind in letzter Zeit aber populär geworden, wozu insbesondere medienpräsente Vertreter der Gen- und Hirnforschung beigetragen haben. Dabei wurden philosophische Thesen unter Berufung auf die Hirnforschung sogar dahingehend zugespitzt, dass Menschen angeblich gar keinen freien Willen hätten, sondern sich diesen nur einbildeten.

Kritische Psychologie

Obwohl sich die Liste der Fallen leicht verlängern ließe, soll es mit diesen Beispielen genug sein. Die Kritische Psychologie kritisiert die skizzierten Ansätze als herrschaftsförmig und dem Menschen völlig unangemessen. Sie entwickelt einen Begriff vom gesellschaftlichen Menschen, der auf die Lebenssituation im Kapitalismus bezogen ist und mit dem jede und jeder ihre bzw. seine eigene Situation analysieren und verstehen kann. Kritische Psychologie ist Psychologie vom Standpunkt erster Person, daher wird sie auch Subjektwissenschaft genannt. Sie handelt von »je mir«, also von »mir« in einer Weise, die mich nicht als isoliertes Privatindividuum behandelt, sondern als Menschen, der mit anderen zusammen die Bedingungen verändern kann, unter denen wir leben.

Standpunkt erster Person bedeutet, dass die Welt, so wie je ich sie erlebe, der Ausgangspunkt der Aufklärung meiner Lebenslage ist. Damit sind alle Ansätze zurückgewiesen, die mir von einem Außenstandpunkt verkünden, was mein Problem sei oder sich wie mein Befinden erklären ließe und was ich demzufolge zu tun oder zu lassen habe. Der Subjektstandpunkt als radikale Umkehr des Außenstandpunkts bedeutet, dass nur je ich selbst entscheiden kann, was für mich angemessen ist, wie ich meine Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten oder erweitern kann. Die Analysebegriffe der Kritischen Psychologie dienen dazu, dass je ich mich selbst — mit oder ohne Unterstützung — in die Lage bringe, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und begründet zu nutzen.

Wenn Menschen ihre Lebensbedingungen aktiv verändern können, ist damit faktisch ausgeschlossen, dass Menschen nur Bedingungen unterworfen sind. Die objektiven Bedingungen sind zwar notwendiger Ausgangspunkt des Handelns, doch ich kann mich bewusst zu ihnen verhalten, um diese oder jene Handlungsmöglichkeit zu verwirklichen. Das bedeutet, dass jede Handlung subjektiv begründet ist. Die jeweiligen Gründe in der Perspektive meiner individuellen Lebenslage sind nach kritisch-psychologischer Ansicht Voraussetzung eines sinnvollen Diskurses — sei er nun therapeutisch oder politisch. Der Diskurs kann folglich nur im Begründungs- und nicht im Bedingtheitsmodus stattfinden (vgl. dazu S. 9 und 10).

Gleichwohl bewegen sich unsere Diskurse und Praxen nicht im luftleeren Raum, sondern in einer kapitalistischen Gesellschaft, die unserem gemeinsamen wie je individuellen Handeln eine bestimmte Funktion gibt. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, die — global gesehen — so strukturiert sind, dass die Entwicklung der Einen stets auf Kosten Anderer geht, gibt es individuell grundsätzlich zwei Handlungsrichtungen: Ich kann meine Handlungsfähigkeit unter Akzeptanz dieser Bedingungen behaupten oder ich kann danach streben, meine Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, in dem ich Zugriff auf die Handlungsbedingungen erlange und sie verändere.

Diese beiden grundsätzlichen Handlungsrichtungen — restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit genannt — sind keine persönliche Eigenschaften, die man etwa als eine Art »Status« inne hat oder erreichen kann wie es etwa esoterische Erleuchtungsansätze versprechen. Es sind Verständigungsbegriffe über das, was wir täglich tun. Jede und jeder ist unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen gezwungen, im restriktiven Modus zu handeln, da es nicht möglich ist, individuell und sofort alle herrschaftsförmigen Verhältnisse grundlegend zu ändern. Gleichzeitig ist niemand darauf zurückgeworfen, ausschließlich im restriktiven Modus zu handeln. Vielmehr hat man an jeder Stelle immer auch die Möglichkeit, anders zu handeln und zu denken, um ein Stück mehr Verfügung über die eigenen Angelegenheiten zu bekommen. Die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit bezeichnet also eine Perspektive und keinen Zustand, eine Option, die in kleinen oder großen Schritten die immer vorhandene zweite Möglichkeit sichtbar, denkbar, fühlbar und handelbar machen soll. Das Erweitern der Handlungsmöglichkeiten ist ein Prozess, der perspektivisch darauf abzielt, gesellschaftliche Verhältnisse durchzusetzen, in denen die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Kommunistisches Manifest).

Die Perspektive einer freien Gesellschaft ist nicht die ferne Zukunft nach der Revolution, die mit unseren heutigen Bedingungen nichts zu tun hat, sondern permanente und präsente Option im täglichen Leben. Zwar besitzen die herrschenden Verhältnisse in ihrer Systemlogik eine ungeheure Gewalt und sie legen jedem Einzelnen mit Macht bestimmte Handlungsoptionen nahe, doch es gibt gute Gründe, diese Nahelegungen zu hinterfragen, immer wieder auch zurückzuweisen und nach anderen Möglichkeiten zu suchen. Und diese gibt es immer, so klein sie auch sein mögen!

Denken, Fühlen und Handeln

Die begriffliche Unterscheidung »restriktiv« und »verallgemeinert« auf der Handlungsebene findet sich bei den psychischen Dimensionen der Emotionen, der Motivation und des Denkens wieder. Am Beispiel von interpersonalen Beziehungen sei dies kurz illustriert.

Beziehungen im restriktiven Modus sind Instrumentalbeziehungen: Für je mich sind andere Menschen Instrumente meiner Ziele, Interessen und Bedürfnisse, die ich auf ihre Kosten durchsetze. Diese Form ist nicht nur für andere einschränkend, sondern auch für mich, weil die anderen genauso mich zum Instrument ihrer Interessen machen werden wie ich umgekehrt sie. Eine Abstiegsspirale der Zersetzung menschlicher Beziehungen kommt in Gang, meine »Anstrengungen« schlagen wieder auf mich zurück — ich werde mir selbst zum Feind. Die Tatsache der Selbstschädigung wird verdrängt, verleugnet, umgedeutet und ins Unbewusste abgeschoben.

Die instrumentelle Handlungsweise ist keinesfalls ein »individueller Defekt«, den man individuell »hat« oder »nicht hat«, sondern instrumentelle Beziehungen sind in kapitalistischen Gesellschaften die nahegelegte Beziehungsform. Sie spiegeln den Konkurrenzkampf innerhalb der ökonomischen Verwertungslogik wider, in der sich die Einen auf Kosten der Anderen durchsetzen. Nicht-instrumentelle, solidarische Beziehungen müssen folglich aktiv und bewusst gegen die nahegelegten Formen errungen werden.

Die Alternative zu instrumentellen sind intersubjektive oder kurz: Subjektbeziehungen. Für je mich ist die individuelle Entfaltung anderer Menschen die Voraussetzung für meine eigene Entfaltung. Eine solche inklusive Beziehungsform ist jedoch nur in einer freien Gesellschaft zu haben, in der individuelle Ziele und Wünsche grundsätzlich mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen übereinstimmen. Subjektbeziehungen sind Beziehungen ohne Unterdrückung in einer Gesellschaft ohne Unterdrückung. Sie sind die begründbare Grundlage für wechselseitiges Vertrauen, Angstlosigkeit, Freiheit, Offenheit und Eindeutigkeit in der gegenseitigen Zuwendung.

Auch hier wieder ist wichtig, dass die Realisierung instrumenteller oder intersubjektiver Beziehungsaspekte keine persönliche »Fähigkeit« ist, die man »erwerben« kann, was etwa teure Psychokurse versprechen. Die Begriffe sind Mittel, um Situationen verstehen und verändern zu können. Niemand muss die Nahelegungen individuell übernehmen oder gutheißen. Aber genauso kann auch niemand bloß individuell die gesellschaftliche Instrumentalität als Strukturprinzip loswerden — das geht nur gesellschaftlich.

Alles ganz anders?

Vieles von dem hier Angerissenen ist auch in anderen Ansätzen zu finden. So lehnt die Kritische Psychologie zum Beispiel in Übereinstimmung mit antipädagogischen Ansätzen »Erziehung« als Fremdbestimmung über Kinder ab. Stattdessen unterstützt sie ein Konzept gemeinsamer Entfaltung von Entwicklungsmöglichkeiten. Die theoretische Begründung unterscheidet sich jedoch gravierend. Die Kritische Psychologie verallgemeinert eben nicht nur Erfahrungen, sondern entwickelt wissenschaftlich Begriffe und Konzepte, die — weil sie offengelegt werden — auch kritisierbar sind und weiter gedacht werden können.

Ihre wissenschaftlich begründete Opposition zum Kapitalismus hatte zur Folge, dass die Kritische Psychologie schrittweise aus den etablierten akademischen Strukturen gedrängt wurde. Die Umstellung auf außeruniversitäre Strukturen hat begonnen. Die »Ferienuni Kritische Psychologie« im Sommer 2010 mit 600 TeilnehmerInnen zeigt das große Interesse und das Bedürfnis nach Austausch und Vernetzung. In verschiedenen Städten gibt es bereits Workshops, autonome Seminare und Arbeitsgruppen zur Reflexion von Praxiserfahrungen (vgl. dazu S. 8). Die bisherige Website kritische-psychologie.de soll entsprechend zu einem Community-Portal umgestaltet werden.

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