Marx‘ Affe

Zur anthropologischen Deutung der menschlichen Arbeit und ihrer Kritik aus anthropogenetischer Sicht

Artikel von Jens Brockmeier in Forum Kritische Psychologie 11 (1983).

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Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 9.12.1982 an der Hochschule Hildesheim.

I

Vielleicht ist der anthropologischen Grundfrage »Was ist der Mensch?« schon ein gut Teil ihrer einschüchternden Wirkung genommen, wenn man sie zunächst einmal umformuliert in die Frage »Was ist der Mensch nicht?« So kann man sich an das Naheliegende halten und antworten: »Ein Tier ist er – schon aus Definitionsgründen – nicht!« Damit hat man sich zwar nun von der Bedeutungsschwere shakespearescher Dialoge befreit, aber keineswegs auch schon von allen Problemen. Denn obgleich natürlich jedermann über eine bestimmte Vorstellung vom Tier im Unterschied zum Menschen zu verfügen glaubt, so gibt die genaue wissenschaftliche Abgrenzung einige Schwierigkeiten auf. Ohne einen klaren Begriff dieses Unterschieds muß jede wissenschaftlich begründete anthropologische Aussage jedoch auf unsicheren Füßen stehen.

Doch keine Angst! Ich möchte nun nicht etwa versuchen, eine Liste möglicher analytisch-klassifikatorischer Abgrenzungsmerkmale vorzustellen. Vielmehr möchte ich hier eine bestimmte Herangehensweise an dieses Problem diskutieren, die, um es vorweg zusammenzufassen, daraufhin abzielt, anthropologische Fragen vor allem anthropogenetisch zu begreifen. Was heißt das? Das heißt, daß die Antworten auf die Frage nach dem, was der Mensch sei (womit sich im Rahmen der traditionellen Philosophie eben die Anthropologie, die »Lehre vom Menschen« befaßte), zunächst einmal dort zu suchen sind, wo der Mensch das, was er ist, geworden ist, also in seiner natur- und gesellschaftsgeschichtlichen Genese. Die Anthropogenese bezeichnet so den Prozeß der phylogenetischen, also stammesgeschichtlich-biologischen, und den Prozeß der gesellschaftsgeschichtlichen Entstehung und Entwicklung des Menschen, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, von dem an wir sagen können: Es gibt ihn nun, den Menschen, als ein gesellschaftliches Wesen, als ein ökonomisches und politisches Subjekt. Die Anthropogenese umfaßt also eigentlich nur die Vorgeschichte des Menschen. Sie endet dort, wo der Mensch gewissermaßen in die Gesellschaft entlassen wird, in der individuellen Lebensgeschichte vielleicht vergleichbar der Konfirmation oder Kommunion, oder, profaner, dem Schul- oder Hochschulabschluß.

Anthropologische Fragen aus anthropogenetischer Sicht anzugehen heißt, sich zunächst auf die Ergebnisse der Einzelwissenschaften einzulassen, die hier thematisch bewandert sind. Dies wohl weniger, weil sie die alte Weisheit der Philosophie berücksichtigen wollen, daß sich das Wesen einer Sache am besten über die Untersuchung ihres Gewesenseins erschließt, sondern vor allem darum, weil die jeweils innere Systematik ihres Problembereichs von sich aus ein historisch-genetisches Vorgehen nahelegt. Die Untersuchungen der Psychologie und der Geschichte, der Biologie und der Ökonomie, der Kulturwissenschaften und der Neurophysiologie lassen heute eine Anthropologie geradezu zum Anachronismus werden, die sich als Lehre vom Menschen »an sich«, unabhängig von seinem ökologischen, sozialen und geschichtlichen Wirkzusammenhang, versteht.

Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß es in vielen dieser Einzelwissenschaften ja selbst wiederum bestimmte anthropologische Annahmen gibt, die ihre jeweilige Problemsicht von vornherein prägen. So gibt es in einigen traditionellen Human- und Biowissenschaften gar nicht das wissenschaftliche Problem eines Unterschieds von Mensch und Tier. Die klassisch behavioristische Psychologie z.B. geht allein von einem Unterschied zwischen verschiedenen Komplexitätsstufen von Reiz-Reaktionszusammenhängen aus. Neuere kognitionspsychologische Ansätze sehen allein quantitative Abstufungen der Informationsverdichtung und -vermittlung, und für viele Neurophysiologen ist durch eine bestimmte Zunahme des Cerebralisierungsgrades die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier angezeigt.

Dennoch lassen nicht zuletzt die besonderen kulturellen und sozialen Leistungen des Menschen keinen Zweifel an seiner qualitativen Eigenart gegenüber anderen Lebewesen. Doch worin ist diese Eigenart begründet? ‚Im Geist des Menschen, in seinem Bewußtsein, in seinem einzigartig vernunftbegabten Wesen!‘ – so etwa lautete die klassisch idealistische Antwort auf diese Frage. Doch u.a. auch die Ergebnisse der historischen Wissenschaften wie Paläontologie und Archäologie haben dazu beigetragen, daß man dies heute meist anders sieht. So scheint vielerorts (gerade auch in diesen Disziplinen) unbestritten, daß dem Menschen nicht etwa eine bestimmte geistige Qualität oder eine intellektuelle Anlage eigen ist, die den Grund für die Entwicklung seiner einzigartigen Gattungsspezifik abgibt. Nicht in seinem Bewußtsein oder etwa in seinen hochentwickelten sozialen Kommunikationssystemen ist der Grund für seinen Unterschied zum Tier zu sehen, sondern in seiner ihm eigenartigen Weise, seinen Lebensprozeß gegenständlich zu organisieren, ihn in der materiellen Auseinandersetzung mit der Natur, ihrer zunehmenden Beherrschung und Aneignung im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß selbst zu entwickeln, und durch die Veränderung der ‚äußeren Natur‘ allmählich auch sich selbst in seiner ‚inneren Natur zu verändern.

Daß am Anfang nicht die »Idee« und schon gar nicht das »Wort« war, sondern die materielle »Tat«, das können wir heute nicht nur durch ein weitsichtiges (aber gleichwohl seinerzeit gewagtes) Dichterwort, sondern auch durch mannigfache empirische Tatsachen belegen. Will man die zweifelsohne allein menschlichen Fähigkeiten z.B. zur kulturellen Produktion also nicht nach dem Modell der Pfingstereignisse der biblischen Geschichtsschreibung deuten, sondern sie erklären, d.h. genetisch begründen, so kann man allein von dem Umstand ausgehen, daß der Mensch sich der Natur nicht wie das Tier bloß anpaßt, nicht nur reines Naturprodukt ist, sondern daß er sich und dies in seiner Geschichte immer dominanter – die Natur selbst anpaßt, also die inneren und äußeren Bedingungen seines Lebens selbst produziert. »Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden«, schreiben Marx und Engels in der ‚Deutschen Ideologie‘. »Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« (21)

Diese Erkenntnis, die heute auch von vielen Wissenschaftlern, die wenig von Marx halten oder kennen, kaum noch ernsthaft in Frage gestellt wird, ist nicht nur bemerkenswert angesichts der Tatsache, daß sie von zwei noch recht jungen Männern – Marx z.B. war gerade 27 – stammt. Sie ist es vor allem, wenn man sich den seinerzeit – 1845 – recht spärlichen Stand der frühgeschichtlichen und verhaltenswissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen vergegenwärtigt. Selbst ein Marxist, wenn er wissenschaftshistorisch denkt, wird zugeben, daß eine solche Auffassung in einer Zeit alles andere als unumstritten sein konnte, in der die Rousseausche Vorstellung eines Naturmenschen, der mit all seinen heutigen Eigenschaften ausgestattet an einem historischen Nullpunkt beginnt und durch den Gebrauch seines Verstandes allmählich das erfindet, was die moderne Welt charakterisiert, eine weit verbreitete Lehrmeinung war.

Kann es demgegenüber also heute kaum noch eine Frage geben über die große Bedeutung der Arbeit in dem Hunderttausende von Generationen zählenden Prozeß der Anthropogenese, so allerdings durchaus über das, was unter Arbeit, unter menschlicher Produktion denn zu verstehen ist. Hier herrscht keineswegs Übereinstimmung. Schließlich produziert ja auch die Spinne ihr Netz, Ameisen halten sich Läuse, melken sie und produzieren so ihre Lebensmittel, und von wilden Schimpansen wissen wir, daß sie mit Holzstöcken Termiten angeln und sie verspeisen. Wie also ist die Bemerkung der beiden jungen Männer aus dem Jahre 1845 über die Produktion als Gattungsmerkmal des Menschen zu verstehen?

II

Wir wissen, daß wenn hier von Produktion die Rede ist, die werkzeugvermittelte Arbeit gemeint ist. Mehr noch. Der Mensch produziert mit eigens zu diesem Zweck hergestellten Arbeitsmitteln. Er ist ein »toolmaking animal«, wie Marx im ‚Kapital‘ Franklin zitiert und es sind daher vor allem seine Werkzeuge und Arbeitsgeräte, an deren Entwicklung der geschichtliche Werdegang des Menschen nachzuvollziehen ist. »Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.« (194/5)

Wenn wir jedoch nun Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung als hartes Indiz für das Vorliegen spezifisch menschlicher Produktion nehmen wollen, so müssen wir auch hier mit einigen Einwänden rechnen. Bei dem heutigen Stand der Ethologie und der Tierpsychologie ist es ein leichtes, auf signifikante Fälle nicht nur von Werkzeuggebrauch, sondern auch von Werkzeugherstellung bei höheren Säugetieren zu verweisen. Sehr bekannt sind die Experimente geworden, die Wolfgang Köhler schon zu Beginn dieses Jahrhunderts mit Schimpansen durchführte und seitdem oft wiederholt und variiert worden sind. Diese Experimente, von denen Köhler in seinem Buch ‚Intelligenzprüfungen an Menschenaffen‘ berichtet, folgen zumeist dem Muster einfacher Umwegversuche: Um ein auf direktem Wege nicht erreichbares Ziel zu erlangen, z.B. eine außerhalb des Käfigs liegende Banane, muß der Schimpanse sich eines Mittels bedienen und die Frucht z.B. mit einem Stock heranziehen. Dabei werden sachliche Funktionszusammenhänge berücksichtigt und durch gezielten Mittelgebrauch verändert, was über das Niveau rein instinktiven Reagierens hinausgeht und sich nicht durch den Hinweis auf bloß »perzeptives Orientierungsverhalten« erklären läßt (Holzkamp 1973, 102). Darüber hinaus war Köhlers Schimpanse Sultan in der Lage, sogar komplizierte Werkzeuge selbst herzustellen. Köhler berichtet:

»In einem weiteren Versuch wird noch mehr Werkzeugherstellung von Sultan verlangt. (17.6.) Außer einem Rohr von weiter Öffnung steht ihm ein schmales Holzbrett zur Verfügung, das gerade eben zu breit ist, um in die Öffnung eingeführt zu werden. – Sultan nimmt das Holzbrett und versucht, es in das Rohr hineinzustecken; das ist kein Fehler; die verschiedene Form von Holz und Rohr würde auch den Menschen zwingen, zu probieren, weil das Dickenverhältnis der beiden nicht einfach anschaulich klar ist; als das nicht gelingt, beißt er das Rohr an der Mündung auf und bricht einen langen Splitter seitwärts aus der Wand, offenbar zunächst, weil die Rohrwand dem Eindringen des Holzes im Wege war (»guter Fehler«). Wie aber der Splitter entstanden ist, versucht er sofort diesen in die noch heile Mündung des Rohres einzuführen: eine überraschende Wendung, die zur Lösung führen müßte, wenn nicht auch der Splitter etwas zu breit wäre. Sultan greift wieder zum Holzbrett, bearbeitet aber nunmehr dieses mit den Zähnen, und zwar richtig an einem Ende von den beiden Kanten nach der Mitte zu, so daß die störende Breite verringert wird. Wenn er eine Weile von dem (sehr harten) Holz abgebissen hat, probiert er, ob das Brett nun in die heile Öffnung des Rohres hineinpaßt, und arbeitet so weiter – hier muß man von ‚wirklichem Arbeiten‘ sprechen -, bis das Holz etwa 2 cm tief in die Öffnung hineingeht. Nun will er mit dem zusammengesetzten Werkzeug das Ziel heranholen, aber die 2 cm genügen nicht, und das Rohr fällt dabei immer wieder von der Spitze des Holzes herunter. – Sultan ist jetzt offenbar des Holzbeißens müde; er spitzt lieber den Rohrsplitter an einem Ende zu und bringt ihn wirklich bald so weit, daß er fest im heilen Rohrende stecken bleibt und der Doppelstock gebrauchsfertig ist.« (Köhler 1973, 95)

Unabhängig davon, ob man nun der gestaltpsychologischen Interpretation Köhlers folgt, und in dem Verhalten des Schimpansen ein Handeln aus »Einsicht« in die »Feldstruktur der Gesamtlösung« sieht, oder ob man z.B. mit Leontjew in dem Verhalten des Affen intellektuelle Fertigkeiten erkennt, die sich vor dem Hintergrund artspezifischer und invidividueller Erfahrungen entwickeln können und gewissermaßen die obere Grenze in der psychischen Entwicklung des Tieres darstellen (Leontjew 1973, 180-189) – man kann Köhler jedenfalls zustimmen, wo er notiert:

»Dieser Anthropoide tritt nicht allein mit allerhand morphologischen und im engeren Sinne physiologischen Momenten aus dem übrigen Tierreich heraus und in die Nähe der Menschenrassen, er weist auch jene Verhaltensform auf, die als spezifisch menschlich gilt.« (191)

Wir bemerken also: wenn wir allein die »Verhaltensform« toolmaking bzw. werkzeugvermitteltes Arbeitsverhalten als anthropologisches Gattungsmerkmal nehmen, geraten wir in Schwierigkeiten. Nehmen wir einmal gedankenexperimentell an, in einer Variation dieses Versuchs wäre statt des Schimpansen Wolfgang Köhler selbst in dem Käfig eingeschlossen worden. Es ist wohl wahrscheinlich, daß Köhler, vielleicht nach anfänglichem Protest und Hinweis auf seine Stellung als Leiter der Forschungsstation, spätestens dann, wenn er Hunger gefühlt hätte, sich ähnlich wie der Schimpanse Sultan verhalten hätte, um an die Banane zu gelangen. Noch nicht einmal ausgemacht muß dabei sein, welche Unterschiede in Schnelligkeit und Ausführungsform bei den beiden Versuchskandidaten festgestellt worden wären. Wo also bleibt nun der Unterschied zwischen Sultan und Wolfgang Köhler, zwischen Affe und Mensch, wenn man ihn im Arbeitsverhalten sucht?

Es scheint, als ob wir uns nun doch wieder dessen zu besinnen haben, was wir soeben als Erklärungsgrund des spezifisch Menschlichen für überholt erklärten: des Bewußtseins. Denn wenngleich Affe und Mensch in unserem Experiment das gleiche tun, scheint doch ernsthaft nicht geleugnet werden zu können, daß der Mensch eben dieses bewußt tut. Die tierische Intelligenz, um das Wort von Leontjew aufzunehmen, ist also bestenfalls eine Vorform des menschlichen Bewußtseins, das als die höchste Entwicklungsstufe des Psychischen allein dem Menschen vorbehalten bleibt.

Nur, er handelt wirklich planvoll, er antizipiert das, was er will, vorweg im Geiste – er braucht also in unserem Gedankenexperiment sich nicht zu beeilen und erst dann zu handeln, wenn er Hunger bekommt, denn er »weiß« ja, was zu tun ist -, während der Affe höchstens zu einer Art »plötzlicher Einsicht« (Köhler) gelangt.

Diese Auffassung, daß es die Fähigkeit zur ideellen Antizipation sei, die das Besondere der menschlichen Arbeit kennzeichne, wird in der Tat zumeist vertreten. Übrigens auch von Köhler1, aber auch von vielen marxistisch orientierten Wissenschaftlern. Können sie sich doch auf den berühmten Satz von Marx im ‚Kapital‘ über die Arbeit in der Form, »worin sie dem Menschen ausschließlich angehört«, berufen:

»Eine Spinne«, so heißt es da, »verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.« (193)

Wenn wir nun, an diese Bemerkung anknüpfend, das Wesen des Menschen in seiner Arbeit und das Wesen der menschlichen Arbeit in der bewußten Fähigkeit zur geistigen Vorwegnahme des Resultates unterstellen wollen, so gelangen wir zu einer Deutung der Arbeit, die in der Tat in einem ganz bestimmten Sinne anthropologisch ist: Wir gehen dann nämlich von einer Bestimmung der Arbeit durch eine bestimmte Eigenschaft des Menschen, eben sein Bewußtsein, aus. Wir unterstellen also den Arbeitsprozeß samt seinem materiellen Resultat als eine Entäußerung, eine Emanation des Bewußtseins, welches dem Menschen als eine natürliche geistige Anlage »an sich« eigen ist.

Denn wo sollte das Bewußtsein sonst herkommen? Aus der Arbeit, der produktiven sinnlichen Praxis, doch gerade nicht. Denn diese ist eben nur die Entfaltung der geistigen Vorstellung, die ihr vorangeht, wie die »Idee« der »Tat« (mit dem einzigen Unterschied zu der Fassung dieser »Idee« in der klassisch-idealistischen Philosophie als »absolutem Geist« oder Schöpfungsplan Gottes, daß das Bewußtsein hier das des arbeitenden individuellen Menschen sein soll). Das Ziel, das Telos, der Produktion ist hier also nicht objektiv, z.B. im Schöpfungsentwurf Gottes, vorgegeben, sondern subjektiv durch die individuelle Antizipation des einzelnen Subjekts. In der Philosophie heißt dieses Modell der Zielsetzung daher auch die subjektive Teleologie. In ihm ist das zentrale Merkmal dieser anthropologischen Deutung der Arbeit zu sehen.

Wir bemerken natürlich, daß mit diesem anthropologischen Arbeitsbegriff eine andere Position vertreten wird, als in der eingangs zitierten Feststellung aus der ‚Deutschen Ideologie‘, nach der die Menschen ’sich selbst‘ von den Tieren eben nicht durch ihr Bewußtsein, sondern durch ihre Produktion unterscheiden. Und es fällt schwer zu glauben, daß das, was Marx und Engels auch später immer wieder als Ausgangspunkt ihres materialistischen Programms hervorgehoben haben, nämlich – so die ‚Deutsche Ideologie‘ – die »wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch die eigene Aktion erzeugten« (20), nun gerade bei der Bestimmung der menschlichen Arbeit durch eine anthropologische Fassung ersetzt werden soll, nach der ein Moment der Arbeit, die subjektive Zielsetzung, für das Ganze genommen, nach dem die Existenz eines Planes im Kopfe für das Wesen der Produktion genommen wird.

Genau gelesen, wird in der ‚Deutschen Ideologie‘ jedoch gar nicht die Arbeit als das wesentliche Gattungsmerkmal des Menschen im Unterschied zum Tier behaupet (und schon gar nicht das Modell der subjektiven Teleologie der Arbeit), sondern ein durch die Arbeit bewerkstelligter Prozeß, der hier als einer der Selbstunterscheidung des Menschen charakterisiert wird: »Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren«. Es geht hier also offenbar nicht um den Menschen und um bestimmte Eigenschaften und Merkmale, die ihm als abstrakte anthropologische Setzungen zukommen, sondern um den Begriff eines Entwicklungsprozesses, in dem sich der Mensch überhaupt erst als Mensch herausbildet. Genauer noch: in dem er anfängt, sich herauszubilden. Also noch nicht Mensch ist, aber auch nicht mehr Tier.

Es geht dabei also streng genommen gar nicht um einen wirklichen, entwickelten Menschen, sondern um einen Affen. Denn einen anthropomorphen Großaffen als Zwischenglied zwischen tierischer Evolution und gesellschaftlich-geschichtlicher Entwicklung stellten sich Marx und Engels in der Tat seinerzeit als jenen Typus vor, der am Anfang der eigentlichen Menschwerdung, der Anthropogenese, stand. Diese Auffassung, für die auch Engels spätere Schrift »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen«, steht, entsprach ungefähr seit Mitte des 19. Jahrhunderts, der allgemeinen frühgeschichtlichen und evolutionsbiologischen Lehrmeinung. Diese ließ die Paläontologie sogar noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts alle ihre Erkenntnisse und fossilen Funde unter dem Paradigma auswerten, es gäbe eine direkte evolutionäre Verbindungslinie zwischen den vorzeitlichen Großaffen und dem »homo sapiens«. Erst nach der »Revolution des Australopithecus« (Leroi-Gourhan), die durch die sensationelle Australopithecus-Funde in den 50er und 60er Jahren dieses Jahrhunderts, die diesem Modell der Menschwerdung völlig entgegenstanden, ausgelöst wurde, legte die Paläontologie die Frage nach den fehlenden Zwischengliedern zwischen Anthropoiden und dem Menschen endgültig ad acta.

Aber nicht der Umstand, daß die anthropogenetische Forschung heute davon ausgeht, daß in der Naturgeschichte der höheren Säugetiere sich die Evolution des Pongidenzweiges, also der ‚Affenähnlichen‘, von der Evolution des Hominidenzweiges, also der ‚Menschenähnlichen‘, schon vor über 10 Millionen Jahren abgespalten hatte, und daß schon zur Zeit der naturgeschichtlichen Hominisation, also der biologischen Menschwerdung, die Artunterschiede zwischen den Vorfahren der heutigen Affen und denen der heutigen Menschen vermutlich größer waren, als die Unterschiede zwischen dem heutigen Menschen, also dem »homo sapiens«, und seinen direkten Vorgängern aus der »homo erectus«-Gruppe (wozu z.B. der Heidelberg-Mensch gehört), sind hierbei von Interesse. Nicht die unvermeidbare historische Begrenztheit des fachwissenschaftlichen Forschungsstandes im 19. Jahrhundert sind in unserem Zusammenhang von Belang, sondern das prinzipielle Herangehen Marxens an die anthropogenetische Bestimmung der menschlichen Arbeit. Betrachten wir dies zunächst etwas genauer und setzen es in Beziehung zu unserem heutigen Wissen, um von da aus dann noch einmal den Stellenwert des ‚Bienenbeispiels‘ aus dem ‚Kapital‘ zu beleuchten.

Indem Marx das Problem der Wesensbestimmung des Menschen über die menschliche Produktion anging, diese aber als einen historischen Entwicklungsprozeß begriff, unterstellte er auch für den Prozeß der Menschwerdung die Grundprinzipien des materialistischen Entwicklungsdenkens. Das erste Prinzip der materialistischen Entwicklungstheorie beruht auf der Erkenntnis, daß nichts aus Nichts wird. So ist ein materieller Entwicklungsprozeß allein aus seinen konkreten materiellen Voraussetzungen begreifbar. Das Bewußtsein, als die höchst entwickelte Form der Selbstbewegung der Materie, kann materialistisch nur aus Voraussetzungen erklärt werden, die ihm als sinnlich-praktische Wirklichkeit vorausgehen. Die erkenntnistheoretische Kurzfassung des materialistischen Denkens lautet daher: Die Einheit der Welt ist in ihrer Materialität begründet und kann nur von hier aus in all ihrer inneren Differenziertheit begriffen werden. Was die Besonderheit des Menschen in der Welt ausmacht, ist also aus den Bedingungen seines praktischen Tuns zu erklären – und nicht sein praktisches Tun aus der Bestimmung seiner Besonderheit. »Wie die Individuen ihr Leben äußern«, heißt es in der ‚Deutschen Ideologie‘ an der gleichen Stelle, »so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.« (21)

Was und wie haben sie aber nun produziert, die Individuen im Prozeß der Hominisation, die die ersten menschlichen Wesensmerkmale aufwiesen? Und wie muß man ihn sich vorstellen, Marx‘ frühgeschichtlichen Affen, als er gerade anfing, sich von den Tieren zu unterscheiden? Wohlgemerkt: gleichwohl selbst noch ein Tier seiend, aber doch schon die ersten Ansätze des Unterschieds zur biologischen Welt und die Keime der Entstehung des gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses hervorbringend, in dessen Verlauf er schließlich zum ‚indirekten Produzenten seines eigenen Lebens‘ wurde.

III

Die eigentlich »humane Phase« der Hominisation, so wie sie uns heute durch die Frühgeschichtsforschung und die Paläontologie rekonstruierbar erscheint, beginnt erst relativ spät, nämlich vor ca. 2 Millionen Jahren. Relativ spät, wenn man sie in Bezug setzt zu ihrer schon vor ca. 40 Millionen Jahren beginnenden Naturgeschichte, der Evolution der Hominiden, die man auch ihre »subhumane Phase« nennt. Evolution ist hier zunächst schlicht biologisch zu verstehen, als stetige Zunahme an Komplexität einer bestimmten Form (vgl. Groiss). Durch sie entstanden die biotischen Voraussetzungen für die eigentliche Anthropogenese, wie Bipedie und aufrechter Gang, kurzes Gesicht, das Freiwerden der Hände, entsprechende morphologisch-anatomische Veränderungen usw. In biologisch-anthropologischer Sicht wird daher der Beginn der Menschwerdung auch früher angesetzt, während für Frühgeschichtler, die als Kriterium der Menschwerdung vor allem die Entwicklung des Werkzeugverhaltens in Rechnung stellen, die Anthropogenese erst dort beginnt, wo die ersten gesicherten Steinwerkzeug- und Gerätefunde datiert worden sind. Dies ist zu Beginn des Pleistozän, des Eiszeitalters, vor ca. 1,8 Millionen Jahren der Fall.

Das anthropologische Problem der Bestimmung der eigentlichen Menschwerdung ergibt sich nun aus dem Umstand, daß sowohl die biologisch-naturgeschichtliche als auch die gesellschaftliche Entwicklung gleichzeitig verlaufen. Sie überlagern sich gewissermaßen. Denn die biologische Evolution ist dadurch, daß schon vor vielleicht 10 Millionen Jahren bestimmte hominidenähnliche Lebewesen vom Typ des Ramapithecus »begannen«, sporadisch nicht-organische Hilfsmittel zum Nahrungserwerb zu verwenden, ja keineswegs außer Kraft gesetzt. Und auch nicht dadurch, daß etliche Millionen Jahre später Hominiden vom Typ des Australipithecus dazu übergingen, bestimmte Hilfsmittel zum sporadischen Gebrauch selbst herzustellen. Die biologische Evolution ist ja bekanntlich selbst heute nicht außer Kraft gesetzt. Aber durch den allmählichen, sich lange Zeit zunächst kaum entwickelnden sporadischen Werkzeuggebrauch, begannen sich langsam auch andere Faktoren als entwicklungsbeeinflussend auszuwirken. Diese waren nun im Unterschied zu den naturgeschichtlichen von den Hominiden »selbst produziert«, wenngleich sie am Anfang noch eine kaum spürbare Wirkung besaßen. Für die Anthropogenese entscheidend ist aber, daß sehr viel später dann, nach einer Phase, die von einigen Anthropologen das Tier-Mensch-Übergangsfeld‘ genannt wird3, die hominiden und humanen Momente gegenüber den immer noch vorhandenen pongiden Momenten mehr und mehr in den Vordergrund traten und schließlich allein entwicklungsbestimmend wurden.

Für die ersten Hominiden, die auch Marx, wenngleich in der Optik des 19. Jahrhunderts, vor Augen hatte, waren Werkzeugbenutzung und Werkzeugherstellung nur ein Aspekt und zumal ein untergeordneter im komplexen Prozeß ihrer Umweltanpassung, der sich in vielerlei Hinsicht aber wohl kaum qualitativ von dem ihrer pongiden Zeitgenossen unterschied. Dennoch begegnen uns hier die ersten Ansätze einer neuen Entwicklungsdynamik, deren volle Entfaltung es den Hominiden eines Tages erlauben sollte, den biologischen Anpassungsprozeß an die Umwelt z.T. sogar umzukehren; so mußten sie sich dann nicht mehr allein den widrigen Anforderungen der äußeren Natur anpassen, sondern konnten diese auch ihren Bedürfnissen gemäß umformen, also die Natur sich selbst anpassen.

Der Australopithecus ist der erste Hominide, bei dem wir gesichert erste Formen von Werkzeugproduktion annehmen können. Er vollzieht gewissermaßen den Übergang vom Tier-Mensch-Übergangsfeld zur »humanen Phase« der Hominisation. Nach einer (nicht ganz unproblematischen, aber bildhaften) zoologischen Charakterisierung Leroi-Gourhans erscheint an dem Punkt, an dem der Australopithecus auftritt, »das Werkzeug geradezu als eine anatomische Konsequenz, als einziger Ausweg für ein Wesen, das in seiner Hand und in seinem Gebiß vollständig waffenlos dasteht und dessen Gehirn in einer Weise organisiert ist, die es zu komplexen manuellen Operationen befähigt« (120).

Nach einem Vorschlag von Herrmann sind aus frühgeschichtlich-anthropologischer Sicht die verschiedenen Australopithecus-Gruppen zu einer Homo-Art zusammenzufassen, die er »homo simius«, also die Art der Affenmenschen, nennt. Er legt damit auch definitorisch nahe, was wir schon aufgrund des mutmaßlichen äußeren Erscheinungsbildes und des Werkzeugverhaltens dieser frühen Hominiden annehmen können, und woran wohl auch Marx gedacht haben mag: ihre Ähnlichkeit zu den heutigen Menschenaffen.

Allerdings, so ist hier sofort einzuschränken: Schon der Gebrauch und die Produktion von Steinwerkzeugen der frühen Australopithecus-Affenmenschen ist eine Eigenart, die bei den heute lebenden Menschenaffen noch nicht beobachtet wurde. Wir können also schon allein deshalb davon ausgehen, daß die mit der Steinwerkzeugproduktion beginnende Alt-Steinzeit bereits eine genuin hominide Entwicklungsphase ist. In ihr wurden zunächst vor allem Geröllsteine mit einfachen und groben, aber gezielten Abschlägen so bearbeitet, daß sie als Schlag-, Kratz-, Schneide- und Schabewerkzeuge für verschiedenartige Nutzung beim Nahrungserwerb, aber wohl auch zum Angriff und zur Verteidigung dienen konnten. Diese »pebble tools« stellen die erste Stufe in der Entwicklung der späteren Faustkeil-Kulturen dar. Es ist jedoch gut möglich, daß der eigentlichen Steinzeit noch eine mehrere Millionen Jahre dauernde Phase voranging, in der zunächst nur Holzwerkzeuge und Geräte aus anderen, leicht zu bearbeitenden Materialien benutzt wurden. Einige Paläontologen sprechen von einer »Knochen-Zahn-Horn-Industrie«. Aus diesen, sicher einfacher als Stein zu bearbeitenden Materialien, werden wohl die allerersten Typen von Werkzeugen produziert worden sein. So hat der Anthropologe Dart an den Fundstellen von Australopithecinen Anhäufungen von z.T. bearbeiteten Säugetierknochen geortet. Diese waren u.a. zu merkwürdigen Konstruktionen zusammengefügt. So gab es Geräte, die entstanden waren, indem Knochensplitter in Langknochen gesteckt worden waren.

Wenn wir uns solche Geräte vorstellen, so liegt eine gewisse technische Ähnlichkeit zu dem von dem Schimpansen Sultan hergestellten Werkzeug zweifelsohne nahe. Und so können wir uns ermutigt fühlen, auch hier, im Ausgang des ‚Tier-Mensch-Übergangsfeldes‘ noch einmal in einem Gedankenexperiment Köhlers Versuchskäfig aufzustellen. Die Annahme bietet sich an, daß auch einer der ersten Australopithecus-Affenmenschen sich ähnlich wie Sultan verhalten hätte, daß also das Niveau seiner operativen und kognitiven Naturauseinandersetzung eben dem des Affenmenschen entsprochen haben könnte, den Marx als jenes Wesen ansah, das, gleichwohl selbst noch Tier, eben anfängt, sich vom Tier zu unterscheiden, indem es ein selbst hergestelltes Mittel gewissermaßen zwischen sich und die Natur schiebt, also beginnt, seinen Stoffwechselprozeß gegenständlich zu vermitteln. Damit aber, so Marx im ‚Kapital‘, beginnt ein Prozeß, in dem der Mensch schließlich der Natur selbst als eine Naturmacht gegenüber tritt.

IV

Trotz des Ausgangs dieses Gedankenexperiments wissen wir natürlich, daß es gleichwohl beträchtliche Unterschiede gibt zwischen dem Werkzeugverhalten des Schimpansen und des Australopithecus-Affenmenschen (der vor ca. 800000 Jahren ausstarb) einerseits, und dem des »homo sapiens« andererseits. Und wir wissen auch um die Grenzen ihrer Vergleichbarkeit. Dieses Wissen erschließt sich allerdings nicht aus der Sichtweise des Köhlerschen Versuchstyps, wie wir aus unseren gedankenexperimentellen Variationen desselben erkennen können. Im Gegenteil, gerade wenn es um die Untersuchung der Werkzeugherstellung geht, kann das Spezifische des menschlichen und tierischen Werkzeugverhaltens schon deshalb hier nicht erfaßt werden, weil in dem Köhlerschen Käfig immer nur ein einzelner individueller Arbeitsakt in den Blick kommen kann. Es kennzeichnet aber die »Besonderheit der menschlich-gesellschaftlichen Weise der Lebensgewinnung, daß sie, wenn man nur menschliche Individuen betrachtet, nicht erkennbar wird« (Holzkamp 1979, 7). Die menschliche Besonderheit erschließt sich nämlich nur aus der Besonderheit ihres gesellschaftlichen Gemeinwesens. Der Witz dieses menschlichen Gattungswesens, wie auch des äffischen und des des Australopithecus, das ist von Marx zu lernen, offenbart sich aber gerade nicht in der Betrachtung eines einzelnen, zudem noch individuellen Momentes, das aus der Bewegung des gattungsmäßigen Gesamtzusammenhangs, in dem der Prozeß der Naturauseinandersetzung stattfindet, isoliert wird. Sinnfällig wird dies eben darin, daß wir in dieser Perspektive nicht einmal einen heutigen Menschen von einem Menschenaffen oder einem Affenmenschen unterscheiden könnten. Um überhaupt noch, wenn man sich auf diese analytisch-isolierende, also abstrakte Perspektive beschränkt, einen Unterschied angeben zu können, um den Menschen vor einer Grenzverwischung gegenüber dem Tierreich zu retten, bleibt nur noch die Annahme des Bewußtseins als abstrakt-anthropologischer Anlage des Menschen. Es wird so gerade das, was es in seiner Spezifik aus dem materiellen Lebensprozeß der Gattung zu erklären gilt, vorausgesetzt, um die Spezifik des materiellen Lebensprozesses erklären zu können.

Wie wird jedoch nun die grundlegende Besonderheit des Lebensprozesses einer Gattung deutlich? Sie wird erst begreifbar, wenn wir uns von dem ahistorischen und individualisierenden Schema trennen und den zeitlichen und sozialen Zusammenhang einer Population, ihre innere Kohärenz, genauer betrachten, wenn wir also die Formen der Weitergabe, der Tradierung der im Lebensprozeß gemachten einzelnen Erfahrungen untersuchen. Das heißt, wir müssen uns den spezifischen Reproduktionsformen einer Gattung und ihrer Erfahrungen zuwenden.

Was ist damit gemeint? Der Begriff der Reproduktion besagt zunächst einmal nur, daß jede Entwicklung nicht nur Veränderung, sondern auch Erhaltung von Altem ist. In dem, was neu entsteht, wiederentstehen zugleich seine Voraussetzungen, die zu Bedingungen nicht nur seines neuen Daseins werden, sondern auch Bedingungen für eine mögliche weitere Entwicklung. Wirkliche Entwicklung ist aber erst dann möglich, wenn die Voraussetzungen des Neuen, also das Alte, nicht einfach nur unverändert wiederentstehen, also identisch reproduziert werden. Vielmehr ist die Veränderung, Variation des Alten, Bedingung für jede wirkliche Weiterentwicklung. Wenn die durch eine Veränderung der alten Voraussetzungen entstandenen Entwicklungsresultate nun als neue Voraussetzungen für die weitere Entwicklung und somit für ihre eigene weitere Verwandlung dienen, so könnte man von erweiterter Reproduktion sprechen.

Dieser Begriff faßt also die beiden Seiten eines Entwicklungsprozesses. Etwas bleibt sich gleich, indem es sich verändert. Durch seine Veränderung gewinnt es Identität. Auf die Existenz dieser Prozesse selbst in unserem alltäglichen Leben weist eine Keuner-Geschichte Bertolt Brechts hin, in der Herr K., ein allerdings seltenes Entwicklungswesen, auf die Bemerkung eines längere Zeit nicht gesehenen Bekannten, er habe sich gar nicht verändert, wie folgt reagiert: »’Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.«

Es ist also nicht das einzelne, individuelle Moment einer Gattung, sondern ihre Reproduktion, ihr Bewegungszusammenhang in der Zeit, über den allein ihre Spezifik zu begreifen ist. Wenden wir uns daher nun den Entwicklungsformen der Reproduktion zu, wobei uns besonders die Entwicklung des Bewußtseins interessiert, dessen Zusammenhang mit der materiellen Produktion ja noch offen ist. Fragen wir uns zunächst, welche Formen der Weitervermittlung und Tradierung von Information, welche Typen der Reproduktion von Erfahrung es bei Lebewesen überhaupt geben kann?

V

Zunächst natürlich die genetische Erfahrungsvermittlung. Durch sie werden evolutionsgeschichtlich angesammelte »Informationen von funktioneller Bedeutung« (M. Eigen) durch das Erbgut identisch an die Nachkommengeneration vermittelt; Veränderungen finden hier nur durch ‚Fehler‘ in der Vererbung statt, die nur innerhalb sehr großer Zeiträume wirksam werden. Schon bei recht primitiven Organismen entwickelt sich darüber hinaus jedoch eine psychische Ebene der Informationsverarbeitung. Biologisch gesehen läßt nämlich die genetisch fixierte Information für gewisse Eigenschaften eine Art von Spielraum. Innerhalb einer mehr oder weniger weiten »Reaktionsnorm« können sich in Abhängigkeit von den jeweils individuell- oder populationsspezifischen Umweltbedingungen besondere Merkmale ausprägen. Man spricht dann von der »Modifikation« von Eigenschaften, also von individuell erworbenen Anpassungen, die sowohl alle Mitglieder einer Population gleichzeitig erwerben können, die aber auch bei höheren Organismen allein von einzelnen Individuen erworben werden können. Diese »adaptive Modifikation« des Verhaltens höherer Wirbeltiere aufgrund der Erfahrungen des Individuums nennen wir Lernen.

Mit dem Entstehen der Fähigkeit, über die artspezifisch fixierten Allgemeinerfahrungen hinaus zu einem weiteren psychischen Informationsgewinn in der Umweltauseinandersetzung zu gelangen, ist ein wesentlicher Schritt gegenüber dem Informationsgewinn markiert, der sich allein durch die Mechanismen der biologischen Evolution vollzieht. Bei hochevoluierten Vögeln und Säugetieren finden wir eine Form des Lernens, die es ermöglicht, nicht nur die eigenen Erfolgs- und Mißerfolgserfahrungen kognitiv zu verwerten, sondern auch die von anderen, womöglich erfahreneren Individuen. Dieses Lernen durch Nachahmung beruht auf einem Informationsfluß von einem Individuum zum anderen. Es ist die Voraussetzung für die Ausbildung von Traditionen, die dann entstehen können, wenn die Generationsfolge einen gewissen Sozialkontakt auch von Kindern und Eltern ermöglicht. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt. Denn nun können erlernte Verhaltensweisen von einer Generation auf die andere weitergegeben werden und es entsteht die Möglichkeit, daß Erfahrungen auf nicht-genetische Weise erweitert reproduziert werden.

Eine solche Tradierung erlernten Wissens über die Generationsgrenzen hinweg und seine Aneignung durch Nachahmung jedes Individuums des Sozialverbandes entspricht nun eben jenem Typ von Erfahrungsreproduktion, den wir bei unseren Menschenaffen beobachten können, den wir aber auch bei den frühen Affenmenschen aus der Zeit des Australopithecus vermuten dürfen. Schon Köhler berichtet von bestimmten neuen Verhaltensweisen, die, wie z.B. das Trinken am Wasserhahn, das ein Schimpanse seiner Anthropoidenstation aufbrachte, sich »wie eine Mode« in kurzer Zeit unter den anderen Affen verbreiten. Bekannt sind die Freilandbeobachtungen japanischer Naturforscher an Makaken über die Gepflogenheit eines jungen Weibchens, erdige Kartoffeln vor dem Fressen in einem Bach zu waschen, die rasch in der ganzen Population zur Tradition wurden. Und die Ethologin Jane van Lawick-Goodall, die jahrelang unter wilden Schimpansen lebte, berichtet von vielen überraschenden populationsspeziflschen Eigenarten der Tiere, die offensichtlich regionale Traditionen darstellen.

Dennoch unterliegen alle Formen tierischer Traditionsbildung bestimmten, unüberwindbaren Grenzen. Denn die Weitergabe von Erfahrungen ist hier immer an den unmittelbaren interaktiven Sozialkontakt gebunden. Traditionsbildung ist also eng an Verwandtschaftslinien geknüpft und bleibt damit relativ beschränkt, ohne über lokale Ausbreitungsbereiche der Population oder innerartliche »Subkulturen« hinausreichen zu können. Tierische Erfahrungsreproduktion in Traditionen ist zudem recht instabil. Sie bildet sich oft nur dann aus, wenn über besondere Umweltbedingungen ein entsprechender Anpassungsdruck (z.B. klimatischer oder geographischer Art) entsteht. Ändern sich die ökologischen Sonderbedingungen, so verschwindet auch die Tradition wieder. Da die Informationsspeicherung und Weitergabe allein an individuelle biologische Träger gebunden ist, löst sie sich auch mit diesen auf. Mit dem Tod der Population, um ein extremes, aber evolutionsgeschichtlich äußerst relevantes Beispiel anzusprechen, sind auch alle einmal gemachten Erfahrungen vernichtet.

Wir können also festhalten, daß im Rahmen der tierischen Informationsspeicherung, die über die genetische Anlage hinausgeht, durchaus ein, psychologisch gesehen, »funktionelles System« aufgebaut werden kann. Dieses aber hat noch keinen Niederschlag in einer zusätzlichen, materiellen Erfahrungsstruktur gefunden, die beim Tod der einzelnen Lebewesen bestehen bleibt. So ist es auch nicht primär eine funktionelle Schranke, die das tierische Niveau der Erfahrungsreproduktion bei Menschenaffen charakterisiert, sondern ein struktureller Mangel des einzigen Erfahrungsspeichers, über den sie verfügen.4 Es ist charakteristisch für die so allein mögliche gelegentliche Herstellung von Hilfsmitteln, die man auch ad-hoc-Werkzeugherstellung nennt, daß z.B. der Schimpanse Sultan aus dem zitierten Versuch Köhlers zwar aus seinem komplizierten Werkzeughandeln individuell gelernt hat, also beim nächsten Mal in der gleichen Situation ein ähnliches Werkzeug wieder bauen wird, dann wahrscheinlich schneller und behender. Hat er jedoch jeweils die Frucht erlangt, sein Werkzeughandeln also seinen unmittelbaren Zweck erfüllt, verliert es für ihn jede Bedeutung als Arbeitsmittel. Er wirft es weg und »vergißt« es. Weder er noch seine Artgenossen würden es je in seiner Bedeutung als Werkzeug »erkennen«, wenn es ihnen nicht in dem direkten situationalen Bezugsrahmen Käfig-Werkzeug begegnen würde.5 Es wird also nicht »zum konstanten Träger einer bestimmten Operation« (Leontjew 1973, 208), sondern dient letztlich als eine Art direkter Organkompensation beim Nahrungserwerb. Insofern sprengt das äffische Werkzeugverhalten, trotz seiner Ähnlichkeit in experimentellen Extremsituationen zum menschlichen, im Unterschied zu diesem nicht die Grenzen einer Spezialisierung des organismischen Bedürfnisses. Völlig vom aktuellen Zweck dominiert, bekommt das Mittel also weder eine den einzelnen Arbeitsakt überdauernde materielle Selbständigkeit als ‚Werkzeug für bestimmte Operationen‘, noch als Träger einer bestimmten psychischen ‚Bedeutung‘.

VI

Der entscheidende Schritt zur Entstehung einer spezifisch menschlichen nicht-biologischen Art der Reproduktion von Erfahrungen vollzieht sich nun, wenn das Werkzeug eine neuartige Permanenz erhält. Es wird zu einem, materiellen Erfahrungsspeicher, dessen Materialität aber nicht den Gesetzmäßigkeiten des Werdens und Vergehens der organischen Materie unterliegt. Die Entstehung dieser neuen Permanenz des Arbeitsmittels geht einher mit einer weitreichenden Veränderung im Werkzeugverhalten. Das Verhältnis von Mittel und Zweck, das, wie wir bei unseren Schimpansen beobachten konnten, eindeutig vom Zweck dominiert war, kehrt sich nun um. Die ursprünglich nur für das Erreichen einer bestimmten Frucht aktualisierte Hilfskonstruktion wird zu einem Mittel auch für das Herbeischaffen anderer Früchte, ja, schließlich sogar zu einem Mittel für das Verfolgen ganz andersartiger Zwecke. So kann es möglich werden, daß sogar durch die bloße Existenz des Mittels nun auch äußere Sachverhalte aktuell erreichbar erscheinen, die vorher kaum in Betracht gezogen worden wären. Das Mittel setzt also selbst neue Zwecke.

Wie kann man sich einen solchen Entwicklungsmechanismus vorstellen? Nehmen wir eine Axt, eine einfache Steinaxt beispielsweise, die, im Konstruktionsprinzip durchaus vergleichbar dem Hilfsmittel des Schimpansen Sultan, durch die Verbindung zweier Materialien, Holz und Stein, entsteht. Die Anforderungen, ein solches Gerät bauen zu können, mögen uns gering anmuten. In der Tat aber bedurfte es mehrere Jahrmillionen, bis den Hominiden die Funktionen seines Gebrauchs wie auch die Funktionen seiner Herstellung praktisch vorstellbar erscheinen konnten.

Es macht dabei durchaus einen Sinn, von einem, zunächst vielleicht paradox klingenden, praktischen Vorstellungsvermögen zu sprechen, weil wir von einem theoretischen, einem ‚geistigen‘ Vorstellungsvermögen ja hier eben noch nicht ausgehen können. Ist es doch gerade der praktische Prozeß der sinnlich-gegenständlichen Umweltauseinandersetzung, aus dem die ersten kognitiven Abstraktionen, die ersten Kategorien des Verstandes entstellen. Leroi-Gourhan (123-125) spricht sogar den Australopithecinen der frühen ‚pebble‘-Kulturen schon ein »technisches Bewußtsein« zu. Ihre technischen Fähigkeiten sind sicher äußerst einfach gewesen und entsprachen recht gut dem wenigen, was wir von ihrem Gehirn wissen. Dennoch verkörperte ihre frühe Technizität eine gewisse innere Kohärenz, die ihren realen Möglichkeiten funktional war und in nichts in jenem Bild aufgeht, nach dem ein von sich und der Welt zutiefst überraschter einzelner Affenmensch plötzlich einen spitzen Stein in seiner Hand findet und mit diesem nun wild und ungelenk herumzuschlagen beginnt und so den ersten Faustkeil entdeckt. Wir dürfen jedoch ihre kognitiv-praktischen Möglichkeiten andererseits auch nicht umstandslos an denen späterer Hominiden oder gar an den unseren messen. Eher noch sollten wir sie als eine »zoologische Tatsache« sehen, als auf sie das Schema eines schöpferischen Denkens anzuwenden, das ebenfalls völlig unangemessen wäre angesichts der zahllosen Jahrhunderttausende, in denen die »Industrie« des Australopithecus sich fast nur identisch reproduzierte.

Merkwürdig klingt der Begriff eines praktischen Vorstellungsvermögens, der gerade den Zusammenhang des Gegenständlich-Sinnlichen mit dem Intellektuellen und Geistigen zu fassen sucht, nur dann, wenn man diesen Zusammenhang negiert und somit von der Voraussetzungslosigkeit des Ideellen, also dem Primat des Bewußtseins, ausgeht. »Alle praktischen Menschen«, spottete schon Goethe über diesen Trennungsversuch, »suchen sich die Welt handrecht zu machen; alle Denker wollen sie kopfrecht haben. Wie weit es jedem gelingt, mögen sie zusehen.«

Um uns die Genese der ersten Verstandeskategorien aus dem praktischen Vorstellungsvermögen, das dem Umgang mit den ersten Arbeitsgeräten entsprochen haben dürfte, zu verdeutlichen, denken wir noch einmal an unsere Axt: Bei ihrer Benutzung, so hat Leontjew (1973, 208) anschaulich dargelegt, »wird nicht nur dem Ziel einer praktischen Handlung entsprochen, sondern es werden auch die Eigenschaften des Arbeitsgegenstandes widergespiegelt, auf den sich die Handlung richtet. Der Hieb einer Axt erprobt also untrüglich die Härte des Materials, aus dem der betreffende Arbeitsgegenstand besteht. Seine objektiven Eigenschaften werden nach Merkmalen, die im Werkzeug selbst objektiv gegeben sind, praktisch analysiert und verallgemeinert. Das Werkzeug [sofern es im gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang gesehen wird; J.B.] wird damit gleichsam zum Träger der ersten, echten, bewußten und vernünftigen Abstraktion, der ersten bewußten und vernünftigen Verallgemeinerung.«

Zwar setzt die Entstehung und die Verallgemeinerung von Abstraktionen des Verstandes – die biologischen Voraussetzungen einmal als gegeben angenommen – ebenfalls die Existenz entfalteter gesellschaftlicher Kooperationsbeziehungen und sprachlicher Kommunikationsverhältnisse voraus. Auch wenn wir sie hier nicht ausführlich thematisieren, darf nicht vergessen werden, daß in ihrer Entwicklung eine wesentliche Voraussetzung des menschlichen Daseins gründet. Obwohl ihre Entwicklung keineswegs völlig kongruent mit der der materiellen Arbeitsgeräte verläuft, hängt jedoch letztlich auch sie in ihrer den Menschen spezifischen Entfaltung wiederum vom Stand der Naturauseinandersetzung ab, also von der Entwicklung der inneren Organisation des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses und seiner gegenständlichen Mittel, die Engels einmal als die wirklichen Entwicklungsmittel des Menschen bezeichnet hat.

Betrachten wir die gegenständlichen Mittel der Arbeit also hier als die für den Menschen spezifischen Reproduktionsmittel, sehen wir sie also historisch, so können wir festhalten, daß die mit ihnen realisierte Produktion schon allein deshalb immer reicher und wahrer ist, als jede noch so detaillierte Planung ihres Vollzugs sein kann (vgl. Rüben, 23), weil die Fähigkeit zur geistigen Planung, zur bewußten Antizipation sich ja gerade in und durch die Arbeit und die in ihr gemachten Erfahrungen erst entwickelt. Zwar kann sich die Bewegung dieses ‚intellektuellen Moments‘ des Arbeitsprozesses in späteren Epochen der Menschheitsgeschichte unter den Bedingungen entfalteter Arbeitsteilung von dem praktisch-gegenständlichen Prozeß ablösen und zu besonderen Bewußtseinserscheinungen verselbständigen. In der Vor- und Frühgeschichte waren dies eigenartige mythisch-rationale Mischformen, in denen sich die Menschen die Natur und ihres Kampfes gegen sie zu vergegenwärtigen begannen (vgl. Brockmeier 1979). Die grundlegenden kognitiven Bedeutungsstrukturen des Bewußtseins einer bestimmten historischen Epoche bleiben jedoch auch dann noch letztlich abhängig von den effektiven gesellschaftlichen Arbeitsverhältnissen und dem Entwicklungsstand der inneren Organisation des Arbeitsprozesses selbst. Von hier aus, schreibt Marx in den ‚Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie‘, werden alle anderen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens schließlich bestimmt:

»Es ist eine allgemein Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besonderer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.« (27)

Um also das praktische Vorstellungsvermögen, das für die Herstellung einer Steinaxt notwendig ist, und das sie gewissermaßen selbst gegenständlich repräsentiert, ermessen zu können, müssen wir uns gänzlich freimachen von jeder anthropologischen Deutung der Arbeit und ihrer idealistischen Annahme eines ursprünglichen, antizipierenden Bewußtseins. Der Axt voraus ging nicht die Idee einer Axt, sondern die in einem langen Umgang mit Faustkeilen sowie mit Stöcken und Schlagknochen gemachte praktische Erfahrung, daß z.B. die Schlagstärke wesentlich abhängt von der Länge des Schlagarms und der Größe des Steins, daß aber beide wiederum in einem entsprechenden Größen- und Gewichtsverhältnis zueinander stehen müssen; darüber hinaus müssen beide Materialien durch ein drittes miteinander verbunden werden, welches ja nicht vorgefunden, sondern ebenfalls wie schon Schaft und Schlagstein hergestellt, und den spezifischen Bedingungen, denen die Axt ausgesetzt wird, angemessen werden muß.6 Später dann die ersten Versuche, in mühseliger Kleinarbeit den Schlagstein zu durchbohren, was allerdings schon wieder beträchtlich höhere Anforderungen stellt, denken wir allein an die Konstruktion eines Bohrgerätes für die harten Schlagsteine.

Vorstellbar nun, daß die ersten dieser primitiven und doch so komplizierten Steinäxte zunächst nur bei der Suche nach Wurzelknollen oder Pflanzen auf dem harten Boden der Zwischeneiszeit, aus der die ersten fossilen Funde dieser Werkzeuge stammen, benutzt wurden. Vorstellbar, daß sie nach unzähligen Reparaturen allmählich verbessert wurden, der Schlagstein schärfere oder spitzere Kanten annahm, für die Befestigung am Schaft irgendwann Leder statt pflanzlicher Gewebe genommen wurde. Vorstellbar auch, daß nun aber die so verbesserte Axt nicht mehr nur für ihren ursprünglichen Zweck, sondern auch zu anderem benutzbar erschien: für das Fällen und Bearbeiten von Bäumen, die zum Bau stabilerer Behausungen benutzt werden konnten, zur schnelleren und genaueren Bearbeitung von anderen Steingeräten, z.B. zum Mahlen von Korn usw. usf. Wir sehen also, wie ein ursprünglich vielleicht nur für einen bestimmten Zweck entstandenes Mittel nun für verallgemeinerte Zwecke benutzbar erscheint, ja, sogar für ganz neue, vorher selbst dem klügsten Kopf nicht vorstellbare Perspektiven der Verbesserung des Lebensunterhalts dienen kann, wie z.B. das Graben tieferer Löcher, im gefrorenen Boden zur sicheren Aufbewahrung von Vorräten, oder gar die Jagd nach größeren und gefährlicheren Tieren unter Benutzung von Wurfäxten: Das Arbeitsmittel steckt geradezu neue Horizonte der Zwecksetzung ab.

Die bei ihrer Realisierung gemachten neuen Erfahrungen erweitern wiederum das praktische Vorstellungsvermögen, und so werden auf einer erweitert reproduzierten Grundlage neue Spezialisierungen denkbar, z.B. eine besondere Axt für die Bearbeitung von Holz (vielleicht für erste, primitive Einbäume), für spezielle Steinarten, spezielle Jagd- und Verteidigungsäxte … Einmal vergegenständlicht, können die neuen Herstellungs- und Gebrauchserfahrungen von neuen Generationen wieder angeeignet werden und als Grundlage ihrer eigenen Entwicklung dienen. Es entsteht eine völlig neue, nicht-biologische Entwicklungsdynamik.

VII

Die entscheidende Voraussetzung dafür ist offensichtlich der Übergang von der ad-hoc-Werkzeugherstellung zur Werkzeugproduktion, die selbst nur ein Element in der Kette der materiellen Reproduktion der Gattung ist. Das heißt, daß die Wiederbenutzung von erfolgreichen Arbeitsmitteln durch andere Individuen eine feste funktionale Grundlage bekommen hat, und damit seine Einbeziehung in den sozialen Traditionszusammenhang unabhängig wird von der ‚Beliebigkeit‘ intersubjektiver Konsensbildung. Sie wird zu einer materiellen Überlebensnotwendigkeit der Gesellschaft.

So kann das Werkzeug als Arbeitsmittel (d.h. als Mittel des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses) durch den Sozialverband bewahrt und zugleich noch weiter in seinen Zweckbestimmungen generalisiert werden, neue Erfahrungen können mit aufgenommen und es kann als erfolgreiches Vorbild nachgeahmt und vervielfältigt werden.7 Damit ist es endgültig aus einem individuellen Verwendungskontext herausgetreten. Gerade in diesem Funktionswechsel von der individuellen Mittelherstellung zur sozialen Mittelproduktion und Mittelbenutzung und der damit einhergehenden neuen sozialen Qualität des Gemeinwesens (vgl. Holzkamp 1983, Kap. 5.2 und 5.3) eröffnet sich der wesentliche Unterschied zum Werkzeugverhalten der äffischen Primaten. Das menschliche Arbeitsmittel ist nämlich von vornherein ein »gesellschaftlicher Gegenstand« (Leontjew 1973, 209). In ihm sind die Fähigkeiten und Erfahrungen seiner Erfinder, Benutzer und Verbesserer, seiner Reparateure und Veränderer, ja, selbst noch seiner Bewahrer und Bewacher eingeflossen und haben sich überindividuell vergegenständlicht. Als materialisiertes Wissen, das die ganze Gattung in ihrer vorangegangenen Geschichte erworben hat, repräsentieren die Werkzeuge einen für die Menschen zugleich lebensnotwendigen sekundären Erfahrungsspeicher. Nur auf ihren primären Erfahrungsspeicher, die genomische Information ihrer genetischen Anlagen, angewiesen, könnten die Menschen sich nicht mehr reproduzieren. Neben der naturgeschichtlichen Voraussetzungen ihrer Lern- und Kognitionsleistungen entstand ihnen so ein ‚gesellschaftlicher Informationsspeicher‘, der in seinen Speicherkapazitäten sogar bald das Zentralnervensystem übertraf (Schurig 1976, 317).

Wir können also mit Recht davon sprechen, daß sich mit der Zweck-Mittel-Verkehrung eine neue, nicht-biologische Entwicklungsdynamik freisetzt, die die naturgeschichtliche Evolution zwar nicht außer Kraft setzt, sie aber zunehmend überlagert und schließlich zur einzig bestimmenden wird. Bei unseren ersten Australopithecus-Affenmenschen ist dies natürlich noch keineswegs der Fall. Die werkzeugvermittelten Formen der Naturauseinandersetzung waren für die Austroalopithecinen wohl nur ein Moment unter vielen anderen, das im Vergleich zum Sammeln oder Jagen nicht einmal das dominierende war. Dennoch haben wir ein sicheres Kriterium dafür, daß der fast wie ein Tier-Mensch-Übergangswesen daherkommende Australopithecus der erste Protagonist jenes Prozesses der Selbstunterscheidung des Menschen vom Tier war, der in dem zitierten Satz aus der ‚Deutschen Ideologie‘ angesprochen ist. Von der Zeit an, aus der die ersten sicheren fossilen Werkzeugfunde stammen (die älteste, bisher bekannte »Kultur« ist das sogenannte Oldowan, die in 2 bis 3 Millionen Jahren alten Geröllschichten am Turkana-See in Ostafrika lokalisiert worden ist), zieht sich eine, durch eine Vielzahl von Funden annähernd rekonstruierbare (wenngleich nicht lineare) Entwicklungskette von Werkzeugen aus der Zeit des Australopithecus durch die des »homo erectus« und des »homo s. neanderthalensis« bis hin zum »homo s. sapiens«, dessen erste Vertreter vor ca. 60- bis 40000 Jahren zum ersten Mal in Erscheinung traten. Der daran nachweisbare Entwicklungsprozeß der Produktion sowie ihrer sozial-organisatorischen Dimension legt die Annahme nahe, daß gerade hier, in dem spezifischen Entwicklungstypus der erweiterten Reproduktion der gesellschaftlich erarbeiteten Erfahrungen in einer zusätzlichen materiellen Erfahrungsstruktur das wesentliche Gattungsmerkmal des Menschen zu sehen ist.

Vor dem Hintergrund dieser Auffassung des ‚menschlichen Wesens‘ als eines bestimmten, im Reich des Lebendigen einzigartigen Entwicklungswesens, müssen wir allerdings den Zeitrahmen, von dem an wir mit Marx sagen können, daß die Menschen »indirekt ihr materielles Leben selbst produzieren«, um einiges einengen. Die Epoche der eigentlichen Anthroposoziogenese, in der, so Herrmann, die Arbeit beginnt, den Menschen auszuprägen, liegt in der Zeit zwischen 800000 bis 350000/250000 Jahren v.u.Z. Es ist dies die Epoche, in der die Historiker die Ausbildung der Kulturen des entwickelten Oldowan, des Abbevillien und des Acheuléen datieren. Sie ist charakterisiert durch die erstmalige Nutzung des Feuers und durch die Ausbreitung der ‚humanen‘ Hominiden über die subtropischen und gemäßigten Zonen der Erde, die uns jetzt, nach dem Aussterben des »homo simius«, im Typ des »homo erectus«, des Urmenschen, begegnen. Die Arbeit ist nun zwar zur Grundlage der Existenz geworden, hat aber ihre ersten elementaren Formen noch nicht völlig überwunden. Dennoch entwickelt sich hier ein qualitativ neuer Faktor der Produktion, der für die volle Entfaltung der spezifisch gesellschaftlichen Reproduktionsdynamik eine zentrale Voraussetzung ist: Erstmalig werden Geräte hergestellt, die speziell zur Herstellung anderer Arbeitsgeräte dienen. Es ist dies eine Fähigkeit, die Menschenaffen selbst unter experimentellen Bedingungen kaum, in freier Wildbahn aber nie zu entwickeln vermögen.

Aber auch auf dieser Stufe ist es noch nicht der für den entwickelten Menschen charakteristische Typ der werkzeugvermittelten Reproduktion seines Stoffwechselprozesses mit der Natur, der die Gesamtentwicklung bestimmt. Noch immer ändern sich die ökologischen Systemzusammenhänge schneller, als der Mensch seine Arbeitsfertigkeiten entwickeln kann. Noch immer ist es der evolutive Prozeß der Phylogenese, der das Geschehen bestimmt und nicht die Wirkung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Die Ausbildung der ersten Elemente hierzu muß also in ihrer Auswirkung auf die Hominidenevolution noch biologisch begriffen werden, nämlich als eine Mutante mit Selektionsvorteil. Und so ist auch die spezifisch gesellschaftliche Natur des Menschen, die sich hier ausbildete, ohne ihr evolutionäres, also naturgeschichtliches Gewordensein nicht erklärbar.

Der Dominanzwechsel in dem dialektischen Wechselverhältnis von biologischer und gesellschaftlich-historischer Gesetzmäßigkeit vollzieht sich offenbar erst dann, wenn auch die Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses zur bestimmenden Form der Produktion eines Gemeinwesens geworden ist. Erst wenn die Arbeitsmittel sowohl gesellschaftlich hergestellte Produkte wie gesellschaftlich hergestellte Voraussetzungen des Reproduktionsprozesses geworden sind, können wir davon ausgehen, daß die vom Menschen produzierte Entwicklungsdynamik ihre naturgeschichtliche Basis endgültig überformt hat. Erst jetzt, wenn die Arbeitsmittel zu den gesellschaftlich bestimmenden Reproduktionsmitteln geworden sind, reproduziert sich das Gemeinwesen wirklich aus selbstproduzierten Bedingungen. Marx hat daher diese Bedingungen von den »historischen Voraussetzungen« eines geschichtlichen Prozesses, die der »Geschichte seiner Bildung« angehören, unterschieden. Auch die inneren Bedingungen der Reproduktion sind natürliche historische Voraussetzungen des Gemeinwesens, aber sie sind es »jetzt als Resultate seiner eigenen Verwirklichung, Wirklichkeit, als gesetzt von ihm – nicht als Bedingungen seines Entstehens, sondern als Resultate seines Daseins« (Grundrisse, 364; vgl. Damerow u.a., 239/40 und 256).

Die Zeit, in der die gesellschaftliche Werkzeugproduktion zum eindeutig bestimmenden Faktor der Gattungsentwicklung wird, ist die Epoche der Herausbildung der Urgesellschaft (ca. 40000 bis 20000 Jahre v.u.Z.).» Von nun an entwickelt sich der Arbeitsprozeß zunehmend schneller als die Veränderungen des Naturmilieus. Dieses wird durch die gesellschaftliche Produktion in unseren Zeiten schließlich wie von einer »zweiten Natur« überlagert und ebenso gegenständlich überformt, wie der naturgeschichtliche Evolutionstyp durch die gesellschaftliche Reproduktionsdynamik. Nun ist die Anthropogenese beendet. Der Prozeß der Selbstunterscheidung des Menschen vom Tier ist abgeschlossen. Die weiteren Phasen in der Entfaltung der menschlichen Reproduktionsdynamik führen nicht mehr zu einer qualitativ neuen oder anderen Unterscheidung des Menschen von den nicht-menschlichen Lebewesen, sondern vor allem zu einem gegenüber der Naturgeschichte und auch gegenüber der Anthropogenese völlig neuem Typ der Selbstunterscheidung: der des Menschen von Menschen auf sozialökonomischer Grundlage.

VIII

Vor dem Hintergrund unserer Kenntnisse über die Entwicklung in der Anthropogenese kehren wir abschließend nun zu unserem Ausgangspunkt zurück und werfen erneut die anthropologische Frage nach dem Unterschied von Mensch und Tier auf, und zwar noch einmal anhand der Experimente vom Typ Köhlers. Erinnern wir uns an das Verhalten des Schimpansen Sultan. Unzweifelhaft hat das Hilfsmittel, durch dessen Konstruktion der Schimpanse die Banane erreichen konnte, für ihn eine bestimmte ‚Bedeutung‘.9 Sie entspricht den Orientierungsbedeutungen, die bestimmte Gegebenheiten in der natürlichen Umwelt der Tiere gewinnen können. Durch diese Art von Bedeutung wird dem Tier ’signalisiert‘, welche Relevanz der betreffende Sachverhalt für die eigene organismische Lebenserhaltung hat. Solche Orientierungsbedeutungen sind auch erlernbar, wie wir bei tierischen Traditionsbildungen verfolgen können.

An den Köhlerschen Versuchen war nun allerdings erkennbar, daß für den Schimpansen die Hilfsmittelbedeutung der Stockkonstruktion nur in dem unmittelbaren situationalen Zusammenhang »Banane – im Käfig eingeschlossen sein« aktualisiert wird. Zudem steht sie in einem ununterscheidbaren Zusammenhang mit den eigenen organismischen Bedürfnissen und den Aktivitäten, die dadurch ausgelöst werden. Die Bedeutungseinheit »Banane« und »Versuchen, irgendwie an die Banane zu gelangen«, ist identisch. Sie bildet die grundlegende, verhaltensbestimmende Bedeutungsstruktur, in der die Hilfsmittelbedeutung der Stockkonstruktion nur ein untergeordnetes, abhängiges Moment darstellt. Eine eigenständige Bedeutung gewinnt der Stock nicht.

Beim Menschen ändert sich dies nun. Das erkennen wir schon an einer Kleinigkeit in unserem ersten Gedankenexperiment, in dem wir uns Köhler selbst in dem Versuchskäfig vorgestellt haben: Er wartet zunächst. Er macht dies, abgesehen von Gründen der Selbstachtung, nicht zuletzt deshalb, weil er um die Bedeutung »weiß«, die die potentielle Stockkonstruktion für den Fall hat, daß er sich ernsthaft für die Banane interessieren muß. Doch was ist dies für ein »Wissen«? Während auch für die evolutiertesten Säugetiere mögliche Werkzeuge keine, vom aktuellen Bedürfnis-und Situationszusammenhang losgelöste Gegenstandsbedeutung besitzen, und bestenfalls durch individuelle Erfahrung kurzfristig erworben werden können, ist es eine Spezifik des Menschen, daß für ihn Orientierungsbedeutungen die gegenständliche und psychische Selbständigkeit von Arbeitsmittel-Bedeutungen gewinnen können.

Die psychische Eigenständigkeit dieser Mittelbedeutungen und ihre Unabhängigkeit von einem einmaligen und individuellen Verwendungszweck hängt zusammen mit dem Charakter der Werkzeuge als gegenständliche Erfahrungsspeicher und als spezifisch menschliche Reproduktionsmittel. Um uns diesen Zusammenhang genauer zu vergegenwärtigen, denken wir noch einmal an unsere Steinaxt. Ihre Bedeutung als Arbeitsmittel für verallgemeinerte Zwecke ist in ihr selbst vergegenständlicht. Sie besteht auch schon bevor z.B. ein bestimmter Junghominide zum ersten Mal eine Steinaxt gebraucht, die ihm vielleicht ein Althominide vererbt hat. Denn dieses Erbe besteht ja nicht nur aus einem seltsam an einem Stock befestigten Stein, sondern zu ihm gehört natürlich auch die Gegenstandsbedeutung der Axt als eines bestimmten Arbeitsmittels. Der einfache Gegenstand ‚Axt‘ repräsentiert zugleich auch gesellschaftlich geschaffene Handlungsmöglichkeiten, die um so eindeutiger sind, je weiter die gesellschaftliche Arbeitsteilung und dementsprechend die Spezialisierung der Werkzeuge entwickelt ist. So werden mit der erweiterten Reproduktion der Werkzeuge nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Bedeutungen und die mit ihnen gewonnenen gesellschaftlich erworbenen Tätigkeitsstrukturen erweitert reproduziert.

Dabei verweisen die Mittelbedeutungen in einem doppelten Sinne auf Tätigkeitsstrukturen: auf Gebrauchstätigkeiten und auf Herstellungstätigkeiten. In ihrem Gebrauchsaspekt verkörpert die Axt eine Reihe möglicher Schlaghandlungen, vom Holzzerkleinern bis zum Gattenmord. In ihrem Herstellungsaspekt verweist sie zugleich auf die Materialien und Prozesse, die in ihre eigene Verfertigung eingeflossen sind. Die Arbeitsmittel-Bedeutungen verweisen also auf eine Vielzahl anderer Bedeutungen und Bedeutungsüberlagerungen, so daß vielschichtige, geradezu unbegrenzte soziale Bedeutungsfelder entstehen. In ihren gegenständlichen Strukturen erwächst den Menschen das »Abbild der Welt« (Leontjew 1982).

Wenn wir uns das in den Mittelbedeutungen und den mit ihnen gegebenen Verweisungen auf andere gegenständliche Bedeutungszusammenhänge gegebene materielle Wissen und Können vergegenwärtigen, dann wird nun auch deutlich, was es mit der Fähigkeit zur »geistigen Planung« und zur »ideellen Antizipation« zum Beispiel eines Werkzeugmachers auf sich hat. Sie erweist sich dann nämlich vor allem als Fähigkeit, die in den gegenständlichen Bedeutungen der vorgegebenen, erfolgreichen Arbeitsmittel enthaltenen Möglichkeiten auszuloten, gewissermaßen ihren praktischen Möglichkeitshorizont zu erschließen und zu realisieren. Der subjektiven Zwecksetzung geht also allemal ein historisch gewachsener Rahmen materieller Voraussetzungen voran. Wird dieser aus der Betrachtung ausgeklammert, und nur der einzelne, isolierte Arbeitsakt betrachtet, dann erscheint selbst (bzw. gerade) die Arbeit eines Werkzeugmachers als Sinnbild »subjektiver Teleologie«, obgleich es doch nichts Unteleologischeres gibt als dessen wirkliches Tun.

Wie wir jedoch gesehen haben, verfliegt dieser Schein sofort, wenn wir uns auf den Standpunkt der materiellen Reproduktion des jeweiligen Gemeinwesens stellen. Also auf den Standpunkt der gesellschaftlichen und nicht auf den der individuellen Arbeit, deren Wirklichkeit allein die einer Abstraktion ist. Es verfliegt dann auch der Schein, aufgrund von Experimenten, wie den geschilderten, Aussagen über das Wesen der Arbeit machen zu können. Eben eine solche anthropologische Deutung der menschlichen Arbeit liegt aber vor, wenn man das zitierte ‚Bienenbeispiel‘ Marxens zur Grundlage einer Wesensbestimmung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses macht. Zwar hat wohl jeder Werkzeugmacher auch eine genaue Idee vom Resultat seiner Arbeit und jeder Baumeister ist gut beraten, wenn er spätestens dann, wenn es um das Ausschachten der Baugrube geht, über einen Plan des zu errichtenden Bauwerks verfügt. Die Existenz einer Idee und eines Bauplans im Kopfe ist jedoch, um mit Peter Ruben zu sprechen, eine notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Bestimmung der entwickelten Arbeit. Daß gerade Marx in der »subjektiven Teleologie« das Wesen der Arbeit gesehen haben soll, muß jeder bestreiten, der nicht nur seinen Satz mit dem ‚Bienenbeispiel‘ gelesen hat, sondern den theoretischen Rahmen des ganzen ‚Kapitals‘ mit bedenkt. Marx selbst spricht am Ende des 3. Bandes eben jenen Fehler an, der resultiert aus »einer Verwechslung und Identifizierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses mit dem einfachen Arbeitsprozeß, wie ihn auch ein abnorm isolierter Mensch ohne alle gesellschaftliche Beihilfe verrichten müßte« (890).

Nicht dadurch unterscheidet sich also Marx von Köhlers Experimentalsicht (und der ihr entsprechenden Herangehensweise der Anthropologie des »abnorm isolierten Menschen«), daß er keine analytischen Querschnittsmodelle verwendet; denn als ein solches, historisch vertikales Querschnittsmodell zur Charakterisierung des einfachen Arbeitsprozesses ist sein ‚Bienenbeispiel‘ zu verstehen. Aber er unterscheidet sich dadurch, daß er diese Modelle im dialektischen Zusammenhang einer historisch-genetischen Theorie verwendet, deren Gegenstand die Bewegungsformen der Gesellschaft als Konsequenz ihrer materiellen Reproduktionsweise sind. Die Arbeit ist bei Marx also alles andere als eine ‚anthropologische Kategorie‘, so wie sich bei Marx auch keine ‚Anthropologie‘ der gesellschaftlichen Natur des Menschen und seiner Wesenskräfte findet, die unabhängig von den wirklichen Entwicklungsprozessen der Natur, der Gesellschaft und des Bewußtseins zu denken wäre.

Anmerkungen

1 H.Aebli, der die Köhlersche Gestaltpsychologie aus der Sicht der handlungstheoretischen Kognitionspsychologie beurteilt, schreibt: »Köhler untersucht sozusagen den rationalen Kern des Handelns, die wahrnehmende und denkende Strukturierung der Situation. Der Rest ist Anhängsel und nicht wert, untersucht zu werden. Das ist die Grundhaltung der Bewußtseinspsychologie, die in Europa von Herbart bis zum zweiten Weltkrieg vorgeherrscht hat. Was zählt, sind die Bewußtseinsvorgänge, in denen sich die ganze Realität spiegelt. Der Rest, z.B. die richtige Handlung, folgt von selbst, sobald die Zusammenhänge richtig gesehen werden.« (Aebli S.38)

2 »Die biologische Menschwerdung, d.h. die Abspaltung der Hominidenlinie von den Pongiden und die psycho-physische Menschwerdung mit der Entstehung des Bewußtseins … sind unterschiedliche Problemstellungen. Zwischen ihnen besteht eine auch zeitlich erhebliche Entwicklungsspanne, die in den Begriffen ’subhumane Phase‘ und ‚humane Phase‘ bzw. in den Termini ‚hominid‘ als Synonym für anthropologisch-biologische Merkmale und ‚human‘ als Zusammenfassung von psychologischen und gesellschaftlich-historischen Prozessen verallgemeinert wird.« (Schurig 1976, S.89)

3 Der Terminus des Tier-Mensch-Übergangsfeldes (TMÜ) bezeichnet »den Entwicklungszeitraum in der Hominidenevolution, wo einerseits am Beginn pongide Merkmale noch dominieren, sich aber auch bereits ein System hominider Merkmale durchsetzt und die weitere Evolution bestimmt, sowie den fließenden Übergang bis zu einem Mosaik psycho-physischer Merkmale, so daß der Gesamtcharakter als Balance zwischen hominiden und humanen Merkmalen beurteilt wird.« (Schurig 1976, S.81)

4 Schimpansen verfügen offenbar über Gehirnpotenzen, die unter natürlichen Lebensbedingungen nicht völlig ausgeschöpft werden, aber unter Experimentalbedingungen deutlich zu Tage treten. Vor allem in intensiven Lernbeziehungen zu Menschen sind sie zu kognitiven Leistungen fähig, die sie in freier Wildbahn nie entwickeln und die sich nach Ende der spezifischen Lernsituation meist bald wieder zurückentwickeln. Phylogenetisch ist dies entweder als eine Stagnation zu erklären, wobei die Schimpansen auf dem psycho-physischen Entwicklungsstand während der Trennung von Pongiden und Hominiden stehen geblieben sind, ihre mentalen Potenzen aber die Möglichkeiten der kognitiven Entwicklung in der Hominisation andeuten. Oder aber es handelt sich um eine Spanne in der Evolution zwischen bereits möglichen, aber durch den Selektionsdruck noch nicht erzwungenen psychischen Fähigkeiten, deren Gesamtentwicklung sich nur gegenüber der Hominidenevolution verlangsamt hat.

5 Hierbei wird ein besonderes Problem ethologischer Experimente dieser Art deutlich, auf das hier nur am Rande hingewiesen werden soll. Leistungen, wie die der Köhlerschen Affen, sind natürlich durch den Experimentator und seine bewußt gewählte sachliche Ausstattung der Experimentalbedingungen vorbestimmt. Die Experimentanordnung repräsentiert zumeist schon die vergegenständlichte Erwartung des (menschlichen) Experimentators von einem ’sinnvollen‘ oder ‚vernünftigen‘ Verhalten des (tierischen) Versuchskandidaten.

6 Schon für die Herstellung eines Faustkeils nach der Levallois-Technik ist eine Handlungskette zu unterstellen, die vom Steinrohstück bis zum fertigen Werkzeug »drei und mehr verschieden geartete Operationsfolgen sowie bis zu mehreren hundert Einzeloperationen (umfaßte). Hinsichtlich der geistigen Tätigkeit ist daraus eine höhere Stufe abzuleiten als zuvor. Die mit der manuellen Tätigkeit verbundene geistige Koordinierung, Steuerung und Kontrolle [führte zu] differenzierten und genauen Vorstellungen über die Form des Gegenstands und die Zusammenhänge zwischen den Gliedern des Zyklus, damit zugleich wahrscheinlich [zu] einer Vermehrung und Differenzierung der Begriffe sowie der Verbindungen zwischen ihnen.« (Gramsch, 119)

7 Schurig weist darauf hin, daß die Entstehung des Werkzeugverhaltens allein im Sinne der Herstellung von gegenständlichen Arbeitsmitteln selbst wieder abstrakt bleibt, wenn sie nicht im Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand der inneren sozialen Differenzierung der Primaten und Hominiden gesehen wird. »Es ist schwer verständlich, wie die frühen Hominiden die Fähigkeit der materiellen Veränderung ihrer Umwelt erworben haben sollen, wenn sie nicht vorher bereits eine generalisierte soziale Erfahrung des instrumentellen Gebrauchs von Gegenständen bzw. Artgenossen besitzen. Zahlreiche Verhaltensbeobachtungen haben gezeigt, daß bereits bei tierischen Primaten die soziale Umwelt an funktioneller Bedeutung vor den Ereignissen der ökologischen Umwelt steht. (1976, 205/6)

8 Den zwischen der Epoche der »Anthroposoziogenese« und der »Herausbildung der Urgesellschaft« liegenden Zeitraum nennt Herrmann die »Epoche der sozialökonomischen Formierung« (35 0000/25 0000 bis 3 0000/20000 vor Heute). Ein detailliertes Schema zur Periodisierung der Hominidenentwicklung findet sich bei Ullrich, S.55-57.

9 Zum Bedeutungsbegriff-vgl. ausführlicher Holzkamp 1973, Kap. 5.l… sowie 1983, Kap. 5.2.

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