Aus der Praxisforschung – Dem marxistischen Psychologen Morus Markard zum 70.

Veröffentlicht in: junge Welt, Ausgabe vom 03.01.2018., Seite 10 / Feuilleton.

Michael Zander

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Die widersprüchlichen Erfahrungen der BRD-Nachkriegsjugend sind einigermaßen geläufig: Altnazis besetzten weiterhin hohe Positionen in Wirtschaft, Politik, Bildung und beim Militär; sie unterstützen die »Westbindung« und den Krieg der USA gegen Vietnam. Andererseits brachte der Kapitalismus ungeheure Reichtümer und Produktivkräfte hervor, aus denen sich, wie es schien, etwas Besseres machen ließ als Kapitalismus.

Zur außerparlamentarischen Opposition gehörte damals der junge Morus Markard, dessen Vornamen die Eltern als Hommage an Thomas Morus (1478–1535) gewählt hatten, den katholischen Lordkanzler Englands und Verfasser des Romans »Utopia«.

Markard studierte Psychologie in Bonn, war Mitglied des Marxistischen Studentenbundes Spartakus und von 1972 bis 1975 stellvertretender AStA-Vorsitzender. Als diplomierter Psychologe ging er an die Freie Universität Berlin (FU) und lernte dort seinen wichtigsten akademischen Lehrer kennen, den im Zuge der Studentenbewegung zum Marxismus übergelaufenen Professor Klaus Holzkamp (1927–1995).

Dieser kritisierte die Psychologie grundsätzlich. Der Mainstream des Fachs, so Holzkamp, imitiere die experimentellen Naturwissenschaften und glaube, Denken, Fühlen und Wollen des Menschen schlechthin zu untersuchen. Dagegen müsse eine »kritische Psychologie«, später selbstbewusst mit großem »K« geschrieben, kapitalistisch eingeschränktes oder erzwungenes Denken, Fühlen und Wollen kenntlich machen – und zwar auch aus der Perspektive der jeweils Handelnden. Der Mensch sei ein biologisches Wesen, aber eines, das sich als Produzent historisch veränderlicher Gesellschaften am Leben erhalte und entwickle. Von gleichberechtigter Teilhabe der Arbeiterklasse und anderer Gruppen könne dabei im Kapitalismus keine Rede sein.

Mit Blick auf die verschwundene DDR plädierte Markard in den 90er Jahren gegen eine »Totalisierung des status quo«, für eine »Vernunft der Utopie«, die an »historisch entstandenen Fragen menschlicher Emanzipation« auch dann festhält, wenn »historisch entstandene Lösungen« sich als unbefriedigend erwiesen haben.

Markards wissenschaftliche Beiträge erstrecken sich hauptsächlich auf drei Bereiche: Erstens analysiert er sozialpsychologisch relevante Konzepte, vor allem bürgerliche Lieblingsbegriffe wie »Begabung«, »Identität« oder »Eigenverantwortung«. Für das von Wolfgang Fritz Haug herausgegebene »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« schrieb er als Redakteur unter anderem die Einträge »Berufsverbote«, »falsche Bedürfnisse« und »Individualität«. Zweitens befasst er sich mit Pädagogik, hinterfragt mit Kollegin Gisela Ulmann insbesondere fremdbestimmte »Erziehungsziele«, die eher instrumentelle als kooperative Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern stiften. Drittens prägt Markard, wiederum mit Ulmann, maßgeblich einen Ansatz namens »Praxisforschung«: Praktiker und Studierende stellen ihre beruflichen Erfahrungen vor. Sie zeigen etwa, wie unzulängliche Arbeitsbedingungen unter alltäglichem Druck zu subjektiven Problemen von Klienten umgedeutet werden. Als »helfender Beruf« spielt die Psychologie oft eine zwiespältige Rolle. Im besten Falle steht sie Ratsuchenden zur Seite, möglicherweise setzt sie aber auch repressive Anforderungen gesellschaftlicher Institutionen durch, etwa in der Familienhilfe, der Psychiatrie oder im Bildungswesen.

Als marxistischer Hochschullehrer hat Morus Markard angesichts des vorherrschenden Antikommunismus kaum Karriere machen können. Erst 2002 erhielt er, nicht zuletzt dank nachdrücklich vertretener Forderungen von Studierenden, eine außerplanmäßige Professur an der FU Berlin. Auf die Unterstützung seiner Familie konnte er über all die Jahre rechnen. Verheiratet ist er mit der Biologin Christiane Markard. Die gemeinsame Tochter Nora Markard ist Juniorprofessorin für Völkerrecht an der Uni Hamburg und hat zu den Belangen von Kriegsflüchtlingen promoviert.

Heute feiert Morus Markard 70. Geburtstag.

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