In: Report Psychologie. Zeitschrift des Berufsverbandes Deutscher Psychologen (BDP), 13. Jahrgang 3/88, S. 22-30
Interview mit Klaus Holzkamp
„Die Entfremdung zwischen der grundwissenschaftlichen Psychologie und der Praxis besteht auch heute noch“
Prof. Dr. Klaus Holzkamp, Jahrgang 1927, ist seit 1967 Professor für Psychologie am Psychologischen Institut der FU Berlin. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie und psychologische Grundlagenforschung. Nachdem er sich zunächst durch experimentelle Forschungsarbeiten im Bereich der Wahrnehmungs-, Denk- und Sozialpsychologie einen Namen gemacht hatte, wandte er sich im Zuge der Studentenbewegung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre mehr und mehr von der „bürgerlichen“ Psychologie ab. Große Resonanz fand in diesem Zusammenhang seine methodologische Abrechnung mit der „praktischen Irrelevanz“ der psychologischen Forschung. Holzkamp begründete die marxistisch orientierte „Kritische Psychologie“, deren bedeutendster Vertreter er nach wie vor ist. Hatte sich die Kritische Psychologie zunächst vorwiegend negativ, als „Kritik“ der herrschenden Psychologie, definiert, so nahmen Holzkamp und seine Mitarbeiter seit Mitte der 70er Jahre das ehrgeizige Projekt einer weitgehenden, grundlagenwissenschaftlichen Neuorientierung der Psychologie in Angriff. Als bisher wichtigstes Ergebnis diese Arbeit erschien 1983 Holzkamps Hauptwerk „Grundlegung der Psychologie“. In ihm wird der Beitrag der Kritischen Psychologie zu einer „kategorial-methodologischen Fundierung der Psychologie“ erstmals im Zusammenhang dargestellt. Wir wollten von Klaus Holzkamp vor allen Dingen wissen, wie sich die „Praxisrelevanz“ der Psychologie – auch der Kritischen Psychologie – für ihn aus heutiger Sicht darstellt.
RP: Herr Professor Holzkamp, Ihren berühmt gewordenen Aufsatz „Zum Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis“, der ja auf einem Vortrag beim BDP basiert, beginnen Sie mit den Worten, ich zitiere: „Niemand wird leugnen können, dass psychologische Forschung und psychologische Berufspraxis sich gegenwärtig in vielen Bereichen weitgehend entfremdet gegenüberstehen.“ Das war vor 20 Jahren. Inzwischen hat die Psychologie in Forschung und Praxis einen beachtlichen Aufschwung erlebt, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit ist deutlich gestiegen, die Zahl der Psychologen hat sich annähernd verzehnfacht. Gleichzeitig entwickelte sich neben der Fachpsychologie eine soziale und kulturelle Bewegung, die wir gemeinhin etwas abschätzig als „Psychoboom“ bezeichnen. Frage: Gilt Ihr damaliges Verdikt über die Praxisfremdheit der Psychologie auch heute noch oder hat sich im Laufe der Jahre etwas verändert im Verhältnis zwischen psychologischer Forschung und Praxis?
Prof. Holzkamp: Ich glaube schon, dass die Trennung und Entfremdung zwischen der grundwissenschaftlichen Psychologie und der psychologischen Praxis auch heute noch bestehen. Dies zeigt sich u.a. darin, dass in der Diplomausbildung für Psychologen das Grundstudium kaum in systematischer Weise auf das Hauptstudium vorbereitet. Manche Kollegen aus der Praxis haben daraus die Konsequenz gezogen, nach der Vordiplomprüfung nochmals eine eigene theoretische Grundlegung der Berufspraxis zu versuchen. Damit hätten die Studierenden eigentlich zwei unterschiedliche Kurzstudiengänge mit unterschiedlicher theoretischer Zielsetzung zu absolvieren.
RP: Es gibt jedoch in der letzten Zeit immer mehr auch wissenschaftlich tätige Psychologen, die dieses Problem erkannt haben und die versuchen, auch ihre Forschungsmethoden zu verändern. Stichworte: Feldforschung, qualitative Methoden, eklektizistische Orientierungen usw. Welchen dieser neueren Ansätze – soweit sie nicht zu seiner eigenen Schule gehören – fühlt sich Klaus Holzkamp heute am stärksten verpflichtet?
Prof. Holzkamp: Die Versuche, grundwissenschaftliche Methoden für die Anwendung in der Praxis umzuarbeiten, sind ja schon relativ alt: quasi-experimentelle Designs zur Bedingungsanalyse ohne die Möglichkeit strenger Bedingungskontrolle etc. Im Ganzen gesehen scheint mir hinter solchen Versuchen die Vorstellung zu stehen, dass man der Praxis eigentlich nur eine Art von gebremster Wissenschaftlichkeit zutrauen kann: Die methodischen Anforderungen sind dieselben, nur werden sie für die Praxis ein bisschen ermäßigt. Das gleiche gilt für die heute modernen „eklektizistischen“ Lösungsversuche: In der grundwissenschaftlichen Psychologie wird (wenigstens vielfach) der Anspruch auf konsistente und möglichst verallgemeinerbare Theorienbildung aufrechterhalten. Der Praxis gegenüber wird indessen das Zugeständnis gemacht: Dort ist aufgrund der Vielfalt und Undurchschaubarkeit der empirischen Verhältnisse und der Unklarheit der Fragestellungen so etwas nicht möglich. Deswegen muss der Praktiker erst einmal versuchen, aufgrund seiner „Erfahrung“ mit dieser Situation zurechtzukommen, wobei die Theorien lediglich eine Hilfsfunktion haben. Er soll bzw. darf sich also quasi aus dem theoretischen Bauchladen bedienen, sich jeweils die Theorien heraussuchen, die er brauchen kann, und deren mögliche Unvereinbarkeit oder Widersprüchlichkeit wird so verdrängt mit dem Argument, der Praktiker müsse halt selbst entscheiden, was ihm nütze. Dabei übersieht man die Tatsache, dass darin natürlich auch wieder „theoretische“ Vorentscheidungen liegen, nur dass diese Privatsache des Praktikers bleiben, nicht offengelegt werden, also auch nicht diskutierbar und kritisch hinterfragbar sind. Und zu den „qualitativen Methoden“: Diese sind offenbar per definitionem nicht „quantitativ“. Wodurch sie aber positiv gekennzeichnet sind, und vor allem, worin eigentlich das „Methodische“ der qualitativen Methoden bestehen soll, dies weiß eigentlich keiner so genau. Sicher sind hier einige spezielle Verfahrensweisen, Selbstkonfrontation etc., entwickelt worden. Im Ganzen gesehen scheinen mir aber auch die qualitativen Methoden die üblichen Methoden mit ermäßigtem wissenschaftlichen Anspruch zu sein: Statt geeichter Skalen „offene Interviews“, statt quantitativ kontrollierter Inhaltsanalysen „Interpretationen“ o.ä. Wenn es hart auf hart kommt, d.h. insbesondere, wenn man für die qualitative Forschung Drittmittel haben will, greift man dementsprechend dann meist doch wieder, wenn auch selbstkritisch und mit schlechtem Gewissen, auf die traditionellen Kriterien zurück. Prinzipiell würde ich mich als Praktiker nicht damit abfinden wollen, dass man mich hier wohlwollend, weil es eben „nicht anders geht“, als Wissenschaftler zweiter Klasse einstuft: Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Aufgabe psychologischer Praxis doch darin besteht, verantwortbare Arbeit mit den davon betroffenen Menschen zu leisten. Und Verantwortbarkeit hat ja wohl ziemlich viel mit Wissenschaftlichkeit bzw. (umgekehrt) mangelnde Wissenschaftlichkeit der Praxis mit ihrer Unverantwortbarkeit zu tun.
RP: Nun müsste ja sicher einer der Ansatzpunkte für eine konstruktive Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis darin bestehen, dass die Wissenschaft oder die Wissenschaftler sozusagen Hilfestellung für Praktiker leisten. Ein Praktiker kann in der Regel nicht gleichzeitig Forschung betreiben, schon aus institutionellen Gründen, und es herrscht oft auch eine tiefgehende Abneigung auf Seiten der Praktiker gegenüber der Forschung. Wie müsste man heute, nach 20 Jahren Psychologie-Expansion und aus einer etwas kritischeren, distanzierteren Sicht der Dinge die Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis zum Nutzen des Praktikers und damit letztlich auch zum Nutzen des Klienten neu bestimmen?
Prof. Holzkamp: Die Hauptschwierigkeit besteht m.E. darin, dass man das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis immer noch als ein Verhältnis der Anwendung grundwissenschaftlich, besonders experimentell gewonnener Resultate und der entsprechenden Denkweisen auf die Praxis versteht. Unter dieser Vorstellung muss die Praxis nach „wissenschaftlichen“ Kriterien notwendig defizitär aussehen. Von da aus ist die Abneigung der Praktiker gegen eine so gefasste „Theorie“ verständlich, da hier systematisch Anforderungen an sie gestellt werden, die sie prinzipiell kaum erfüllen können. Die Übertragbarkeit von grundwissenschaftlichen Ansätzen auf die Praxis ist ja keineswegs selbst zu einem grundwissenschaftlichen Forschungsthema geworden (dabei müsste man sich ja auf die unklaren Verhältnisse der außerexperimenteilen Realität irgendwie einlassen): Vielmehr wird es mehr oder weniger dem Praktiker überlassen, wie er solche Ansätze in seiner Praxis umsetzen will – ohne dass ihm irgendwelche wissenschaftlich ausgewiesenen Kriterien dafür zur Verfügung gestellt sind. Anders herum: Es kann nicht um die Übertragung von Grundwissenschaft auf die Praxis gehen, sondern man muss sozusagen Grundlagenforschung in der Praxis, also quasi „Praxisforschung“, betreiben.
RP: Wie könnte das konkret aussehen?
Prof. Holzkamp: Vielleicht kann ich unsere ersten Versuche in dieser Richtung an einem Projekt erläutern. Es heißt „Theorie-Praxis-Konferenz“ und in ihm wollen Kollegen, die an unserem Institut ausgebildet wurden und inzwischen mehrere Jahre in den verschiedensten Institutionen praktisch gearbeitet haben, den Rückbezug auf diese Ausbildung, insbesondere die Kritische Psychologie, wiederherstellen. Der Anlass für die Entstehung dieses Projekts war die Klage von uns nahe stehenden „Praktikern“, warum im FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE so wenig Beiträge aus der Berufspraxis zu finden sind. Wir antworteten darauf, der Grund liege nicht darin, dass wir derartige Beiträge abgelehnt hätten, sondern darin, dass kaum welche bei uns eingereicht wurden. Die genannten „Praktiker“ und die FORUM-Redaktion begannen daraufhin, der Frage nachzugehen, warum dies so ist. Dabei kamen wir auf das allgemeinere Problem, dass es offenbar große Schwierigkeiten macht, über Berufspraxis interessante und weiterführende Beiträge (jenseits trockener „Kasuistik“ und abstrakter Erfolgsmeldungen) zu verfassen. Man hat es hier mit dem Widerspruch zu tun, dass die Praktiker aufgrund ihrer Arbeit quasi in „vorderster Front“ gesellschaftlicher Widersprüche in ihren Auswirkungen als menschliches Leiden und individuelle Desorientierung „notwendigerweise“ wichtige Erfahrungen darüber machen, wobei sie diese Erfahrungen aber lediglich zur Bewältigung ihres berufspraktischen Alltags benutzen. Sie sind jedoch nicht in der Lage, sie so oft auf den Punkt zu bringen und zu verallgemeinern, dass sie wissenschaftlich kommunizierbar (und damit auch in weiteren sozialen und politischen Zusammenhängen verwertbar) sind. Unter der Fragestellung woher diese „Sprachlosigkeit“ der Praxis kommt und wie man sie aufheben kann, bildete sich dann das erwähnte Projekt heraus, das den Untertitel trägt „Reden/Schreiben über Praxis“ und in dem u.a. „Praxisforschung“ im genannten Sinne initiiert wird. Indem wir begannen, die unterschiedlichen Institutionen, in denen die Teilnehmer an der TPK tätig sind, zu analysieren, stellte sich bald heraus, dass die „veröffentlichte“ Sprachlosigkeit der Praxis nur der Teilaspekt eines viel tiefer greifenden Problems ist: der „theoretischen“ Sprachlosigkeit der Praktiker untereinander. Es ergab sich, dass bei den Kontakten zwischen den einzelnen Praktikern, mit Kollegen aus anderen Berufszweigen, mit Vorgesetzten und Auftraggebern etc. die Diskussion über die jeweiligen theoretischen Grundlagen der eigenen Tätigkeit meist nicht nur ausgespart bleibt, sondern genau besehen tabuisiert ist: Geredet wird hier nur über organisatorische Fragen, etwa die Verteilung der Fälle, den gemeinsamen Zeitplan, und dann wieder über private Probleme. Nach welchen theoretischen Gesichtspunkten die einzelnen Kollegen ihre Arbeit machen, ist aber, solange sie ihre Fälle schaffen, und nicht sonst irgendwelche Klagen oder Reklamationen kommen, allein deren Sache. Hier wird unter den genannten Prämissen eigentlich jede Variante geduldet, sogar Psychoanalyse, ja sogar Kritische Psychologie (womit deren Absolventen, wenn sie sich an die genannten Spielregeln halten, also auch eine Berufschance haben… ). Sofern aber jemand (u.U. wenn er noch neu ist) übergreifende Diskussionen über die theoretischen Grundlagen, vielleicht sogar mit dem Ziel der Einigung über das wissenschaftlich Vertretbare und Verantwortbare, anregt, so erscheint er mit einem Schlage als Störenfried, der aus mangelnder Reife und Berufserfahrung mutwillig den Betriebsfrieden gefährdet. Das dem zugrunde liegende Wissen der „erfahrenen Praktiker“ besteht in der impliziten Einsicht, dass die Vertretbarkeit/Verantwortbarkeit der einzelnen theoretischen Ansätze und daraus abgeleiteten Verfahren tatsachlich kaum offiziell begründbar ist. Es handelt sich hier vielmehr um naturwüchsige bzw. pragmatische „Bewältigungsformen“, die gar nicht dazu „gemacht“ sind, dass man sie öffentlich wissenschaftlich diskutiert. Sie sind viel eher ein Hilfsmittel, um tatsächlich mit den Widersprüchen und Zumutungen der Praxis zurechtzukommen. Die geforderte explizite Auseinandersetzung würde aber notwendig dieses Dilemma zutage treten lassen und wäre somit quasi „berufsschädigend“. Wenn man also – aus „guten Gründen“ – untereinander nicht offen theoretisch diskutieren kann, so kann man aber natürlich auch keine wirklich offenen und klärenden theoretischen Publikationen über die Praxis verfassen: Vielmehr stehen dann solche Publikationen (deswegen sind sie häufig so langweilig) selbst im Kontext dieser Abschirmung vor grundsätzlicher Analyse der eigenen Tätigkeit einerseits und Förderung der öffentlichen Akzeptanz durch Kompetenz- und Erfolgsvorspiegelungen andererseits.
RP: Zu diesem Punkt: Eines der gravierendsten institutionellen Probleme ist ja zweifellos die Konkurrenz mit den anderen nichtpsychologischen Berufsständen im psychosozialen und gesundheitlichen Bereich. Da erlebt man ja sehr häufig, dass Psychologen – wie die anderen Berufsgruppen natürlich auch – sich meist sehr idealtypisch „verkaufen“ und nicht ehrlich genug über ihre wirkliche Praxis reden oder reden können. Daraus ergeben sich ja sicher erhebliche Probleme für so etwas wie eine wissenschaftliche Begleitung der Praxis, oder wie Sie es nennen: Praxisforschung.
Prof. Holzkamp: Das betrifft auch die Konkurrenz unter den praktisch arbeitenden Psychologen selbst, die einen dazu zwingt, dem jeweils anderen den Einblick in die wirklichen Probleme und Widersprüche der eigenen Arbeit zu verwehren. Irgendjemand hat einmal gesagt: Die Schulklasse ist der einsamste Ort der Welt, weil kein Lehrer sich leisten kann, jemand anders da wirklich reinschauen zu lassen, womit Berichte darüber, auch solche, die in die Wissenschaft eingehen, eher das enthalten, was dort geschehen sollte oder müsste, als das, was da tatsächlich geschieht. Ähnlich ist es m. E. mit dem psychologischen Therapie- oder Beratungszimmer. Daraus ergibt sich zunächst, dass zur Verwissenschaftlichung der Praxis erst einmal Bedingungen herstellbar sein müssen, unter denen die wirklichen Widersprüche und Probleme überhaupt Analysegegenstand werden können. Und dies geht natürlich nicht in einer Forschung über die Praxis, sondern nur mit den Praktikern selbst als Mitforschern. Hier entsteht aber auch die Frage nach den „typischen“ Abwehrformen, Realitätsausklammerungen, defensiven Formeln, die sich dem Praktiker selbst zur Bewältigung der alltäglichen Widersprüche und Unzumutbarkeiten aufdrängen – wobei es darauf ankommt, deren blinde Reproduktion zu überwinden und sie selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse zu machen.
RP: Nun haben Sie ja in der Vergangenheit immer wieder postuliert, dass die Psychologie einen besonderen, emanzipatorischen Charakter besitze, dann, wenn es ihr gelinge, aufklärerisch tätig zu sein. In der Tat dürften Psychologen – meinetwegen innerhalb eines interdisziplinaren Teams – am ehesten in der Lage sein, z. B. solche Probleme, wie Sie sie eben beschrieben haben, zu reflektieren. Ein Mediziner etwa wird hierfür ein geringeres begriffliches und theoretisches Instrumentarium zur Verfügung haben, ein Sozialarbeiter vielleicht noch eher. Dabei stellt sich für mich jedoch die Frage: Wie kann der psychologische Praktiker damit umgehen, dass er im Team eine fast „übermenschliche“ Doppelrolle spielen soll, nämlich mit seinen eigenen Problemen fertig zu werden und gleichzeitig seinen Kollegen gegenüber „aufklärerisch“ zu wirken? Wie könnte denn die Funktion eines Psychologen in einem solchen Team konkret und bewältigbar aussehen?
Prof. Holzkamp: Vorausgesetzt ist dabei zunächst einmal, dass der Psychologe aufgrund seiner theoriegeleiteten Erfahrung tatsächlich spezifische Einsichten in den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Widersprüchen und Restriktionen und deren „Personalisierung“ in individuellen „Eigenschaften“, Beziehungen, Konflikten etc. hat. Die Vermittlung solcher psychologiespezifischen Erfahrungen wird allerdings in bloß persönlichen Begegnungen kaum möglich sein – dies schon deswegen nicht, weil der Psychologe ja in den genannten „Teams“ oder sonstigen Kooperationsbeziehungen meist eine relativ schwache Position hat. Hier kommt man nur auf einer mehr verallgemeinerbaren Ebene weiter, die wiederum die genannte „Verwissenschaftlichung“ der Praxis einschließt bzw. voraussetzt. Ein Beispiel aus der TPK: Wenn ein Jugendrichter permanent die differenzierten gutachterlichen Äußerungen des Psychologen zugunsten seiner vorgefassten Law-and-Order-Vorstellungen vom Tisch fegt, so dürfte der Psychologe in unmittelbarer persönlicher Konfrontation häufig den Kürzeren ziehen. Anders mag es indessen sein, wenn er, sagen wir in der Deutschen Richterzeitung, einen Artikel zur „Alltagspsychologie des Jugendrichters“ schreibt und so die Problematik auf einer generalisierten Ebene diskutierbar macht.
RP: Ein ganz ähnliches Problem ergibt sich dann ja auf „höchster“ berufspolitischer Ebene, wenn nämlich die psychologischen Berufsorganisationen sich genötigt sehen, die Psychologie meist von der Schokoladenseite zu präsentieren, und das selbstkritische Element kaum Platz hat oder haben darf.
Prof. Holzkamp: Die Psychologie ist (ich habe dies ja schon angedeutet) m.E. ein quasi strukturell „defensives“ Fach. Dies gilt schon für die grundwissenschaftliche Psychologie, die dauernd damit beschäftigt ist, ihren Anspruch der „Naturwissenschaftlichkeit“ unter Beweis stellen zu wollen. (Man stelle sich einmal vor, ein Physiker erhebe den Anspruch, Naturwissenschaftler sein zu wollen…der ist einer.) Ebenso ist die psychologische Praxis permanent bemüht, die Seriosität, Effektivität, Objektivität, Nützlichkeit ihrer Verfahren und Befunde zu demonstrieren – und dies, wie mir scheint, mehr oder weniger in Überkompensation eines heimlichen „schlechten Gewissens“: Man weiß eigentlich, dass man seine eigenen Kriterien genaugenommen nicht einhalten kann, dass also die zur Schau gestellten Erfolge etc. mit einem Hauch von Hochstapelei versehen sind. Diese „defensive“ Grundsituation scheint mir nun, wie gesagt, nicht zu bedeuten, dass die Psychologie tatsächlich nichts Überzeugendes zu bieten hat, sondern lediglich, dass man (häufig in Übernahme fremder Maßstäbe) an die eigene Arbeit die falschen Kriterien anlegt. Genauer: Die Praktiker benutzen ihr Wissen nur zur Bewältigung ihres Berufsalltags, können es aber nicht als ihren Beitrag zur interdisziplinären Kooperation auf den Begriff bringen. Die – in eigenen, psychologieimmanenten Wissenschaftlichkeitskriterien gegründete – wissenschaftliche Artikulationsfähigkeit der Praxis ist, wie mir scheint, die Voraussetzung dafür, dass man sich auch berufsständisch durchsetzen kann, ohne die von Ihnen genannten beschönigenden Schokoladenseitentechniken anwenden zu müssen, mit denen man (weil man ihnen letztlich selbst nicht glaubt) auch die anderen auf die Dauer kaum zu überzeugen vermag.
RP: Allerdings bringt das ehrliche Eingeständnis der Widersprüchlichkeiten, unter denen Psychologen arbeiten, immer ganz erhebliche Entscheidungsprobleme mit sich. Sie, Herr Holzkamp, haben ja eine Psychologie „vom Standpunkt des Individuums aus“ formuliert, und in der Konsequenz müsste das bedeuten, dass alle in einer bestimmten Situation handelnden Individuen in ihrer Individualität und in ihren Interessen ernst genommen werden. Je konsequenter man diese Position verfolgt, z.B. als Therapeut, desto komplizierter wird es doch für den Praktiker, Entscheidungen zu treffen: Auf wessen Seite stelle ich mich? Ist mein Interesse als Therapeut in der betreffenden Situation vielleicht wichtiger als das des Klienten? Ist das Interesse des Klienten A wichtiger als dasjenige des Klienten B – z.B. in einer Familientherapie, usw.?
Prof. Holzkamp: In der Art, wie Sie dieses Problem formuliert haben, deutet sich ja schon an, in welcher Richtung allein seine Lösung liegen kann: Der therapeutische Klärungsprozess muss ergeben, wieweit die vorgefundenen Interessengegensätze tatsächlich substantiell sind oder nur „Lateralisierungen“ bzw. „Personalisierungen“ von Widersprüchen und Restriktionen, denen man gemeinsam ausgesetzt ist. Wieweit also gemeinsame Interessen der Beteiligten mit Einschluss des Therapeuten im Laufe des Therapieprozesses zutage treten, sodass auch der Versuch einer gemeinsamen Überwindung der in der Therapie thematischen Probleme sinnvoll werden kann. Voraussetzung für so verstandene Therapieaktivitäten ist wiederum eine entsprechende Praxisforschung. So arbeitet Ole Dreier, Vertreter der Kritischen Psychologie an der Universität Kopenhagen, an bzw. in einem Projekt, in welchem die widersprüchlichen Sichtweisen und Funktionsbestimmungen der Therapie durch den Therapeuten und die Klienten selbst als Funktion des Therapieprozesses erfasst und aufgeschlüsselt werden.
RP: Das klingt ja nun so, als wäre die Kritische Psychologie auf einer Ebene von Therapieforschung angelangt.
Prof. Holzkamp: Auch, auch.
RP: …also unter anderem. Gibt es eigentlich konkrete therapeutische Handlungsfelder der Kritischen Psychologie, von denen man sagen konnte: Dieser Therapeut handelt entsprechend originären Methoden der Kritischen Psychologie?
Prof. Holzkamp: Als Antwort darauf brauche ich das eben Gesagte nur noch etwas zuzuspitzen: Wenn es in der Therapie darum geht, die Isolation der Klienten von ihrer sozialen Umwelt und vom Therapeuten in der Erkenntnis und Realisierung gemeinsamer Interessen an erhöhter Lebensqualität (d. h. Schaffung von Lebensbedingungen, die eine solche Qualität ermöglichen) aufzuheben, so schließt dies die Vorstellung von „originären Methoden“ der Kritischen Psychologie, durch welche der einzelne Therapeut in Konkurrenz mit anderen sich profilieren und durchsetzen kann, genaugenommen aus. Was wir vielleicht zur therapeutischen Arbeit beitragen können, ist die Erweiterung des Blicks von scheinbar bloß individuellen bzw. interaktiv-sozialen Problemen der Klienten auf die umfassenderen institutionellen bzw. gesellschaftlichen Restriktionen, deren „unverstandene“ Erscheinungsformen sie sind, d.h. die Herausarbeitung der gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten, um solche Lebensbedingungen zu schaffen, auf die die Klienten nicht mehr mit ihren „Symptomen“ o.a. reagieren müssen. Dazu gehört zentral auch die Selbstklärung der Funktion der Therapie und der Therapeuten – und da steht dann natürlich auch die einschlägige Funktion bestimmter therapeutischer Konzeptionen zur Debatte: Wieweit sind die verschiedenartigsten therapeutischen Techniken, mit denen der Therapeut als einzelner in die Lage versetzt werden soll, den Therapieprozess nach den außengesetzten Erfolgskriterien zu kontrollieren, nicht eigentlich selbst ein Teil der Krankheit? D.h. wieweit ist er dadurch nicht systematisch daran gehindert, seine speziellen Beiträge zur Erweiterung der gemeinsamen Verfügung über den Therapieprozess (im Dienste der Erweiterung der Verfügung der Klienten über ihren Lebensprozess) zu identifizieren und einzubringen?
RP: Von der Psychotherapie einmal abgesehen: Welche für psychologische Praktiker relevanten Projekte plant die Kritische Psychologie für die nähere Zukunft?
Prof. Holzkamp: Die Psychologie konnte und sollte – über die Arbeit am Einzelfall bzw. der aktuellen Gruppe hinaus – in immer höherem Maße Aufgaben der Institutions- bzw. Organisationsberatung übernehmen. Dies wurde auch die psychologische Beratung von Gewerkschaften und politischen Instanzen einschließen. Wenn z.B. Wirtschaftswissenschaftler ihr Wissen und ihre Kritikfähigkeit in die Politik hinein artikulieren, warum nicht auch Psychologen? Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass die Psychologie – aufgrund angemessener theoretischer Ansätze und darauf basierender Forschung – auch tatsächlich über nützliches Wissen über die Zusammenhänge zwischen menschlicher Subjektivität und den ökonomischen, politischen, sozialen Lebensverhältnissen verfügt – und nicht, wie heute üblich, etwa soziale und gesellschaftliche Widersprüche als lediglich persönliche bzw. interaktive Konflikte in die Individuen und deren unmittelbare Beziehungen hineinverlegt.
RP: Darf ich an dieser Stelle einmal eine provokante Frage stellen: Vermittelbarkeit und sprachlich-begriffliche Verstehbarkeit psychologischen Wissens sind ja zweifellos Voraussetzung für solche Praxisprojekte, für Beratungstätigkeit im allgemeinen. Nun ist die Kritische Psychologie aber nicht gerade für besonders leichte Nachvollziehbarkeit bekannt …
Prof. Holzkamp: Man muss da verschiedene Ebenen unterscheiden. In prinzipiell gerichteten Arbeiten wie der „Grundlegung“ muss es ja zunächst einmal darauf ankommen, den bisher ausgeklammerten Gesamtzusammenhang zwischen gesellschaftlich-historischem Prozess und individuellem Lebensprozess differenziert auf den Begriff zu bringen. Und da die dabei auftretenden Probleme so komplex und schwierig sind, wird der Text darüber kaum einfacher und „eingängiger“ sein können. Sofern man jedoch aufgrund bestimmter (vorläufiger) Resultate bei derartigen prinzipiellen Analysen brauchbares Wissen für bestimmte konkrete Arbeitsbereiche zur Verfügung stellen will, muss man auch entsprechend konkreter und fassbarer schreiben, was aber voraussetzt, dass man die derart umzusetzenden Problematiken erst einmal selbst – auf der ersten Ebene – hinreichend begriffen hat. Ich glaube, dass es auch für die zweite Ebene der sprachlichen Umsetzung für praktische Bedürfnisse bei uns relativ überzeugende Beispiele gibt (man schaue z.B. einmal in unsere bisher vier Berichtsbände über die Ferienuniversitäten Kritische Psychologie hinein).
RP: Wie kommt es aber, dass die Kritische Psychologie innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie nach wie vor eine relativ randständige, „unverstandene“ Position einnimmt?
Prof. Holzkamp: „Randständig“ innerhalb der akademischen Fachpsychologie, aber nicht in anderen Disziplinen wie Soziologie, Pädagogik, Philosophie, wo wir allmählich immer selbstverständlicher als eine der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Arbeitsrichtungen mitdiskutiert werden. Warum aber „randständig“ innerhalb der Fachpsychologie? Sicher wesentlich deswegen, weil unser zentrales Thema, die Analyse und Kritik der psychologischen Grundbegrifflichkeit, in der Fachpsychologie selbst „randständig“ ist. Man hat hier immer mehr verlernt, dass z.B. ein experimenteller Befund, auch wenn bei seinem Zustandekommen der gängige experimentell-statistische Methodenkanon perfekt berücksichtigt ist, sofern man lediglich auf unklare, unpräzise und „schiefe“ Weise darüber zu reden vermag, eben selbst ein unklarer, unpräziser und „schiefer“ Befund ist. Da also gegenwärtig begriffliche Schärfe und Differenziertheit kaum zu den Normen für die Wissenschaftlichkeit psychologischer Grundlagenforschung gehört, können die Forscher mit ihren Arbeiten auch Akzeptanz in der einschlägigen wissenschaftlichen Community finden, Karriere machen etc., ohne begriffskritische Überlegungen wie die unseren einzubeziehen. Sie müssen unsere Konzeptionen also keineswegs kritisch zurückweisen, es reicht bzw. ist am günstigsten für sie, wenn sie sich einfach nicht darum kümmern und ungerührt so weiterschwätzen wie bisher. Es sieht allerdings so aus, als ob sich daran – vor allem in den USA – allmählich einiges ändert, indem man zu begreifen anfängt, dass man ohne grundsätzliche Klärungen aus den permanenten Krisen und Sackgassen der Psychologie kaum hinausgelangt. Entsprechend wächst dort allmählich auch das Interesse an unseren Arbeiten. Sofern sich dies in Amerika zu einem sichtbaren Trend verstärken sollte, werden dann wohl auch unsere aufstrebenden Psycho-Yuppies davon als karriererelevant Kenntnis nehmen…
RP: Hat sich die Kritische Psychologie nicht lange Zeit auch selbst zu sehr nach außen abgeschottet? Z.B. durch das großzügig verteilte Etikett der „bürgerlichen“ Psychologie, das ja auch eine Art Freund-Feind-Bild geschaffen hat.
Prof. Holzkamp: Das ist sicherlich nicht zu leugnen. Dabei ist die Rede von der „bürgerlichen Psychologie“ sicher noch weniger problematisch als die von den „bürgerlichen Psychologen“: Wenn mir jemand sagt, dass bestimmte von mir vertretene Theorien nicht nur durch wissenschaftliche Kriterien, sondern auch durch ideologische Momente geprägt, also in diesem Sinne „bürgerlich“ sind, so ist dies immerhin noch auf einer diskursiven Ebene diskutierbar. Wenn mich aber jemand selbst einen „bürgerlichen Psychologen“ nennt, so kann ich mich dagegen kaum wehren – und es ist verständlich, dass ich unter diesen Umständen den Kontakt abbreche. Hier wurden von uns früher selbst eben jene Personalisierungen vollzogen, deren Durchdringung eines unserer theoretischen Ziele ist. Allerdings hat sich daran – auch in dem Maße, wie wir unsere Konzepte klarer fassen konnten – inzwischen vieles geändert. Wer seine – vielleicht ehemals berechtigten – einklammern kann und etwas genauer hinsieht, der wird merken, dass wir nicht von einem äußeren Standpunkt die gesamte Psychologie und ihre Vertreter abwerten wollen: Vielmehr stellen wir uns selbst in den Entwicklungsprozess der Psychologie, indem wir Widersprüche und Verkürzungen besser reflektierbar machen wollen. Dies gilt insbesondere auch für den methodologischen Bereich: Wir wollen deutlich machen, dass die Alternative zum gegenwärtig gültigen experimentell-statistischen Methodenkanon nicht eine methodisch ermäßigte, weniger „exakte“ Forschung ist, sondern eine Forschung mit anderen, dem psychologischen Gegenstand angemesseneren Wissenschaftlichkeits- und Exaktheitskriterien. Dementsprechend haben wir damit begonnen, die Standards der Verallgemeinerbarkeit, Objektivität etc. der psychologischen Forschung neu zu fassen. Es mag ja sein, dass trotz allem viele Kollegen zu dem Urteil kommen wurden, dass dies alles nichts für sie ist. Aber dennoch sollte man sich vielleicht allmählich etwas dringlicher fragen, wieweit ein solches Urteil ohne dessen Begründung, d. h. ohne vorgängiges sorgfältiges Zur-Kenntnis-Nehmen dessen, worüber hier geurteilt wird, im Interesse unseres Faches noch vertretbar ist. Ich kann mich bei diesem Appell auf Theo Herrmann berufen, der (in der Festschrift zu meinem 60. Geburtstag) vorgeschlagen hat, die Kritische Psychologie, trotz ihrer notorisch aggressiven und besserwisserischen Attitude, „einmal versuchsweise als ein – ich möchte fast sagen: ganz normales, wenn auch sehr eigenwilliges und originelles – Forschungsprogramm zu betrachten: Dessen Überlegungen, Lösungsversuche und Detailergebnisse verdienen sowohl grundlagentheoretisch als auch anwendungspraktisch die Aufmerksamkeit und gelassene Erörterung, die bisher zum guten Teil eben durch die genannte Attitude behindert wurden.“
RP: Herr Professor Holzkamp, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
(Das Interview mit Klaus Holzkamp führte Dipl.-Psych. Roland Asanger in Report Psychologie, Zeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologen (BDP) 1988, S. 22-30.)