Veröffentlicht in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis (VPP), Jg. 47 (2015), Heft 1, Schwerpunkt: Gesundheit und therapeutische Versorgung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*Personen und ihren Familien, 191-193.
Leonie Knebel, Christian Küpper, Grete Erckmann & Michael Zander
Download: Leonie Knebel et al Bericht Ferienuni 2014
Vom 16.-20. September 2014 fand die 9. Ferienuniversität Kritische Psychologie unter dem Titel den „Den Gegenstrom schwimmen“ an der Freien Universität Berlin statt. Über 80 Veranstaltungen gruppierten sich um die Themen „Praxisforschung, Psychotherapie und Beratung“, „Das Rätsel des Unbewussten“, „Wissenschaftsgeschichte und Erkenntnistheorie“ und „Politische Kämpfe und Emanzipation“. Organisiert wurde die Ferienuniversität, wie bereits 2010 und 2012 (vgl. VPP 1/2013), von einem autonomen Arbeitskreis, bestehend aus Studierenden, PraktikerInnen und WissenschaftlerInnen der Psychologie und anderer Disziplinen.
Auf der Agenda der Ferienuniversität stand, Kritische Psychologie kennenzulernen bzw. weiterzuentwickeln sowie in Anbetracht des allgemeinen Trends der Verdrängung kritischer Ansätze aus Theorie und Praxis eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Der Titel „Den Gegenstrom schwimmen“ spielte auf ein Zitat von Klaus Holzkamp (1927-1995) an. Holzkamp wandte sich darin gegen einen „verkürzten Begriff von Wissenschaftlichkeit, der der grundwissenschaftlichen Psychologie in ihrer Hauptrichtung zu eigen“ ist und der im Kern darin besteht, lediglich „irgendwelche fixierten Verfahrensvorschriften“ anzuwenden. Wirkliche Wissenschaft, so Holzkamp, ist „als ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile, und in der bürgerlichen Gesellschaft zudem gegen die eigene Tendenz zum Sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften, denen die Erkenntnisse gegen den Strich gehen, die ihren Herrschaftsanspruch gefährden könnten.“
Die Veranstaltungen zu Praxisforschung und zum Unbewussten, auf die wir uns hier weitgehend konzentrieren, zielten darauf, eine psychologische Praxis jenseits gesellschaftlicher Unterdrückung denkbar zu machen. Im Eröffnungsvortrag brachte Morus Markard diesen Anspruch folgendermaßen auf den Punkt: Wenn es die Aufgabe der Psychologie sei, Fremdbestimmung zu vermindern, so müssten Herrschaftsverhältnisse kritisiert werden. Objektivität messe sich daran, wie gut die jeweiligen Konzepte und Theorien die Widersprüche der gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden. Solange der Mainstream sich nicht in diese Richtung bewege, müsse man sich ihm widersetzen. „Gegen den Strom schwimmen muss man in dem Maße“, so Markard, „wie die Perspektive allgemeiner Menschlichkeit nicht Allgemeingut ist.“
Ein Veranstaltungsblock konzentrierte sich auf verschiedene Settings psychologischer Praxis. Die neu belebte Theorie-Praxis-Konferenz stellte ihre ersten Arbeitsergebnisse vor. Sie bietet WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen ein Forum, um die Relevanz der Kritischen Psychologie für die psychosoziale Praxis zu erproben und weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt sind jeweils Anliegen der Teilnehmenden, die sich aus der Praxis ergeben. Marcus Beyer zufolge hat es sich bewährt, zwischen Primär- und Sekundäranalysen zu unterscheiden: In ersteren geht es vorrangig um Schwierigkeiten der PraktikerInnen selbst, in letzteren stehen die Probleme der KlientInnen im Mittelpunkt. Das Interesse an Theorie-Praxis-Konferenzen war insbesondere bei BerufseinsteigerInnen groß.
Thede Eckart und Myriam Kaiser gingen der Frage nach, wie eine subjektwissenschaftliche Therapie von Psychosen aussehen kann. Dabei setzte sich Eckart kritisch mit der eigenen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Praxis auseinander und erarbeitete unter Rückgriff auf Erich Wulffs „Wahnsinnslogik“ ein Verständnis von „schizophrener Unverständlichkeit“. Er veranschaulichte dies an den Problemen eines Wohnungslosen, der überzeugt war, dass das Haus, indem er illegal wohnte, ihm gehöre, sowie am Fall eines früheren Mobbingopfers, das sich bei einer neuen Arbeitsstelle in die Angst hineinsteigerte, wieder schikaniert zu werden. Sylvia Siegel problematisierte das in der (Gestalt-)Therapie vorherrschende „Unmittelbarkeitsdenken“, d.h. die Ausblendung des gesellschaftlichen Kontextes der KlientInnen. Sie veranschaulichte die Herausforderung, die gesellschaftliche Vermitteltheit psychischen Leidens so mitzudenken, dass die KlientInnen davon profitieren.
Das Berliner Projekt „Selbstverständigung über Drogengebrauch“ (ProSD) existiert seit 2008 als kritisch-psychologische Praxisforschungs- und Selbsthilfegruppe. Wie Nicole Bromann, Felicitas Karimi und Christoph Vandreier ausführten, begreift ProSD Drogenkonsum als subjektiv begründete Handlung, statt Konsumierende als Objekte einer Substanz („Droge“) zu sehen. Im Mittelpunkt des Workshops standen Praxisprobleme, z.B. Interessensgegensätze zwischen Forschenden und Betroffenen. Erik Meyer stellte die ehrenamtliche Trans*beratungsstelle in Hamburg vor, die als niedrigschwelliges, parteiliches Angebot an die Tradition von “Gay Counselling“ und feministischen Therapien anknüpft. Die strategisch in Kauf genommene Psychopathologisierung durch die Diagnose „Transsexualismus“ bei der Begutachtung und Psychotherapie steht allerdings, so Meyer, im Gegensatz zu diesen Beratungsansätzen.
Ein anderer Veranstaltungsblock widmete sich der interdisziplinären und politischen Vernetzung. Ulrike Eichinger ging es um den Dialog zwischen Kritischer Psychologie und Sozialer Arbeit. Kritische Psychologie wird, so Eichinger, in der Sozialer Arbeit rezipiert, um den Blick für die Subjektperspektive in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit zu spezifizieren. Zudem würden mittels Kritischer Psychologie die Widersprüche der Berufspraxis Sozialer Arbeit reflektiert und der Umgang mit der neoliberalen Umstrukturierung thematisiert. Ian Parker (GB) warf in seinem Vortrag der Community Psychology vor, die Strukturlosigkeit einer harmonischen Gemeinde zu idealisieren. Das Problem besteht ihm zufolge darin, dass es zwischen akademisch ausgebildeten PsychologInnen und den radikalen politischen Bewegungen eine klare Trennung gibt. Statt psychologische Theorie auf die Projekte anzuwenden, solle man das Verhältnis umdrehen und mit den Erfahrungen der Bewegungen die Psychologie verändern.
Das Werkstattgespräch „Trauma, Gewalt, Gesellschaft” umfasste drei Beiträge, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln dafür plädierten, über das psychiatrisch-biomedizinische Traumakonzept der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ hinauszugehen. Ariane Bennsell und Grete Erckmann diskutierten mit Annette Guba, Catalina Körner und Anne Roth u.a. die Frage, wie eine emanzipatorische Praxis der Gewaltverarbeitung aussehen kann, die gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht personalisiert (am Bespiel von sexualisierter Gewalt), nicht ahistorisch abbildet (am Bespiel von NS-Geschichte und dem deutschen Kriegsopferdiskurs) und nicht entkontextualisiert (am Beispiel eines Forschungsprojektes mit Betroffenen des Bürgerkriegs in Liberia).
Ein Veranstaltungsblock konzentrierte sich auf methodische Fragen subjektwissenschaftlichen Forschens. Ole Dreier (DK) stellte ein interviewbasiertes Therapieforschungsprojekt in einer ambulanten Kinderpsychiatrie vor. Entgegen der traditionellen Therapieforschung mit ihrem Fokus auf Wirkungen von Interventionen auf KlientInnen, fokussiert Dreiers Ansatz das Alltagsleben während der Therapie. KlientInnen sind Teilnehmende an vielfältigen sozialen Praxen (z.B. Familie, Schule, Peergroup) und können diese handelnd mitgestalten und verändern. Interventionen stellten laut Dreier einen Versuch dar, „zwischen vieles andere, das sowieso läuft, hinein zukommen.“ In der Forschungswerkstatt mit Ole Dreier und Morus Markard wurden drei laufende Projekte der Psychotherapieforschung zur Diskussion gestellt: Maria Hummel und Leonie Knebel berichteten ihre Ergebnisse zum sich verändernden Problemverständnis einer Klientin mit der Diagnose Depression im Verlauf einer Verhaltenstherapie. Tobias Pieper präsentierte seine Forschungsskizze zum Zusammenhang von Schemaentwicklung, sozialem Milieu und Diskriminierungserfahrungen. Jochen Kalpein ging u.a. der Frage nach, inwieweit nicht nur die Resultate gelingender, sondern auch „gescheiterter“ Kriseninterventionen zu verallgemeinern sind. Voraussetzung dafür sei, dass die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und –behinderungen sowohl der KlientInnen als auch der PsychologInnen abgebildet werden.
Das Projekt „Alltägliche Lebensführung“ um Ute Osterkamp stellte ausgewählte theoretische Bezugspunkte zum Thema dar und untersuchte, inwiefern eigene Abwehrmechanismen in der „sozialen Selbstverständigung“ andere darin behindern, die eigenen Interessen auf den Begriff zu bringen. Die Analyse typischer Abwehrprozesse soll die Mitverantwortung für die Schaffung menschlicher Lebensverhältnisse verdeutlichen.
Michael Zander referierte über die Operationalisierung des kritisch-psychologischen Konfliktmodells. Abgebildet werde darin nicht, wie bei Freud, der Konflikt zwischen (vermeintlich) anstößigen Triebimpulsen und den moralischen Geboten einer versagenden Gesellschaft; vielmehr gehe es um Konflikte zwischen den eigenen Ansprüchen auf Lebensqualität einerseits und dem Erhalt von Machtverhältnissen andererseits. Zu klären sei, so Zander, anhand welcher Kriterien restriktive Problemlösungsstrategien zu erkennen sind und welche Fragen an das jeweilige Fallmaterial zu stellen sind, gleichgültig, ob dieses aus eigenen Erfahrungen oder aus Berichten von KlientInnen stammt.
Im Themenstrang über das „Rätsel des Unbewussten“ wurde die oft vernachlässigte kritisch-psychologische Beschäftigung mit dem Phänomenbereich des Unbewussten neu belebt. Thematisch ging es dabei um die Verinnerlichung von Herrschaft und um die Ausdrucksformen psychischen Leidens. Stefan Meretz rekonstruierte Ute Osterkamps Rezeption der Freudschen Psychoanalyse und zeichnete anschließend Verschiebungen innerhalb kritisch-psychologischer Theorienbildung nach. Christoph Bialluch und Christina Kaindl diskutierten das Verhältnis zwischen der Lacanschen Psychoanalyse und der Kritischen Psychologie. Wichtig war dabei die theoretische Fassung von Sprache im Verhältnis zu konkreten gesellschaftlich-historischen Bedingungen. Damit verbunden, so die Referierenden, ist die Konstituierung von Subjektivität und des Unbewussten. Das Verhältnis von Kritischer Psychologie und der Sozialisationstheorie des Psychoanalytikers Alfred Lorenzer war Gegenstand zweier Veranstaltungen: Christian Küpper und Tom Uhlig diskutierten darüber am Beispiel der Entstehung und den Ausdrucksformen von psychischem Leiden. Dabei verdeutlichten sie grundsätzliche Unterschiede zwischen Lorenzers Theorie und der Kritischen Psychologie bei der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft. Ein weiterer Dissens zeigte sich bei der Diskussion über die (Un-)Möglichkeit, Aussagen über unbewusste Erfahrungsanteile Einzelner und von Gruppen zu machen. In der Veranstaltung von Tom Uhlig und Janek Niggemann ging es um die Grundlagen der Sozialisationstheorie Lorenzers. Uhlig betonte die Bedeutung von Interaktionsformen und der nachträglichen sprachlichen Vergesellschaftung frühkindlicher leiblicher Erfahrungen. Niggemann stellte heraus, dass Lorenzer eine kategoriale Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft nahezulegen scheint. Er argumentierte für die kritisch-psychologische Bestimmung der „gesellschaftlichen Natur“ der Menschen, hielt jedoch fest, dass die Kritische Psychologie vor der Aufgabe steht, die Besonderheit nicht-sprachlicher frühkindlicher Erfahrungen theoretisch aufzuschlüsseln.
Mit über 650 Teilnehmenden und einem breiten Seminarangebot kann die Ferienuniversität als Erfolg bewertet werden. Ob es 2016 eine Fortsetzung geben wird, hängt davon ab, ob sich ein ähnlich engagierter Vorbereitungskreis bildet, aber auch davon, ob es gelingt, der eingangs erwähnten Verdrängung von Kritik aus Hochschulen und Berufspraxis wirksam entgegenzutreten.
Einige Beiträge der Ferienuniversität wurden bereits in folgenden Büchern veröffentlicht:
Ariane Brenssell & Klaus Weber (Hrsg.) (2014). „Störungen“. Hamburg: Argument.
Martin Allespach & Josef Held (Hrsg.) (2014). Handbuch Subjektwissenschaft. Frankfurt/M.: Bund-Verlag.
Weitere Informationen und Materialien zum Nachlesen und Nachhören einiger Veranstaltungen finden sich unter: http://2014.ferienuni.de