Die Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie

Artikel von Klaus Holzkamp in Forum Kritische Psychologie 13 (1984).

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Vortrag, gehalten an der Karl-Marx-Universität Leipzig am 5. Oktober 1983.

I.

Die im Thema dieses Vortrags gestellte Frage nach der Bedeutung der Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie mag Zweifel darüber hervorrufen, von welchem Standpunkt aus hier gefragt wird: Ist nicht von der Position des Marxismus-Leninismus aus die Psychoanalyse von Anfang an scharf kritisiert worden, und wurde dabei nicht nachgewiesen, daß jede Integration von Psychoanalyse und Marxismus, also ein »Freudo-Marxismus«, welcher Spielart auch immer, unhaltbar sein muß, da die Psychoanalyse wegen ihrer unaufhebbaren Verhaftetheit in der bürgerlichen Ideologie mit dem Marxismus genuin unvereinbar ist? So soll denn gleich zu Beginn meiner Überlegungen klar gesagt werden, daß ich die marxistisch-leninistische Einschätzung, die Psychoanalyse sei in wesentlichen Aspekten biologistisch, individualistisch, psychologisiere gesellschaftliche Konflikte, postuliere einen universellen Gegensatz zwischen der unterdrückenden Gesellschaft und dem ungesellschaftlich-triebbestimmten Individuum, leiste dem Irrationalismus Vorschub usw., im Prinzip für richtig halte. Demgemäß teile ich auf die Auffassung, daß jeder Versuch, in »freudo-marxistischer« Weise den Marxismus, um ihn zum Verständnis der subjektiven Beweggründe der Menschen bzw. Massen zu befähigen, durch psychoanalytische Konzepte zu ergänzen, notwendig auf Kosten der wissenschaftlichen und ideologischen Grundlagen des Marxismus gehen muß.

Um diese Position noch zu bekräftigen, weise ich darauf hin, daß auch gegenwärtig die Kritische Psychologie in permanenten scharfen Auseinandersetzungen mit psychoanalytischen Auffassungen, auch und gerade mit linkem bzw. antikapitalistischem Anspruch, steht; dies sowohl mit explizit »freudo-marxistischen« Positionen, wie der »Kritischen Theorie des Subjekts« (Horn, Lorenzer, Brückner, Leithäuser etc.) wie mit weniger offensichtlichen und programmatischen Versuchen, marxistische Auffassungen psychoanalytisch zu »modernisieren«, etwa in der Althusser-Tradition o.ä., zugespitzt in der Kontroverse mit dem »Projekt Ideologietheorie« (Osterkamp, W. F. Haug, Wilhelm, Elfferding, alle 1982). Dabei wenden wir uns immer wieder explizit gegen die Annahme, neuere Versionen der Psychoanalyse, etwa die von Horney, Fromm, Lacan, Lorenzer etc., seien weniger angreifbar als die ursprüngliche Freudsche Fassung – wir halten ||16| vielmehr die darin vollzogenen Abweichungen von Freuds Positionen durchweg für Rückschritte (ich gehe noch darauf ein). – Unsere Kritik an modernen Ausprägungen des Freudo-Marxismus ist in dem Buch von Karl-Heinz Braun »Kritik des Freudo-Marxismus« (1979, russ. 1982) zusammengefaßt und auf den Punkt gebracht. Davon ist hier nichts zurückzunehmen.

Auch innerhalb der politisch-ideologischen Tagesauseinandersetzungen, in die wir verwickelt werden, sind psychoanalytische Positionen unsere Hauptkontrahenten. So müssen wir uns z.B. mit den Auffassungen von Alice Miller, deren Bücher gegenwärtig Bestseller sind, und die große Resonanz auch bei vielen Angehörigen der demokratischen Bewegung findet, auseinandersetzen: Gabi Minz hat herausgearbeitet, in welchen Ausdrucksformen und Verkleidungen die psychoanalytischen Vorstellungen von der genuinen Ohnmacht des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Mächten und die darin liegende Psychologisierung klassenbestimmter Unterdrückung sich in Millers Darlegungen über das Leiden der Kinder und an der Kindheit unter bürgerlichen Lebensbedingungen wiederfinden (Minz 1982). – Besonders prekär sind unsere laufenden Auseinandersetzungen mit Horst Eberhard Richter. Er engagiert sich auf der einen Seite aktiv im Friedenskampf und liefert auf der anderen Seite in seinen (ebenfalls als Bestseller verbreiteten) Büchern »Alle redeten vom Frieden« (1981) und »Zur Psychologie des Friedens« (1982) Interpretationen der internationalen Konfliktlage und der Ursachen der atomaren Bedrohung, die wegen ihrer psychoanalytischen Ausrichtung in gravierender Weise desorientierend innerhalb der Friedensbewegung wirken müssen: Richter analysiert die Antagonismen zwischen »West« und »Ost« nicht etwa als Erscheinungsformen und Zuspitzungen internationaler Klassenkämpfe, sondern in sattsam bekannter psychoanalytischer Manier als kollektive Neurosen, die in unbewältigten Konflikten innerhalb der frühen Kindheit ihre »tiefste« Ursache haben. So stecken denn nach Richter »die geheimen destruktiven Tendenzen in Wirklichkeit in uns selbst …« (1981b, 42), und es ist demnach »unser eigener rasender Sadismus, den wir jeweils im Spiegelbild des teuflischen Feindes erblicken« (1982, 56). Demgemäß stellt er den gegenwärtigen Friedenskampf unter das Motto der »Heilung der psychischen Krankheit Friedlosigkeit« (28), indem wir nach den zugrunde liegenden »Erlebnisvorlagen« in »unserer Kindheit« suchen (46). Ich habe mich auf dem ersten Friedenskongreß psychosozialer Berufe im Juni 1983 in Dortmund mit den psychoanalytischen Psychologisierungen bzw. Psychiatrisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie von Richter auf das Friedensproblem und die Atomkriegsdrohung angewendet werden, auseinandergesetzt und dabei in dem Auditorium der vielen hundert Kongreßteilnehmer zwar Zustimmung erhalten, aber auch erbitterten Widerstand hervorgerufen. ||17|

II.

Wenn also dergestalt die Fronten klar sind, mithin »freudo-marxistische« Integrationsversuche jedweder Art in der Rede von der »Bedeutung« der Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie nicht angezielt werden: Was ist denn damit gemeint? Nicht von mir gemeint ist der Rückzug auf die gängige Einlassung, Freuds System sei zwar im Ganzen wissenschaftlich und weltanschaulich unhaltbar, er habe aber wertvolle Einzelerkenntnisse, etwa über die Dynamik des Psychischen, die Entstehung der Neurosen, das Therapeut-Patient-Verhältnis, gewonnen: Wie sollen aus falschen Prämissen richtige Konsequenzen ableitbar sein? Ebensowenig halte ich die Auffassung für zulänglich, Freud habe zwar richtige und wichtige Fragen gestellt, aber aufgrund seiner verfehlten Gesamtauffassung die falschen Antworten darauf gegeben: Wie sollte es ihm, wenn seine Voraussetzungen verfehlt sind, denn möglich gewesen sein, auch nur zu richtigen Fragen zu kommen? Ich will hier also weder Freud Eklektizismus unterstellen, noch selbst mir meine Argumentation eklektizistisch erleichtern: Wenn ich von der Bedeutung Freuds für die marxistische Psychologie spreche, so meine ich dies ganz grundsätzlich. Meiner Auffassung nach hat die adäquate Rezeption und Berücksichtigung der Psychoanalyse entscheidende Konsequenzen für die angemessene konzeptuelle und methodologische Grundlegung marxistischer Psychologie. Bringe ich mich mit dieser These aber nicht in einen unaufhebbaren Gegensatz zu der doch gerade eben akzeptierten fundamentalen marxistischen Kritik an der Psychoanalyse und dem Freudo-Marxismus? – Ich will mich der Klärung der damit umrissenen Problemlage schrittweise annähern und dabei zunächst meine bisherigen psychoanalysekritischen Darlegungen in ein anderes Licht rücken, sozusagen »gegen den Strich« interpretieren.

Indem ich zur Veranschaulichung unserer Übereinstimmung mit der marxistischen Kritik an der Psychoanalyse unsere gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit psychoanalytischen Positionen skizzierte, wurde deutlich, daß unsere Argumente dabei im Prinzip immer noch die gleichen sind wie diejenigen, die schon von den frühen zwanziger Jahren an etwa von Jurinetz, Thalheimer, Volosinov, Sapir, und seither immer wieder von vielen anderen Marxisten gegen die Psychoanalyse vorgebracht wurden. So sollte man sich denn allmählich fragen: Wenn die marxistische Psychoanalyse-Kritik tatsächlich treffend und schlagend ist, warum zeigt sie dann so wenig historische Wirkung? Warum ist die Psychoanalyse dadurch nicht längst geschichtlich überholt und ad acta gelegt, wie etwa die Alchimie, sondern erfreut sich trotz ihrer permanenten Widerlegung heute größter Lebenskraft, ja ist sogar bei uns gegenwärtig eindeutig in der ideologischen Offensive?

Es mag naheliegen, diese Problematisierung durch einen weiteren Griff in das Arsenal marxistischer Psychoanalyse-Kritik entschärfen zu wollen, ||18| nämlich durch den Hinweis, die Psychoanalyse sei doch eine bestimmte Ausprägungsform der bürgerlichen Ideologie, besonders des kleinbürgerlichen Bewußtseins weiter Kreise gerade auch der intellektuellen Meinungsmacher. So sei es erklärlich, daß psychoanalytische Positionen immer wieder als Waffe im ideologischen Klassenkampf gegen die fortschrittlichen Kräfte eingesetzt würden und dabei aufgrund von Befangenheiten in der bürgerlichen Ideologie entsprechende Resonanz fänden. Auch dieses marxistische Argument ist, wie alle anderen, sicherlich richtig. Aber ist es auch hinreichend, um die Art und den Grad der Wirksamkeit der Psychoanalyse zu begreifen?

Zweifel an der Angemessenheit einer bloßen ideologiekritischen Reduktion der Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse ergeben sich für mich schon daraus, daß die Übernahme oder Ablehnung psychoanalytischer Auffassungen bei uns keineswegs einfach mit den Fronten im Klassenkampf zusammenfällt. Es sind nicht etwa nur konservative Kreise oder Anhänger der kleinbürgerlichen »Linken«, bei denen die Psychoanalyse Resonanz findet; deren Einfluß reicht vielmehr weit in die Reihen der Demokraten, Sozialisten und Kommunisten hinein. So werden jeweils neue Varianten psychoanalytischer Konzeptionen, wie die genannten Bücher von Miller und von Richter, aber ebenso Werke wie »Haben oder Sein« von Fromm, auch von vielen unserer politischen Freunde zunächst (ohne klare Identifikation ihrer psychoanalytischen Grundlagen) als wichtige und fortschrittliche Beiträge zur Erhellung der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft begrüßt. Und wenn wir dann jedesmal versuchen, warnend herauszuanalysieren, was wirklich »dahintersteckt«, so ist dies eine wahre Sysiphos-Arbeit, die beim Erscheinen jedes neuen einschlägigen Buches in die nächste Runde geht und deren Erfolg dabei stets fragwürdig und brüchig bleibt.

Die Zweifel an der ideologiekritischen Reduzierbarkeit der Wirkung der Psychoanalyse verstärken sich für mich, wenn ich die bürgerliche akademische Psychologie zum Vergleich heranziehe. So hat etwa der Behaviorismus in seinen verschiedenen Spielarten und Verkleidungen, obwohl er innerhalb der Psychologie die bestimmende Erscheinung ist, keine öffentliche Resonanz und politisch-ideologische Wirksamkeit, die sich mit denen der Psychoanalyse der Größenordnung nach vergleichen ließen. Ist die traditionelle akademische Psychologie etwa weniger verhaftet in der bürgerlichen Ideologie als die Psychoanalyse? Und wie ist es zu erklären, daß z.B. behavioristische Vorstellungen keine über die psychologischen Fachgrenzen hinausgehende massenhafte öffentliche Resonanz unter Demokraten, Sozialisten und Kommunisten finden, und daß hier eigentlich nur Spezialisten Gründe sehen, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, wesentliche Klärungen zum Problem menschlicher Subjektivität jedenfalls davon nicht erwartet werden? – Wenn man diese Problematisierungen ||19| noch etwas weiter spinnt, so verdeutlicht sich prinzipieller die Erklärungsbedürftigkeit des Umstandes, daß es gerade einen Freudo-Marxismus gibt, keineswegs aber einen Hull-Marxismus, Lewino-Marxismus oder Skinnero-Marxismus. (Den Versuch von Neurath in den 20er Jahren, den Marxismus als behavioristisch-physikalistische Soziologie für den Neopositivismus zu vereinnahmen, kann man wohl mit Recht eher als Kuriosum, mindestens aber als Randerscheinung einstufen.) Warum also versuchen Marxisten, wenn ihnen in verschiedenen Zusammenhängen ihre bisherigen Konzepte individueller Subjektivität unzulänglich erscheinen oder problematisch werden, immer wieder und trotz aller naheliegenden Schwierigkeiten und Einwände in der einen oder anderen Weise gerade auf psychoanalytische Grundgedanken zurückzugreifen, wo doch mannigfache Angebote psychologischer Theorien und Befunde vorliegen, die vorgeblich besser wissenschaftlich fundiert und unter Marxisten viel weniger umstritten sind?

Diese Problematik gewinnt noch einen anderen Akzent, wenn man den Blick von der öffentlichen Wirksamkeit auf die interdisziplinäre Wirksamkeit innerhalb der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften richtet. Praktisch überall, wo in der Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Sprachtheorie, Religionswissenschaft, Ethnologie, insbesondere aber auch Soziologie, speziellere psychologische Fragestellungen klärungsbedürftig erscheinen, greift man in der bürgerlichen Gesellschaft meist mit letzter Selbstverständlichkeit auf die Psychoanalyse zurück. Dabei wird häufig Psychologie mit Psychoanalyse geradezu gleichgesetzt. Versuche, andere psychologische Grundansätze interdisziplinär fruchtbar zu machen, bleiben demgegenüber Einzelerscheinungen mit begrenztem Einfluß. Wie kommt es denn, daß unter den bürgerlich-psychologischen Angeboten gerade die Psychoanalyse von anderen Disziplinen als anregend, nützlich, erhellend, weiterführend herangezogen wird, während man die akademische Psychologie trotz all ihres wissenschaftlichen Aufwandes oder Aufputzes weitgehend in ihrem einzelwissenschaftlichen Ghetto beläßt?

Die damit benannten verschiedenen Aspekte der Problematik bisheriger marxistischer Psychoanalyse-Kritik ordnen sich für mich um den Fluchtpunkt meiner eigenen Erfahrungen mit den Arbeiten Freuds. Für mich sind seine Auffassungen bei jeder neuen Lektüre wiederum ein Ärgernis und eine Provokation. Dennoch gewinne ich dabei jedesmal neue Einsichten, wichtige Denkanstöße und überraschende Durchblicke. Ich kann trotz all meiner gravierenden Einwände nicht umhin, Freud als einen großen Forscher mit rücksichtslosem Erkenntnisstreben zu sehen, an den nicht nur die akademische Psychologie trotz der auf den ersten Blick eindeutigeren Wissenschaftsförmigkeit ihres Vorgehens nicht heranreicht, sondern dem auch die marxistische Kritik, so berechtigt sie ist, nicht gerecht wird. ||20|

Somit können wir aus den bisherigen Überlegungen festhalten: Wenn das Problem der Bedeutung der Psychoanalyse für die marxistische Psychologie angemessen klärbar sein soll, hat es keinen Zweck, die alten kritischen Argumente immer wieder nur auf der gleichen Ebene zu wiederholen oder abzuwandeln: Sie sind offensichtlich, obwohl zutreffend, nicht geeignet, das Phänomen Psychoanalyse in seiner Eigenart und historischen Größenordnung hinlänglich zu erfassen. Wir müssen vielmehr eine neue Ebene der Auseinandersetzung zu ereichen suchen. Es gilt, um mit Marx zu sprechen, mehr »Abstraktionskraft« aufzubringen, um, wo möglich, jene grundlegenden Erkenntnisqualitäten der Psychoanalyse herauszuanalysieren, die übrigbleiben, wenn man von ihren offensichtlichen Schwächen absieht. Damit steht auch das Verhältnis der Psychoanalyse zur akademischen Psychologie auf einer neuen Ebene zur Frage, indem zu klären ist, ob bzw. warum diese trotz oder gerade wegen der methodologischen Voraussetzungen, von denen aus sie zu wissenschaftlich verbindlicheren Aussagen kommen will als die Psychoanalyse, deren Erkenntnisniveau nicht erreicht. In diesem Problemzusammenhang muß sich auch herausstellen, wieweit die von vielen marxistischen Psychologen praktizierte Auffassung richtig ist, daß man zwar die Psychoanalyse als in der bürgerlichen Ideologie verhaftet beiseitelassen muß, sich aber innerhalb der Begriffswelt und der Methodenvorstellungen der traditionellen akademischen Psychologie, die offensichtlich als weniger »bürgerlich« eingeschätzt wird, relativ unbefangen bewegen kann.

III.

Um den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse im Verhältnis zu dem der akademischen Psychologie angemessen zu bestimmen, ist es zweckmäßig, zunächst dem historischen Faktum einige Aufmerksamkeit zuzuwenden, daß es überhaupt zwei getrennte Wissenschaftszweige, nämlich die Psychoanalyse und die akademische Psychologie, gibt. Es ist ja nicht selbstverständlich, daß eine Integration zwischen Psychologie und Psychoanalyse bisher nicht stattgefunden hat und auch nicht in Aussicht steht: Immer noch hat die Psychoanalyse ihre eigenen Publikationsorgane, Ausbildungsstätten, institutionellen Verankerungen, unabhängig von denen der akademischen Psychologie, und wenn ein Psychoanalytiker schon einmal einen Lehrstuhl erhält, was selten genug ist, dann auch noch oft nicht einmal innerhalb der psychologischen Institute, sondern etwa bei den Soziologen oder Medizinern. Man hat diese Verselbständigung der Psychoanalyse gelegentlich dieser selbst als deren genuine Neigung zur Schulen- und Sektenbildung anlasten wollen. Man sollte sich jedoch fragen, ob diese Sichtweise nicht etwas flach ist. Es sollte einem z.B. auffallen, daß Versuche der Integration psychoanalytischer Konzepte in die akademische Psychologie zwar in vielfältiger Form vorliegen: So ||21| wird heute nicht nur der »dynamische« Aspekt im Sinne der Psychoanalyse in den meisten Persönlichkeitstheorien berücksichtigt, darüber hinaus sind psychoanalytische Begriffe wie »Verdrängung«, »Regression«, »Projektion«, »Angst« in psychologische Theorien hereingenommen, operationalisiert und experimentellen Prüfungen unterzogen worden. Dabei scheint mir jedoch offensichtlich, daß die psychoanalytischen Konzepte von ihrem neuen Kontext akademisch-psychologischer Begriffs- und Methodenvorstellungen keineswegs unberührt bleiben. Sie ändern hier vielmehr so weitgehend ihre Funktion und Bedeutung, daß die Notwendigkeit, die jeweiligen Konzepte auch noch in ihrem ursprünglichen Kontext des psychoanalytischen Systems beizubehalten, dadurch nicht vermindert, sondern eher geradezu bekräftigt wird. – Es gibt also offensichtlich inhaltliche Gründe für die Nichtintegrierbarkeit der Psychoanalyse in die akademische Psychologie, und wir sind durch unsere Fragestellung gehalten, diese Gründe wissenschaftstheoretisch auf den Begriff zu bringen.

Als Ansatz für unsere weiteren Überlegungen ist eine kurze historische Rekonstruktion der Ursprünge und der Entwicklung der akademischen Psychologie und der Psychoanalyse in ihrem Verhältnis zueinander nützlich.

In der klassischen Frühphase der einzelwissenschaftlichen Psychologie vor der Entstehung der Psychoanalyse einerseits und der Herausbildung der modernen Form der akademischen Psychologie andererseits hat Wilhelm Wundt als Gegenstand der Psychologie bekanntlich die »unmittelbare Erfahrung« herausgehoben (vgl. etwa 1896, 11. Aufl. 1913, 1 ff.). Diese »unmittelbare Erfahrung« sei kein besonderer, von der äußeren Realität abgesonderter »innerer« Tatbestand, sondern vielmehr die menschliche Welterfahrung unter einem besonderen Gesichtspunkt. Man müsse nämlich an jeder Erfahrung die »Objekte der Erfahrung« vom »erfahrende(n) Subjekt« unterscheiden. Während in der naturwissenschaftlichen Sicht vom erfahrenden Subjekt »abstrahiert« werde, so daß man den naturwissenschaftlichen Standpunkt als den der »mittelbaren Erfahrung« zu kennzeichnen habe, untersuche die Psychologie »den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt«, womit vom psychologischen Standpunkt aus also »diese Abstraktion« vom erfahrenden Subjekt »und alle aus ihre entspringenden Folgen geflissentlich wieder« aufgehoben werden (1913, 3). In dieser Wundtschen Sichtweise gewinnt also die individuelle Subjektivität dadurch intersubjektive Zugänglichkeit, daß sie den subjektiven Aspekt der Erfahrung der einen, objektiven Realität darstellt, wie sie uns allen gegeben ist. Somit kann hier der Psychologie die Aufgabe gestellt werden, jene allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten, nach denen sich die reale Welt als subjektive Erfahrung aufbaut. Der Versuch, abstrahierend zu letzten Elementen der unmittelbaren Erfahrung vorzudringen, und den Aufbau solcher Erfahrung aus ver-||22|schiedenen Ebenen und Formen der assoziativen Verknüpfung dieser Elemente zu erklären, ist die Wundtsche Version, zu derartigen allgemeinen Gesetzen zu kommen.

Dieses psychologische Gegenstandsverständnis wurde auch nach der Ära Wundt noch in manchen historischen Entwicklungszügen beibehalten. So ist es offensichtlich, daß etwa die Würzburger Schule der Denkpsychologie, wenn sie ihrem Kernanliegen, dem Aufweis unanschaulicher Bewußtseinsinhalte, nachgeht, immer noch nach den Elementen und Aufbauprinzipien der unmittelbaren Erfahrung sucht. Vielleicht weniger offensichtlich ist es, daß auch die Gestalttheorie eindeutig in diese Tradition der psychologischen Gegenstandsauffassung gehört. Sie richtet sich in ihrer radikalen Kritik an der Wundtschen Elementenpsychologie nämlich nicht dagegen, daß Wundt die Gesetzmäßigkeiten der Konstitution ummittelbarer Erfahrung erforschen will, sondern lediglich gegen die Bildungsprinzipien der dabei angenommenen Gesetze: Nicht als synthetischer Aufbau aus Elementen sei die unmittelbare Erfahrung angemessen zu erklären, sondern durch die analytische Heraushebung der in ihr liegenden Gliederungs- und Organisationsprinzipien. Dabei geht es der Gestalttheorie wie der Elementenpsychologie nicht um die Beschreibung privater Innenwelten, sondern um Erfassung der allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten, durch welche sich die unmittelbare Erfahrung, obwohl subjektiv, als intersubjektiv zugängliche und gleichartige Erfahrung der einen objektiven Außenwelt konstituiert: Die Gestaltprinzipien der Nähe, Ähnlichkeit, guten Fortsetzung, Prägnanz etc. führen nämlich, so wird hier angenommen, beim Vorliegen der gleichen objektiven Reizkonstellationen mit gesetzmäßiger Notwendigkeit auch zur gleichen subjektiven Organisation des Erfahrungsfeldes. – Aus dem damit umrissenen Gegenstandsverständnis ergeben sich auch die methodologischen Grundlagen dieser »klassischen« Ausprägungsform der Psychologie: So dienen hier etwa experimentelle Anordnungen wesentlich der Schaffung von Bedingungen, unter denen die Elemente, Aufbauprinzipien bzw. Organisationsprinzipien der subjektiven Erfahrung möglichst präzise und verallgemeinerbar zu erfassen sein sollen etc.

Ich habe das »klassische« Wundtsche Gegenstandsverständnis der Psychologie so ausführlich dargelegt, um den radikalen historischen Bruch und die daraus entstandenen reduktionistischen Verkürzungen und Verkehrungen deutlich sichtbar zu machen, zu denen es mit der funktionalistisch-behavioristischen Wende der Psychologie zu Beginn dieses Jahrhunderts als Ursprungsphase des Hauptstroms der »modernen« akademischen Psychologie kam. Während nämlich in der »klassischen« Psychologie, trotz aller (hier nicht näher zu diskutierenden) empiristischen und sensualistischen Irrtümer, die Spezifik des Bewußtseins als menschliches Niveau subjektiv-intersubjektiver Welterfahrung berücksichtigt worden war, ||23| wurde mit dem Aufkommen des neuen, funktionalistisch-behavioristischen Gegenstandsverständnisses die menschliche Lebenstätigkeit radikal auf ein unspezifisch organismisches Niveau, ja noch weiter auf physikalistische Vorstellungen menschlicher Aktivitäts-Determination reduziert. – An diesem Reduktionsprozeß lassen sich mehrere Schritte bzw. Aspekte unterscheiden.

In der ersten, funktionalistischen Aufbruch-Phase der »neuen Psychologie« kristallisierte sich über den Einfluß der pragmatistischen Philosophie eines James und Dewey zunächst die sozialdarwinistische Vorstellung heraus, Gegenstand der Psychologie sei die Anpassung der prinzipiell als »Organismen« verstandenen Menschen an ihre Umwelt. Das »Bewußtsein« wurde dabei von den frühen Funktionalisten (wie Angell, McGeoch, Woodworth) zwar zunächst noch nicht aus der Psychologie ausgeschlossen, sondern im Anschluß an James als ein besonders komplexes, jedem einzelnen Menschen zukommendes »Organ« der Umweltanpassung aufgefaßt. Durch diese »Biologisierung« des Bewußtseins wurde jedoch dessen Eliminierung aus der Psychologie mit der »behavioristischen« Zuspitzung des Funktionalismus konzeptionell vorbereitet. Während nämlich, wie dargestellt, in der klassischen Psychologie das Bewußtsein als Spezifik subjektiv-intersubjektiver Welterfahrung, also als Charakteristikum der Subjekt-Objekt-Beziehung, gefaßt worden war, wurde mit der Individualisierung des Bewußtseins als organismisches Anpassungorgan die unmittelbare Erfahrung sozusagen in jedes einzelne Individuum hineingestopft, also als »private«, von der Außenwelt isolierte »Innenwelt« der Individuen verkürzt, mithin gerade jene Scheidung vollzogen, die Wundt so dezidiert zurückgewiesen hatte.

Mit der behavioristischen Radikalisierung des Funktionalismus wurde nun dessen verkürzter Begriff von »Bewußtsein« übernommen und gleichzeitig auch der »klassischen« Psychologie unterstellt. Unklarheiten des Selbstverständnisses der klassischen Psychologie, so der unglückliche Terminus »Introspektion«, der von der »neuen Psychologie« aufgrund ihrer eigenen privatistischen Bewußtseinsvorstellungen platt wörtlich genommen wurde, leisteten solchen historischen Irrtümern Vorschub. So war es nur konsequent, daß im Behaviorismus, scheinbar in Abkehr von Bewußtseinsvorstellungen, die »klassische« Psychologie und Funktionalismus gemeinsam haben, das »Bewußtsein« als intersubjektiv nicht zugänglich, da »Privatsache« jedes Einzelnen, aus der psychologischen Wissenschaftssprache ausgeschlossen wurde, indem man als wissenschaftlich objektivierbar lediglich Daten über »Reize« und »Reaktionen« methodologisch zulassen wollte. Das behavioristische Reiz-Reaktion-Schema, durch welches die Psychologie auf eine »objektive« Grundlage gestellt werden sollte, basiert mithin als abstrakte Negation eines subjektivistisch verkürzten Bewußtseinsbegriffs selbst auf subjektivistischen Vorausset-||24|zungen: Biologismus/ Physikalismus einerseits und Subjektivismus andererseits sind hier nur zwei Seiten der gleichen Medaille.

Innerhalb der weiteren Geschichte der akademischen Psychologie wurde zwar die krude Fassung des Reiz-Reaktionsschemas auf theoretischer Ebene vielfach modifiziert und abgemildert, dennoch bildet dieses Schema in seiner methodologischen Wendung die Basis des Hauptstroms der modernen bürgerlichen Psychologie. Der biologistische Funktionsbegriff reduzierte sich dabei zu einem mathematisch-physikalischen Funktionskonzept, dem gemäß die »Reaktion« als »abhängige Variable« eine »Funktion« des »Reizes« als »unabhängiger Variabler« sein soll. Der »Organismus« als Schaltstelle zwischen »Reiz« und »Reaktion« wurde so zum Träger von »Zwischenvariablen«, die zwar selbst nicht empirisch erforschbar sind, die man aber theoretisch annehmen muß, um »Vorhersagen« über die Art des Zusammenhangs zwischen den »unabhängigen« Reizvariablen und den »abhängigen« Reaktionsvariablen machen zu können. Dieses methodologische »Variablen-Schema« liegt der gesamten experimentell-statistischen Methodik der neueren Psychologie zugrunde, so daß man den dadurch gekennzeichneten Hauptstrom der Psychologie geradezu als »Variablenpsychologie«« bezeichnen kann.

Es wäre nun zu zeigen, auf welche Weise und in welchen Erscheinungsformen die geschilderte reduktionistisch-subjektivistische Basis des Reiz-Reaktions-Schemas über seine methodologische Wendung im Variablen-Schema auf die moderne bürgerliche Psychologie durchschlägt. Ich kann dies hier nicht im Einzelnen leisten. Was ich allerdings .im Interesse des Fortgangs meiner Überlegungen versuchen muß, ist, wenigstens im Groben den prinzipiellen Wandel zu verdeutlichen, der sich auf dem historischen Weg von der »klassischen« Psychologie zur modernen »Variablenpsychologie«« hinsichtlich des generellen wissenschaftstheoretischen Verständnisses von psychologischer Theorienbildung und Verallgemeinerung vollzogen hat.

Durch die Verkürzung des Bewußtseins vom Medium des intersubjektiven Weltbezuges zur bloßen »Innenwelt«« der Individuen tritt in der Variablenpsychologie an die Stelle der Analyse menschlicher Welt- und Selbsterfahrung die bloße Außensicht auf »andere Organismen«. Damit »verdunstet« die individuelle Subjektivität im variablenpsychologischen Methodenverständnis auf zweierlei Weise: Die jeweils eigene Subjektivität, damit auch die Subjekt-Objekt-Beziehung wissenschaftlicher Erkenntnis, wird aus der theoretischen Reflexion ausgeschlossen; und die »fremde Subjektivität« verschwindet in der empirisch unzugänglichen »black box« zwischen Reiz- und Reaktionsvariablen. Während also, wie gesagt, die »klassische« Theorienbildung auf die Erfassung der Aufbau- bzw. Organisationsgesetzlichkeiten subjektiv-intersubjektiver menschlicher Erfahrung gerichtet ist, werden in variablenpsychologischen Theo-||25|rien »Vorhersagen« darüber formuliert, welche Zusammenhänge zwischen bestimmten Randbedingungen, denen andere Organismen/Individuen unterstellt sind, und den dadurch bedingten Reaktionen, »Verhaltensweisen« o.ä. dieser Individuen bestehen. Der hypothetische oder konstruktive Anteil der variablenpsychologischen Theoreme bezieht sich also gerade auf das, was in klassisch-psychologischer Sicht den direkten empirischen Bezug der Theorienbildung darstellt, die unmittelbare Erfahrung. Da mithin die subjektive Erfahrung variablenpsychologisch nur als hypothetische »Schaltstelle« zwischen Reiz- und Reaktionsvariablen fungiert, kann seinerseits der Bezug darauf in den Theorien auch wegbleiben – und bleibt in der Tat bei jenen Theorien weg, die den Prozeß der Umsetzung von Reizen in Reaktionen nicht mit psychologischen, sondern etwa mit physiologischen oder pseudophysiologischen Termini zu fassen suchen. Andererseits aber ändert auch der in der akademischen Psychologie periodisch auftretende Versuch, die behavioristischen Restriktionen durch Wiederzulassung »mentalistischer«, kognitiver o.ä. Termini zu ermäßigen, nichts an der geschilderten »Verdunstung« der individuellen Subjektivität: Da man aufgrund der methodischen Struktur des Variablen-Schemas die Erlebnis- oder Bewußtseinstatbestände nicht anders fassen kann denn als »Zwischenvariable«, verschwinden sie rettungslos in der »black box« wissenschaftlicher Unzugänglichkeit. Es bleibt aufgrund der geschilderten »Verinnerlichung« des Bewußtseins deswegen hier nur der Ausweg, die eigenen methodischen Prinzipien nicht so genau zu nehmen, einem Nachlaß an wissenschaftlicher Exaktheit zugunsten größerer Lebens- und Erfahrungsnähe das Wort zu reden. Das auf der gemeinsamen subjektivistischen Basis einsetzende »roll back« der explizit behavioristischen Position, die solche Unwissenschaftlichkeit mit Recht anprangert, ist so jedesmal schon programmiert, womit sich »weiche« und »harte« Wellen im Hauptstrom der modernen bürgerlichen Psychologie mit schöner Regelmäßigkeit abwechseln.

Die damit skizzierte grundsätzliche wissenschaftstheoretische Verschiedenheit des »klassischen« und des variablenpsychologischen Theorien-Verständnisses impliziert auch ein prinzipiell unterschiedliches methodologisches Konzept wissenschaftlicher Verallgemeinerung. Das »klassische«« Konzept von Verallgemeinerung als Analyse und Durchdringung der unmittelbaren Erfahrung auf die darin liegenden Gesetze der Vermittlung mit der objektiven Realität, also Überschreitung der Subjektivität auf die in ihr liegende intersubjektive Struktur muß für die Variablenpsychologie, da sie das Subjektive ja in einen unaufhebbaren abstrakten Gegensatz zum Objektiven gebracht und aus der psychologischen Begrifflichkeit ausgeschlossen hat, total unsichtbar, ja genuin unbegreiflich bleiben. Was die Variablenpsychologie, indem sie mit der subjektiven Erfahrung den gemeinsamen Weltbezug, aufgrund dessen sie verallgemeinert werden kann, ||26| eliminiert, noch übrigbehält, ist eine Vielzahl voneinander isolierter »anderer Organismen/Individuen«, und auf dieser Ebene muß man denn auch zu Verallgemeinerungen zu kommen suchen. So ist der Weg bereitet für die psychologische Adaptation des (ja etwa in der Botanik entwickelten) Konzepts der statistischen Häufigkeits-Verallgemeinerung. Es ist nun fast naheliegend, die – nach der Ausklammerung ihres subjektiven Realitätsbezuges – verbleibenden isolierten Individuen durch Abstraktion von bestimmten Merkmalsverschiedenheiten als gleichartige, voneinander unabhängige Elemente einer statistischen Verteilung, also nach Art etwa einer Bohnen-Population, zu definieren. Damit sind dann die Anwendungsvoraussetzungen erfüllt für die statistische Schätzung von Stichproben auf Populationen. In der so gefaßten »Verallgemeinerung« geht es also nicht mehr um die wissenschaftliche Durchdringung von Erscheinungen auf die darin liegenden wesentlichen Bestimmungen, sondern platterdings um nichts anders als um den Schluß von Merkmalsverteilungen einer kleineren Anzahl der genannten Elemente auf die Verteilung der gleichen Merkmale bei einer größeren bzw. unbegrenzten Anzahl von Elementen. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Auch den kompliziertesten statistischen Verfahren, meinetwegen auch multivariater Ausprägung, liegt – da hier stets von Statistiken auf Parameter bzw. deren kombinatorisches Äquivalent geschätzt wird – dieses platte, reduktionistische Verallgemeinerungskonzept zugrunde, bei dem man sich lediglich zwischen verschieden großen, Anhäufungen von Oberflächen-Daten hin- und herbewegt – und dies dann oft auch noch für das non plus ultra wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns in der Psychologie hält.

IV.

Ich habe das Verhältnis zwischen »klassischer« Bewußtseinspsychologie und »moderner« Variablenpsychologie bis zu dieser Stelle global historisch rekonstruiert, um mir die Möglichkeit einer Heraushebung des besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse durch deren Einordnung in diesen Zusammenhang zu schaffen: Es ist m.E. der entscheidende Schlüssel zum angemessenen Verständnis der Eigenart psychoanalytischer Grundbegriffe und Verfahrensweisen, sich klar zu machen, daß die Psychoanalyse die geschilderte funktionalistisch-behavioristische Wende nicht mitvollzogen hat, und demgemäß der variablenpsychologischen Eliminierung der als bloße private »Innerlichkeit« mißdeuteten menschlichen Subjektivität mit all den aufgewiesenen reduktionistisch-subjektivistischen Konsequenzen nicht unterliegt. Vielmehr muß die Psychoanalyse – so meine ich -, wenn man ihr gerecht werden will, direkt in den Zusammenhang und die Entwicklungslinie der »klassischen« Psychologie gestellt werden: »Klassische« Psychologie und Psychoanalyse haben nämlich, trotz aller sonstigen gravierenden Verschiedenheiten, das ||27| grundlegende Verständnis des Gegenstandes und der Aufgabe der Psychologie gemeinsam: Auch die Psychoanalyse sieht, durch alle Unklarheiten und Selbstmißverständnisse hindurch, die unmittelbare Erfahrung als Gegenstand ihrer Forschung und ihre wissenschaftliche Aufgabe in der objektivierenden Klärung und Durchdringung dieser Erfahrung als subjektiv-intersubjektiver Welt- und Selbstbeziehung. Allerdings geht es der Freudschen Psychoanalyse dabei nicht wie der klassischen Psychologie um die Analyse der unmittelbaren Erfahrung in Richtung auf die allgemeinen Aufbau- und Organisationsprinzipien, durch welche sie mit der objektiven Realität vermittelt ist. Sie steht vielmehr diesseits solcher erkenntnistheoretischen Fragestellungen, indem sie die unmittelbare Erfahrung auf die darin liegenden und verborgenen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse, wie sie sich in der konkreten Lebenslage der Menschen niederschlagen, durchdringen will.

Um diese (vielleicht auf den ersten Blick abenteuerlich anmutende) These schrittweise zu begründen und in den Konsequenzen zu entwickeln, verweise ich zunächst auf den fundamentalen Umstand, daß die theoretischen Grundbegriffe, wie sie in der Psychoanalyse vorliegen, eine radikal andere kategoriale Struktur und Funktion haben als die theoretischen Grundbegriffe in der Variablenpsychologie. Wenn von Abwehr und Verdrängung, von Regression und Projektion, von »Ich/Es/Überich« die Rede ist, so stehen derartige Konzepte hier keineswegs im Kontext von Theorien, in welchen »Vorhersagen« über Zusammenhänge zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen gemacht und empirisch geprüft werden sollen. Solche Konzepte werden nicht »von außen« auf »andere« appliziert, sondern den Betroffenen zur Klärung und Durchdringung ihrer unmittelbaren Erfahrung in die Hand gegeben. Sie haben so quasi die Funktion von »Mitteln«, mit denen im »Umgang mit sich selbst« die Oberfläche der eigenen Befindlichkeit auf darin liegende Abhängigkeiten, unverarbeitete Konflikte, Verleugnungen der Zwänge und Beschränkungen der eigenen Lebenslage, hin analysierbar sein sollen, um so eine bewußtere, reflektiertere und verantwortungsvollere Lebenspraxis zu ermöglichen. Wenn man also psychoanalytische Grundbegriffe zwecks Verwissenschaftlichung in den variablenpsychologischen Kontext stellen und von da aus beurteilen will, so unterwirft man sie tatsächlich lediglich kategorialen Bestimmungen, die ihrer Eigenart nicht gemäß sind – was etwa genau so intelligent ist wie der Versuch, meteorologische Erscheinungen mit motivationspsychologischen Begriffen fassen zu wollen, indem man etwa herauskriegen möchte, welche Motive die Wolken wohl haben könnten, plötzlich Regen abzulassen. Konzepte wie »Ich/Es/Überich« sind konzeptuelle Angebote zur Dramatisierung widersprüchlicher Tendenzen und Impulse in der unmittelbaren Erfahrung, um mit diesen Widersprüchen bewußter umgehen, sie dingfest machen und bewältigen zu können. Wenn ||28| man solche Konzepte also mit dem Argument zurückweisen will, sie seien spekulativ, da nicht operationalisierbar und experimentell prüfbar, so redet man hier schlicht an der Sache vorbei, da die psychoanalytischen Begriffe im variablenpsychologischen Kontext natürlich sinnlos sind – wie die motivations-psychologischen Begriffe im meteorologischen Kontext. Von da aus wird auch der früher erwähnte Umstand begreiflich, daß psychoanalytische Konzepte allen Versuchen, sie in die moderne Psychologie zu integrieren, widerstanden haben: Ein Begriff wie »Regression« etwa erhält im psychoanalytischen Kontext seinen Sinn dadurch, daß damit infantile Impulse in meiner Erfahrung, die es mir unmöglich machen, meine gegenwärtigen Konflikte auf adäquatem Niveau zu bewältigen, für mich faßbar und praktisch überwindbar werden sollen. Wenn nun in der Variablenpsychologie »Regression« z.B. als die Tendenz operationalisiert wird, bei Streß von einem später gelernten auf ein früher gelerntes Verhaltensmuster zurückzugehen, so hat man dann zwar die Möglichkeit, dies – sogar mit Ratten-Experimenten – empirisch zu überprüfen, womit der Regressionsbegriff aber aus dem Kontext subjektiv-intersubjektiver Erfahrungszusammenhänge in den Kontext eines äußerlichen, zeitlichen Nacheinander von Aktivitäten gestellt, also seines Sinnes und seiner Funktion total beraubt ist. Solche verfälschenden Trivialisierungen und Verflachungen lassen sich an allen psychoanalytischen Konzepten aufweisen, die im Namen wissenschaftlicher Exaktheit variablenpsychologischen Prozeduren unterworfen wurden.

Die Funktion psychoanalytischer Begriffe als Mittel klärender Durchdringung oberflächlicher Erfahrung im Kontext subjektiven Welt- und Selbstverständnisses läßt sich übrigens auch an solchen Konzepten aufweisen, die in »naturwissenschaftlicher« Aufmachung eingeführt wurden: Dies ist m.E. nichts weiter als ein Ausdruck mangelnder Klarheit der Psychoanalyse über den Status ihrer eigenen Grundbegrifflichkeit. So hat man ja den Begriff der »Libido« nach Art von physikalischer Energie bestimmen wollen, und Bernfeld & Feitelberg haben bekanntlich sogar methodische Vorschläge zu seiner objektiven Messung gemacht. Bei etwas näherem Hinsehen wird aber deutlich, daß die von Freud vorgenommene quantitative Fassung des Libido-Konzeptes mit der diesem Begriff bei der Analyse subjektiver Befindlichkeiten zugewiesenen Funktion unmittelbar zusammenhängt: Nur unter der Voraussetzung, daß mir jeweils nur ein bestimmtes, begrenztes Quantum an Libido zur Verfügung steht, gibt es einen Sinn, in der Art nach der »Unterbringung« der Libido, den Objektbesetzungen, narzistischen Libido-Depots, der regressiven Fixierung von Libido auf infantilen Objektwahlen oder Stufen der Triebentwicklung zu fragen, wie sie den Betroffenen von der Psychoanalyse nahegelegt wird. Auch das Konzept der »Sublimierung«, mit dem mir die Zähmung meiner sexuellen Triebwünsche durch Transformation der Libido in sozial akzep-||29|tierte Bedürfnisse empfohlen wird, ist ohne das genannte »Libido-Quantum-Theorem« und die darin begründete »Libido-Ökonomie« nicht denkbar, etc. – Derartige »physikalisierende« Begriffsbildungen haben in der Psychoanalyse also keinen Eigenwert und machen sie nicht (wie manche ihrer Vertreter meinten) zu einer »Naturwissenschaft«, sondern stehen als bloße Analogien im Dienst der psychoanalytischen Deutungsarbeit.

Aus dem Umstand, daß die Psychoanalyse in der Tradition des Gegenstandsverständnisses der »klassischen Psychologie« steht, indem beide auf die Analyse der unmittelbaren Erfahrung gerichtet sind, wird begreiflich, daß der Psychoanalyse wie der »klassischen« Psychologie mangelnde wissenschaftliche Ojektivität durch Bezug auf bloß »subjektive« Erfahrungen, Beschränkung auf intersubjektiv unausweisbare »Introspektion« o.ä. vorgeworfen wurde. Diese Unterstellung beruht aber m.E. auf der gleichen subjektivistischen Verkürzung des Bewußtseins auf bloße »private« Innerlichkeit, durch welche – wie dargelegt – schon der Modus des Strebens nach wissenschaftlicher Objektivität und Verallgemeinerbarkeit in der klassischen Psychologie verfehlt wurde.

Wenn man die geschilderte Eigenart und Funktion der psychoanalytischen Grundbegriffe etwas genauer betrachtet, so muß einem deutlich werden, daß hier die Analyse der unmittelbaren Erfahrung sich keineswegs darauf beschränkt, lediglich dem Individuum plausible, aber sonst zufällige und unverbindliche Deutungsmuster anzubieten. Vielmehr geht es darum, in Durchdringung der Erfahrung die in ihr verborgenen gesetzmäßigen Zusammenhänge mit objektiven, die bloß individuelle Befindlichkeit und Sichtweise überschreitenden Verhältnissen herauszuarbeiten. Während in der klassischen Psychologie unter den erkenntnistheoretischen Prämissen des »neutralen Monismus« versucht wird, die Aufbau- bzw. Organisationsprinzipien zu erfassen, durch welche die subjektive Erfahrung durch ihre Vermittlung mit der objektiven Außenwelt intersubjektiv zugänglich und verbindlich werden kann, fragt Freud in diesseitiger psychologischer Herangehensweise nach den gesetzmäßigen Vermittlungsebenen, durch welche die Themen und Widersprüche scheinbar bloß individueller Erfahrung als jeweils individuelle Ausprägungsformen allgemeiner menschlich-gesellschaftlicher Daseinsthemen und Konfliktkonstellationen begriffen werden können.

Man mag sich dies von jener Grundkonstellation und deren wissenschaftlicher Funktion aus klarmachen, deren Anerkennung für Freud ja als Scheidewasser der Zugehörigkeit zur Psychoanalyse herausgestellt wurde: Dem Ödipus-Komplex. – Man hat das Konzept des Ödipus-Komplexes oft als einfache theoretische Aussage über das Vorkommen einer bestimmten Familien-Konstellation mißdeutet und immer wieder empirisch widerlegen wollen. Für Freud dagegen ist der Ödipus-Komplex eine fundamentale menschliche Konfliktkonstellation, die nicht einfach auf ||30| der Erscheinungsebene liegt, sondern zu welcher man durch die Erscheinungen hindurch analytisch vordringen muß, um die jeweils scheinbar bloß individuellen Konflikte als deren spezielle Ausprägungsform begreifen zu können: Erscheinungsweisen der unerbittlichen und unaufhebbaren Unterdrückung subjektiver Befriedigungs- und Erfüllungsmöglichkeiten durch die übermächtige, strafende Autorität. Aus dieser Funktion der Wesensbestimmung individueller Unterdrückung von Lebensmöglichkeiten als besonderem Fall von Unterdrückungsverhältnissen menschheitlicher Größenordnung versteht sich, daß Freud sich bei seiner Begründung des Ödipus-Komplexes keineswegs auf Aussagen über konkrete familiale Dreiecksverhältnisse beschränkte, sondern eine phylogenetische Ableitung der Ödipus-Konstellation versuchte. Wie fragwürdig diese auf lamarckistischen Vorstellungen basierende Ableitung auch im einzelnen ist: In unserem Argumentationszusammenhang ist allein der Umstand wichtig, daß Freud sich damit um eine kategoriale Grundlegung seiner Lehre bemühte, die eine wissenschaftlich objektivierende Durchdringung unmittelbarer menschlicher Erfahrung ermöglicht. Auf welche Art von objektiven Verhältnissen dabei abgezielt ist, wird noch deutlicher, wenn man Freuds Konzeption von der notwendigen Zerschlagung des Ödipus-Komplexes mit der Konsequenz der Errichtung des »Über-Ich« im Subjekt in die Überlegungen einbezieht: Mit Hilfe der Kategorie des »Über-Ich« sollen dem Individuum die Mittel in die Hand gegeben werden, um seine Tendenzen zur Selbsteinschränkung und Selbstbestrafung als »Verinnerlichungen« objektiver gesellschaftlicher Zwänge und Bedrohungen zu durchdringen, so die wahre, nämlich objektive Ursache seiner subjektiven Beeinträchtigungen zu erfassen, um sie ohne selbstzerstörerische Ängste und Schuldgefühle verarbeiten zu können. Das »Über-Ich«-Konzept hat also die Funktion, die subjektive Oberflächenerscheinung des »Gewissens« mit den damit verbundenen Schulderlebnissen auf die darin verborgenen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse durchschaubar zu machen. Dadurch soll das Individuum fähig werden, angesichts der menschheitlichen Größenordnung der Unterdrückung sich deren Tatsache und Folgen nicht mehr persönlich zuzurechnen, seine infantilen Lebensansprüche aufzugeben und statt dessen als »reife Persönlichkeit« sich mit den beschränkten und verwässerten Erfüllungsmöglichkeiten einzurichten, die unter den Prämissen der unaufhebbaren gesellschaftlichen Repression erreichbar sind.

Es wäre nicht schwer, die kategoriale Funktion der Vermittlung subjektiver Erfahrung mit objektiven gesellschaftlichen Grundkonstellationen auch an den anderen zentralen Grundbegriffen der Freudschen Psychoanalyse aufzuzeigen. Ich will aber nur noch auf das in der geschilderten psychoanalytischen Kategorienbildung liegende Konzept von wissenschaftlicher Verallgemeinerung verweisen. Auch daran läßt sich nämlich ||31| verdeutlichen, daß Freud die Wendung zur Variablenpsychologie, hier zu deren statistischem Ansatz der »Häufigkeits-Verallgemeinerung«, nicht mitvollzogen hat, sondern sich vom Verallgemeinerungsansatz der klassischen Psychologie aus weiterbewegt. »Verallgemeinerbar« ist in »klassischer« Sicht eine theoretische Konzeption über Aufbau- und Organisationsprinzipien des Psychischen dann, wenn von da aus die unmittelbare Erfahrung durch Aufweis der in ihr liegenden objektiven Struktur als intersubjektiv gleichartig und zugänglich erfaßbar wird. Die theoretischen Konzepte der Psychoanalyse sind in dem Grade verallgemeinerbar, wie damit die jeweils scheinbar bloß individuelle Erfahrung als »Fall« allgemeiner menschlicher Konfliktkonstellationen entschlüsselbar ist. Darin liegt, bei aller Ähnlichkeit, eine wichtige Weiterentwicklung gegenüber dem »klassischen« Verallgemeinerungskonzept: Gemäß den klassischen Verallgemeinerungsvorstellungen müssen individuelle Abweichungen von den Prinzipien des Erfahrungsaufbaus oder der Erfahrungsorganisation als »zufälligen Störbedingungen« geschuldet beiseitegelassen werden. Im psychoanalytischen Verallgemeinerungsansatz hingegen können die Vermittlungsprozesse, spezielle Ausprägungen der Konflikterfahrung und -verarbeitung und entsprechende individuelle Abwehrformen etc., durch welche die allgemeinen gesellschaftlichen Konstellationen jeweils gerade jene individuelle Erscheinungsformen haben, mit in Rechnung gestellt werden. Es muß hier also bei der Verallgemeinerung nicht vom individuellen Fall abstrahiert werden, da die Verschiedenheiten personaler Erfahrung nicht durch Rekurs auf Störfaktoren eliminiert werden, sondern durch die selbst zur Theorie gehörigen Vermittlungsprozesse und Ebenen erklärbar sind. So kann sich einerseits jeder bei der Durchdringung seiner subjektiven Erfahrung in der allgemeinen Konfliktkonstellation, die er dabei aufgedeckt hat, wiederfinden, oder richtiger: diese Konstellation in sich wiederfinden; dabei ist es ihm aber andererseits möglich, die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit seiner subjektiven Situation aus Einsicht in die Vermittlungsprozesse, durch welche das Allgemeine hier gerade so in Erscheinung tritt, voll stehen und gelten zu lassen. Damit bilden hier also Einzelnes und Allgemeines keinen Gegensatz mehr, und man muß sich in seiner individuellen Befindlichkeit und Situation nicht selbst wegabstrahieren, um zu wissenschaftlichen Verallgemeinerungen zu gelangen.

Freud hat seine wissenschaftstheoretischen Überzeugungen einmal in dem Satz zusammengefaßt: Es ist das Bestreben des wissenschaftlichen Denkens, »die Übereinstimmung mit der Realität zu erreichen, d.h. mit dem, was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht und, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, für die Erfüllung oder Vereitelung unserer Wünsche maßgebend ist. Diese Übereinstimmung mit der realen Außenwelt heißen wir Wahrheit.« (FW XV, 194) Man hat diese Aussage Öfter als bloßes Lippenbekenntnis, dem die tatsächlich unwissenschaftliche und ||32| spekulative psychoanalytische Forschungspraxis gegenübersteht, deuten wollen. Meiner Auffassung nach trifft Freud damit präzise den Kern seines wissenschaftlichen Bestrebens: Die »Erfüllung oder Vereitelung unserer Wünsche« als Gegenstand der Psychoanalyse ist für Freud dann wissenschaftlich durchdrungen, wenn sie in ihrer Vermittlung mit derjenigen objektiven Realität erkannt sind, die dafür »maßgebend« ist – also den erfüllenden und vereitelnden gesellschaftlichen Instanzen. Dies ist das besondere psychoanalytische Verfahren zur Herstellung der »Übereinstimmung mit der realen Außenwelt«, also des Bemühens um »Wahrheit« in der Psychoanalyse.

V.

Durch die damit abgeschlossene historische Rekonstruktion des wissenschaftstheoretischen Status psychoanalytischer Grundkategorien sollte unsere früher gestellte Frage nach den Gründen für die (aus ihren offensichtlichen Fehlern und Irrtümern nicht erklärbare) Größenordnung der öffentlichen und wissenschaftlichen Wirksamkeit der Psychoanalyse einer Klärung nähergebracht werden: Während die Variablenpsychologie in ihrem Bruch mit dem Gegenstandsverständnis der klassischen Psychologie zu einer Wissenschaft von der Kontrolle menschlichen Verhaltens unter programmatischer Aus- bzw. Einklammerung der Subjektivität im Namen eines verkürzten Wissenschaftlichkeitsanspruchs verkam, begann mit der Psychoanalyse im Ausgang vom klassischen Gegenstandsverständnis die Entwicklung einer psychologischen Subjektwissenschaft, in welcher die Befindlichkeit, Welt und Selbstsicht des Menschen, sein Leiden, seine Konflikte und Ängste, seine Schuldgefühle, seine Gebrochenheit und Verletzlichkeit, nicht auf die Objektseite verschoben und damit »enteigentlicht« und instrumentalisiert, sondern in ihrer vollen subjektiven Wirklichkeit zur Grundlage wissenschaftlicher Analysen und Verallgemeinerungen genommen wurden.

Von dem Abstraktionsniveau aus, auf dem diese subjektwissenschaftliche Ebene faßbar wurde, sind so die geschilderten gravierenden Fehler und Schwächen der Psychoanalyse als erste, historisch-konkrete Ausprägungsformen der Subjektwissenschaft von dem neuen kategorialen Niveau, das dabei erreicht ist, unterscheidbar. Es wird deutlich, daß sogar Freuds Fehler im subjektwissenschaftlichen Kontext eine Bedeutsamkeit und Dignität besitzen, an welche selbst die beschränkten Richtigkeiten der variablenpsychologischen Kontrollwissenschaft nicht heranreichen. Allerdings schließt dies auch wissenschaftliche und politische Konsequenzen solcher Irrtümer von einer Größenordnung ein, die es nicht erlaubt, die Psychoanalyse als Spezialgebiet beiseite zu lassen, sondern wodurch einem immer wieder und auf allen Ebenen wissenschaftliche und ideologische Auseinandersetzungen damit aufgezwungen werden. ||33|

Gerade bei Anerkennung ihres neuen subjektwissenschaftlichen Niveaus verdeutlicht sich die ganze Problematik und Widersprüchlichkeit der psychoanalytischen Kategorien: Einerseits wird so erst voll begreiflich, warum Freuds Prämissen von der genuinen Unvereinbarkeit subjektiver Lebensansprüche mit gesellschaftlichen Anforderungen nicht nur eine falsche Universalisierung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse sind, sondern bestimmte Aspekte der subjektiven Situation der Menschen unter diesen Verhältnissen so differenziert und schonungslos in verallgemeinerter Weise abbilden, daß sich jeder darin wiederfinden und seine individuelle Befindlichkeit als Spielart der generellen Unterdrückung erfassen kann. Gerade in der oft bemängelten biologistischen Anthropologisierung der Antagonismen zwischen Triebansprüchen und Gesellschaftlichkeit manifestiert sich mithin die ganze Bedeutung Freuds als großem, unbestechlichem bürgerlichem Wissenschaftler, während alle Versuche späterer Psychoanalytiker zur »Soziologisierung« der Freudschen Auffassungen, indem damit die bürgerlichen Klassenwidersprüche in ihrer Schärfe und Unerbittlichkeit weggeleugnet und verkleistert werden, genau besehen apologetischer Natur sind.

Andererseits aber offenbart Freud aus seiner allgemein-menschlichen Universalisierung bürgerlicher Verhältnisse erwachsenen Auffassung von der schicksalhaften Unveränderbarkeit gesellschaftlicher Unterdrückung subjektiver Lebensansprüche gerade durch die Berücksichtigung des subjektwissenschaftlichen Niveaus der in dieser Voraussetzung gegründeten Kategorien erst ihre volle Problematik: Indem hier nämlich die unterschiedlichen subjektiven Erscheinungsformen des Scheiterns, der Realitätsverleugnung, aber auch des Sich-Einrichten und Zurechtkommens angesichts der unaufhebbaren Unterdrückung in ihrer Durchdringung auf die als allgemein-menschlich hypostasierten Konfliktkonstellationen in generalisierter Weise »für jeden« nachvollziehbar werden, wird stets aufs Neue die Prämisse bekräftigt: Die Erscheinungsformen wechseln, die Unterdrückung aber bleibt. Das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft findet sich also in den psychoanalytischen Deutungsangeboten immer in neuen Spielarten als »Opfer der Verhältnisse« wieder: Indem seine persönlichen bzw. unmittelbar-sozialen Konflikte erkennbar und handhabbar gemacht werden, ist das Subjekt so von dem großen, alles umgreifenden Konflikt entlastet, dem mit den herrschenden Verhältnissen und deren Repräsentanten. Die Entscheidung, ob es kämpfen soll oder nicht, wird dabei dem Individuum in mannigfachen Versionen dadurch abgenommen, daß die verschiedenen kategorialen Bestimmungen der Psychoanalyse einen Kampf gegen die Bedingungen, an und unter denen man leidet, gar nicht vorsehen oder zulassen: So etwa, wenn die Konfliktvoraussetzungen grundsätzlich in die eigene frühe Kindheit verlegt und so als verjährt gedeutet werden; oder wenn Auseinandersetzungen mit gegenwärtigen Au-||34|toritäten dadurch entschärft und entwichtigt werden, daß einem die Sichtweise nahegelegt wird, diese seien gar nicht gemeint, es sei vielmehr eigentlich immer noch die Autorität des Vaters, gegen die man da rebelliert. Gerade aus der subjektwissenschaftlichen Dignität der psychoanalytischen Kategorien, die wirkliche Einsichten in die subjektiven Folgen gesellschaftlicher Unterdrückung ermöglichen, werden durch deren Universalisierung den Individuen hier »Lösungen« angeboten, in denen die umfassenden, eigentlichen Bedingungen ihrer Misere verschleiert sind: Indem man, notwendigerweise vergeblich, in immer wieder neuen Formen »unter« den bestehenden Verhältnissen zurechtzukommen sucht, verstößt man, indem man den gemeinsamen Kampf um die Überwindung der einschränkenden Lebensbedingungen als Perspektive ausklammert, permanent gegen die eigenen genuinen Daseinsinteressen. Die psychoanalytische Konzeption der Aufhebung von Verdrängungen gründet sich also in der alles umgreifenden Verdrängung des Zusammenhangs zwischen der Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit und dem Kampf um gesellschaftliche Bedingungen, unter denen eine restriktive Lebensführung, mit welcher man um kurzfristiger Konfliktvermeidung willen seine wirklichen, langfristigen Lebensinteressen verletzt, nicht mehr subjektiv »funktional« ist.

Es ist sicherlich verkürzt zu behaupten, die Freudsche Analyse »psychologisiere« generell die gesellschaftlichen Verhältnisse und vernachlässige jede Art von dadurch bedingter Konflikthaftigkeit der subjektiven Befindlichkeit. Die gesellschaftlichen Widersprüche werden aber, gemäß dem spezifischen »genetischen« Modell der Psychoanalyse, lediglich als Randbedingungen fundamentaler Konflikte in der frühen Kindheit berücksichtigt, und die Konfliktverarbeitung erscheint damit notwendig nur als eine Aufgabe des jeweils Einzelnen, der im Interesse seiner gegenwärtigen Lebensbewältigung die Folgen seiner frühkindlichen Konflikte verarbeiten muß. Gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse als Bedingungen meines je gegenwärtigen Leidens und der gemeinsame Kampf um Änderung dieser Verhältnisse als Mittel zur Überwindung unseres Leidens sind hier mithin ausgeklammert. Daraus ergibt sich auch das (bei allen pessimistisch-resignativen Zügen) eigentümlich Tröstliche der psychoanalytischen Sichtweise: Zwar muß jeder die Folgen seiner frühkindlichen Unterdrückung individuell verarbeiten, um zu einem einigermaßen aushaltbaren Erwachsenendasein zu kommen, aber er kann dies auch. Er ist damit von der Notwendigkeit seiner Beteiligung am kollektiven Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse mit all den damit verbundenen Gefahren und Risiken entlastet, er kann zu Hause und bei sich bleiben, um dort mit sich fertig zu werden und ins Reine zu kommen. Wen wundert es da noch, daß der hier vorgeschlagene Weg zur individuellen Lösung gesellschaftlicher Widersprüche so große Resonanz gerade bei bürgerlichen Intellektuellen ||35| findet? Dabei ändert sich naturgemäß an dieser Suspendierung der Ebene realer politischer Auseinandersetzungen für das Individuum auch dadurch nichts, daß – wie im Freudo-Marxismus – die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen die frühkindliche Unterdrückung geschuldet sein soll, selbst mit marxistischen Kategorien, also »an sich« als historisch formbestimmt und veränderbar, gefaßt werden: Ich als jeweils Einzelner bin in psycho-analytischer Sicht auch vom Einfluß auf einen so gefaßten gesellschaftlichen Prozeß abgeschnitten; meine Beteiligung an der Transformation bürgerlicher Klassenwirklichkeit in menschenwürdigere Lebensbedingungen im Interesse der Entwicklung meiner subjektiven Lebensmöglichkeiten erscheint als weder möglich noch nötig; ich bin nach wie vor als bloßes Opfer der Verhältnisse auf die Arbeit an mir selbst als dem eigentlichen Ort der Auseinandersetzung zurückverwiesen.

Von da aus versteht sich nun auch, daß jede Art von individueller Beteiligung am politischen Kampf in psychoanalytischer Sicht primär als »verdächtig« erscheint: Handelt es sich dabei nicht lediglich um ein »Nachaußen-Agieren« der persönlichen Konflikte, damit Ablenkung von den wirklichen, bei mir selbst liegenden Problemen? In etwas verschleierter Form findet sich diese Sicht in dem wohlfeilen Ratschlag, erst einmal »bei sich selbst anzufangen«, wobei dieser »Anfang« gemäß der Struktur des psychoanalytischen Konfliktmodells auch schon das »Ende« ist. In diesem Zusammenhang verdeutlicht sich auch, daß die Psychoanalyse aufgrund ihrer spezifischen kategorialen Voraussetzungen gar nicht anders kann, denn gesellschaftliche Klassenauseinandersetzungen als Ausdruck kollektiver neurotischer Fehlhaltungen zu psychologisieren – und sie hat dies, wo sie sich damit befaßte, auch stets getan: angefangen von Freuds Vorstellung, in der Oktober-Revolution seien die »in der Gesellschaft unerläßlichen Triebeinschränkungen« und daraus entstehenden aggressiven Neigungen nach außen, auf die »Feindseligkeit der Armen gegen die Reichen, der bisher Ohnmächtigen gegen die früheren Machthaber« abgelenkt worden (FW XV, 195), bis hin zu der erwähnten »Psychiatrisierung« der gegenwärtigen atomaren Bedrohung als Ausdruck eines kollektiven Verfolgungswahns durch H.E. Richter. In dieser Zuspitzung wird die wissenschaftliche wie ideologische Unhaltbarkeit jedes »freudo-marxistischen« Versuchs einer Integration der psychoanalytischen Ausprägungsform subjektwissenschaftlicher Kategorien mit dem Marxismus besonders deutlich.

VI.

Aufgrund der Resultate meiner bisherigen Überlegungen sollte im Prinzipklar sein, wie die Ausgangsfragestellung dieses Beitrags nach der Bedeutung der Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie zu beantworten ist: Diese Bedeutung liegt in dem neuen subjektwissenschaftlichen Niveau der psychoanalytischen Kategorien und Verfahren. Die mar-||36|xistische Psychologie hätte so bei der Aufarbeitung ihres Standorts innerhalb der geschichtlichen Entwicklung psychologischer Grundansätze die psychoanalytischen Kategorien zwar in ihrer konkreten, historisch beschränkten Ausprägungsform zurückzuweisen, das darin gleichzeitig erreichte subjektwissenschaftliche Niveau psychologischen Fragens und Forschen aber abstrahierend herauszuanalysieren und in der weiteren Entwicklung kritisch aufzuheben. Dies heißt gleichzeitig, daß in der marxistischen Psychologie die durch die funktionalistisch-behavioristische Wende verschüttete »klassische« Tradition psychologischen Gegenstandsverständnisses zu reaktualisieren und weiterzuentwickeln ist. Das schließt eine kritische Neubewertung und Umwertung der vielfältigen Erscheinungsformen der modernen Psychologie ein, insbesondere all jener, häufig randständigen, psychologischen Konzepte und Verfahren, die in den variablenpsychologischen Verkürzungen nicht oder nicht voll aufgehen, und somit in ihrer weiterführenden Relevanz rekonstruiert werden müssen.

Es ist also mit der marxistischen Grundlegung der Psychologie keineswegs vereinbar, die in der funktionalistisch-behavioristischen Wende vollzogene subjektivistische »Verinnerlichung« menschlichen Bewußtseins in irgendeinem Sinne und Grade mitzuvollziehen und sich von da aus in die aus dessen Negation entstandene Pseudoobjektivität variablenpsychologischer Konzepte und Methoden einlassen. Im Gegenteil: Erst auf marxistischer Basis ist es möglich, die in der klassischen Psychologie angelegte Auffassung vom Bewußtsein als Medium der intersubjektiven Weltbeziehung des Menschen von ihren idealistischen Verkürzungen zu befreien und so für die psychologische Forschung voll fruchtbar zu machen. Nur vom marxistischen Standpunkt aus ist nämlich das Bewußtsein als Spezifikum menschlicher Welt- und Selbsterfahrung aus den Notwendigkeiten der materiellen Produktion und Reproduktion des gesellschaftlich-individuellen Lebens zu begreifen und so auch in seiner historischen Bestimmtheit durch die jeweilige historische Form der Produktionsweise zu erfassen (wie dies ja Leontjew in seinem berühmten Kapitel »Über die historische Entwicklung des Bewußtseins«, 1977, 214ff., ausgeführt hat). Auf diese Weise wird dann auch die Gleichsetzung des Bewußtsein mit der »black box« privater Innerlichkeit als historisch bestimmte Verkürzung und Verkehrung des Bewußtsein »in« den Formen des isolierten »Privatmenschen« in seiner praktisch-ideologischen Unterworfenheit unter bürgerliche Reproduktionsbedingungen begreifbar. So kann die variablenpsychologische Wissenschaftsauffassung aus ihrer Verhaftetheit in den kapitalistischen Verwertungsinteressen marxistisch verstanden werden.

Auf diesem Wege ist dann auch die subjektwissenschaftliche Auffassung der Grundstruktur unmittelbarer Erfahrung von ihren psychoanalytischen Verkehrungen zu befreien, und es kann eingesehen werden, daß ||37| der von Freud explizierte Unterschied zwischen der Erscheinungsweise und dem Wesen subjektiver Welt- und Selbsterfahrung (ein Unterschied, ohne den nach Marx Wissenschaft weder möglich noch nötig wäre) in der marxistischen Psychologie nicht wieder verlorengehen darf. So ist dann auch begreiflich, daß individuelles »Bewußtsein« kein statischer Zustand ist, sondern ein widersprüchlicher Prozeß, in welchem die bewußte Lebensführung angesichts der die unmittelbare Erfahrung nach allen Seiten überschreitenden Komplexität objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse den subjektiven Tendenzen zur vereinheitlichenden und harmonisierenden Ausblendung gesellschaftlicher Möglichkeiten und Notwendigkeiten immer wieder abgerungen werden muß. Man wird so die Freudsche Fassung des »Unbewußten« in ihren metaphysischen und irrationalistischen Momenten zwar zurückzuweisen haben, aber dabei gleichzeitig begreifen, daß »unbewußte« Aspekte der subjektiven Welt- und Selbsterfahrung aufgrund der unaufhebbaren Widersprüchlichkeit zwischen unmittelbarer Befindlichkeit und gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz ein notwendiges Bestimmungsstück des Ringens um bewußte Lebensführung ist, womit auch die Weisen und Formen subjektiver Realitätsausklammerung und Widerspruchseleminierung ein zentrales Thema marxistisch fundierter Psychologie sein müssen. Auf dieser Basis stellt sich für uns dann die Frage, welche besondere Ausprägung und Schärfe derartige Tendenzen zur Realitätsverleugnung annehmen müssen, wenn der Widerspruch zwischen unmittelbarer Erfahrung und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht ein immer wieder neu aufzuhebender Entwicklungswiderspruch ist, sondern durch den Ausschluß der Betroffenen von der gemeinsamen Verfügung über die gesellschaftlichen Prozesse unter kapitalistischen Verhältnissen ein unaufhebbarer antagonistischer Widerspruch. Und damit wäre dann auch in diesem Zusammenhang in Erwägung zu ziehen, wieweit die Freudsche Vorstellung von der Verselbständigung, Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit eines substantiellen »Unbewußten« zwar als universelles Konzept zurückgewiesen werden muß, aber bestimmte Formen des Realitätsverlustes beim subjektiven Arrangement mit kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen durch Sich-Einrichten in der Abhängigkeit zutreffend umschreibt.

Aus diesen Überlegungen sollte nun auch klar geworden sein, daß die marxistische Psychologie in ihrem Konzept wissenschaftlicher Verallgemeinerung sich dem Universalitätsanspruch des variablenpsychologischen Models statistischer Häufigkeitsverallgemeinerung keinesfalls unterwerfen darf. Es gibt schlechterdings keinen vernünftigen Grund dafür, sich die Alternative: »entweder« unmittelbare subjektive Erfahrung »oder« wissenschaftliche Verallgemeinerung aufdrücken zu lassen und somit die Spezifik menschlicher Lebenstätigkeit in Namen der Wissenschaftlichkeit reduktionistisch wegzuabstrahieren. Schließlich hat schon Lewin, noch ||38| auf der Grundlage des »klassischen« Gegenstandsverständnisses, die geschilderte strukturelle Verallgemeinerung durch Herausarbeitung der Vermittlung zwischen einzelner Erscheinung und allgemeinem Gesetz als moderne galileische Denkweise gegenüber dem als »aristotelisch« bezeichneten Häufigkeitsdenken herausgestellt und auf dieser Grundlage sein wissenschaftstheoretisches Konzept des Aufsteigen vom Einzelfall zum »reinen Fall« entwickelt: Diese Lewinschen Auffassungen sind, soweit ich sehe, in der modernen Psychologie niemals widerlegt, sondern (leider später auch von Lewin selbst) schlicht beiseitegelassen worden (vgl. Kurt Lewin, Werkausgabe 1981, Bd.1, 233ff.).

Der Umstand, daß die marxistische Psychologie mit ihrer methodologischen Entwicklungsarbeit an dieser Stelle, und nicht an dem variablenpsychologischen Häufigkeitsdenken anzusetzen hat, verdeutlicht sich, wenn man die Marxsche Konzeption des »Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten« in die Betrachtung zieht: Der von Marx rekonstruierte Weg vom Vorstellungskonkretum über die abstraktive Herausarbeitung von dessen allgemeinsten Bestimmungen bis zum Gedankenkonkretum, in welchem die Vermittlungsebenen zu den allgemeinsten Bestimmungen erfaßt und damit das Besondere als spezifische Erscheinungsform des Allgemeinen durchdrungen ist, schließt nämlich das dargestellte Konzept der »strukturellen Verallgemeinerung« in sich ein. Diese Marxsche Konzeption charakterisiert dabei keineswegs nur sein Vorgehen im »Kapital«, sondern enthält seine umfassende und tiefe Klärung des Weges wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn überhaupt: Rubinstein hat dies in seinem Kapitel »Das Denken als Erkenntnis« (1970, 98ff.) gerade auch im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisgang eindringend und überzeugend nachgewiesen. Unter solchen Vorzeichen marxistischer Methodologie wären also die subjektwissenschaftlichen Vorstellungen einer strukturellen Verallgemeinerung als Durchdringung der individuellen Erfahrung/Befindlichkeit auf ihre Vermittlung mit objektiven gesellschaftlichen Grundkonstellationen neu zu fundieren und kritisch weiterzuentwickeln. Somit kann die marxistische Psychologie einerseits wie die Psychoanalyse die subjektiv-intersubjektive Wirklichkeit menschlicher Welt-und Selbsterfahrung, somit auch des Leidens und der Konflikthaftigkeit, unreduziert stehen lassen und andererseits die darin in individualisierter Form erscheinenden gesellschaftlichen Möglichkeiten und Widersprüche ohne die wissenschaftlichen und ideologischen Verkürzungen psychoanalytischer Begrifflichkeit für die Betroffenen faßbar machen. Auf diesem Wege wird die marxistische Psychologie in subjektwissenschaftlicher Perspektive immer eindeutiger zum Mittel der Klärung der je eigenen Lebensführung durch subjektive Rekonstruktion des inneren Zusammenhangs zwischen genuinen individuellen Lebensinteressen und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit des Handelns. ||39|

In welche Richtung dabei die kategorialen Grundlagen subjektwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns weiterzuentwickeln sind, ist durch einen Blick auf die bisher gewonnenen Forschungsresultate der marxistischen Psychologie leicht zu sehen: Auf der Seite des Individuums sind alle psychoanalytischen Vorstellungen von einer unveränderbaren ungesellschaftlichen »Triebstruktur« des Menschen immer klarer in ihrer wissenschaftlichen Unhaltbarkeit zu verdeutlichen im stets überzeugenderen Aufweis der kognitiven, emotionalen und motivationalen Dimensionen, durch welche die Individuen fähig und bereit sind, sich in den gesellschaftlichen Lebensprozeß hineinzuentwickeln und über Beiträge zur gesellschaftlichen Reproduktion sich an der Schaffung der Reproduktionsbedingungen für die je subjektive Existenz zu beteiligen. Und auf der Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse ist die psychoanalytische Auffassung von deren lediglich einschränkender und repressiver Funktion immer umfassender und differenzierter zu überschreiten durch den Aufweis des Zusammenhangs zwischen der Entfaltung subjektiver Lebensqualität und der eigenen Teilhabe an der gesellschaftlichen Verfügung über die Lebensbedingungen, also Aufhebung individueller in kollektiver Subjektivität.

Trotz aller bisher schon geleisteten Arbeit sind jedoch mit der hier versuchten Heraushebung der subjektwissenschaftlichen Perspektive marxistischer Psychologie vorläufig weniger Problemklärungen vorzuweisen als die Ebenen ihrer künftigen Klärung zu präzisieren. Besonders auch bei der Herausarbeitung der methodischen Konsequenzen der angedeuteten subjektwissenschaftlichen Konzeption struktureller Verallgemeinerung liegt mit Sicherheit das größte Stück Arbeit noch vor uns. Dabei sind natürlich auch die traditionell-psychologischen Methodenvorstellungen, bis hin zum variablenpsychologischen Konzept der Häufigkeits-Verallgemeinerung, nicht abstrakt zu negieren, sondern lediglich in ihrem Universalitätsanspruch als Garanten der Wissenschaftlichkeit in der Psychologie zurückzuweisen: Unter dieser Prämisse vom Primat der strukturellen Verallgemeinerung kann dann auch nach den Anwendungsvoraussetzungen und dem Stellenwert solcher methodischer Konzepte im Rahmen subjektwissenschaftlicher Forschung gefragt werden. Der wesentliche Sinn meines Beitrags sollte denn auch darin liegen, den Konsens darüber genauer zu begründen und damit zu befestigen, daß die wesentlichen Aufgaben zukünftiger gemeinsamer Arbeit marxistischer Psychologen auf der dargestellten subjektwissenschaftlichen Problemebene liegen und daß dabei kein Weg um die Psychoanalyse herum führt. ||40|

Literaturverzeichnis

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