Aneignungsschwierigkeiten: Wege zur Kritischen Psychologie

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Leoni Breuer, Moritz Thede Eckart, Leonie Knebel, Marcel Thiel

Die Verfügung von Individuen über gesellschaftliche Prozesse spielt in der bürgerlichen Psychologie keine Rolle. Sie akzeptiert weitestgehend unhinterfragt den gesellschaftlichen Status quo mit den Entwicklungsbehinderungen und Zwängen in Schule, Ausbildung, Universität und Beruf.

Die Kritische Psychologie beleuchtet, wo die Möglichkeiten menschlicher Handlungsfähigkeit durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform beschränkt werden und wie diese Beschränkungen überwunden werden können. Eine Aneignung der Kritischen Psychologie stellt somit auch eine Möglichkeit zur Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit dar. Durch sie werden einem Methoden an die Hand gegeben, um Psychologie als emanzipatorische Wissenschaft zu betreiben, die eigene Kritik an einer herrschaftsförmigen Psychologie auf den Punkt zu bringen und Denkformen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, mit denen Menschen kritische Lebenssituationen in ihrem gesellschaftlichen Bezug aufschlüsseln können.

Es ist allerdings oft ein sehr mühsames Unterfangen, sich die Kritische Psychologie und insbesondere die Werke von Klaus Holzkamp anzueignen. Viele der zentralen Texte und Bücher sind eine schwere Kost, und der Zugang zu den Inhalten muss in der Regel autonom organisiert werden, da die Kritische Psychologie — mit wenigen Ausnahmen — aus den offiziellen Lehrplänen der psychologischen Institute verschwunden oder nie dort angekommen ist (vgl. Rexilius, 2008). Im Folgenden werden unterschiedliche Formen, sich mit der Kritischen Psychologie und damit kritisch mit der traditionellen Psychologie auseinanderzusetzen, dargestellt. Hierbei greifen wir auf Erfahrungen von Arbeitskreisen und Einzelpersonen zurück, die sich in Trier und Marburg mit der Kritischen Psychologie befassen.

Zugang zur Kritischen Psychologie: Lernen ohne LehrerIn

Wir möchten drei Möglichkeiten vorstellen, einen vertieften Einstieg in die Kritische Psychologie zu finden: (1) mittels der Frühschriften von Holzkamp, (2) mit Hilfe der Einführung in die Kritische Psychologie (Markard 2009) und (3) über verschiedene Praxisarbeiten. Vorweg ist es sinnvoll, einen der kürzeren Überblicksartikel zu lesen. Einige einführende Texte sind im Kasten aufgeführt, andere sind unter kurzlink.de/kp-trier-textkiste zu finden.

Wer sich besonders für eine methodische und inhaltliche Kritik an der traditionellen Psychologie und an theoretischen Überlegungen interessiert, findet in dem Sammelband Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten (1972) die ersten kritisch-psychologischen Artikel, die Holzkamps Abwendung von der traditionellen Psychologie begründen und Skizzen einer neuen, emanzipatorischen Psychologie enthalten. Ein Vorteil dieser Arbeiten liegt im Vergleich zu späteren Schriften in der vertrauten, am Mainstream orientierten Begriffswahl, ein Nachteil darin, dass zentrale Konzepte der Kritischen Psychologie noch nicht entwickelt sind. Die Fragen nach der Relevanz psychologischer Forschung und den verborgenen anthropologischen Voraussetzungen, der Kritik am Experiment und den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen, die die Artikel aufwerfen, sind für eine Auseinandersetzung mit den Inhalten und Methoden des Fachs Psychologie immer noch aktuell und laden dazu ein, die dort formulierte grundlegende Kritik auf Beispiele aus Studium oder Alltag anzuwenden.

Wer sich gleich auf den neuesten Stand der Kritischen Psychologie bringen möchte, kann zur Einführung in die Kritische Psychologie von Morus Markard (2009) greifen. Auf 303 Seiten werden alle wichtigen Konzepte vorgestellt sowie in ihrer Entwicklung nachvollzogen. Obwohl um eine einfache, einführende Sprache bemüht, wird es für AnfängerInnen nach den ersten drei Kapiteln hin und wieder schwierig, dem Verlauf des Buches zu folgen. Trotzdem gibt es für einen detaillierten und differenzierten Überblick kein besseres Buch als diese Einführung. Aus unseren Seminar- und Lesekreiserfahrungen haben wir den Schluss gezogen, dass ein langsames Lesen und Diskutieren unter Hinzuziehung anderer Texte und der Austausch mit Kritischen PsychologInnen über ungelöste Fragen sehr hilfreich sein kann. Eine andere Möglichkeit ist, alle Fragen, die während des Lesens entstehen, zu sammeln und am Ende zu prüfen, ob man sie nach der Lektüre beantworten kann. Wenn nicht, sind es vielleicht Fragen, die in der Kritischen Psychologie noch offen sind. Der Ansatz ist nämlich weit von dem Anspruch entfernt, auf alles eine Antwort zu haben und fordert deshalb zum selbst- und mitdenken auf. Hat man die Einführung einmal durchgearbeitet, stellt es ein sehr gutes Nachschlagewerk dar. Außerdem kann es nicht schaden, einige schwierige Kapitel zu überspringen und zunächst lebensnähere Teile wie das 12. Kapitel über Erziehung, Lernen und Entwicklung zu lesen.

Die dritte Möglichkeit besteht darin, mit Praxis-Texten aus verschiedenen Themenbereichen anzufangen und darüber indirekt die theoretischen Überlegungen, die Denkweise und die Methoden der Kritischen Psychologie kennen zu lernen. Wenn ich ein pädagogisches Seminar besuche oder mich selbst gerade mit Erziehung herumschlage, könnte mir der Anti-Erziehungsratgeber von Gisela Ulmann Über den Umgang mit Kindern (1987) oder der Sammelband Kinder von Klaus Weber (2010) weiterhelfen. Wenn ich meine Praktikumserfahrungen und den Umgang mit institutionellen Zwängen im Beruf reflektieren will, könnte ich mir im Buch Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung (2000) ansehen, welche Gedanken sich andere kritisch-psychologisch Interessierte dazu schon gemacht haben. Zudem enthält es eine Liste von Diplom- und Doktorarbeiten, die sich der psychologischen Praxis widmen und zum Weiterlesen einladen. Auch zu (Anti-)Rassismus, Lebensführung, Arbeitslosigkeit, dem Konstrukt »Hochbegabung« und vielen anderen Themen gibt es Texte der Kritischen Psychologie.

Für alle Herangehensweisen gilt ein problembezogenes Lesen. Denn ohne ein eigenes Lernbedürfnis bzw. -interesse ergibt es keinen Sinn, sich mit der Kritischen Psychologie zu beschäftigen, zumal sie keine einfachen Lösungen, die im Studium oder Beruf ohne weiteres anwendbar wären, anbietet und dazu tendiert, erst einmal immer mehr Fragen aufzuwerfen. Das ist manchmal frustrierend und führt häufig zu einer Abwendung von der Kritischen Psychologie mit dem Vorwurf, sie kritisiere nur, sei zu kompliziert und sowieso ziemlich veraltet.

Holzkamp selbst war das traditionelle Lehren (Lehren als Lernbehinderung?, 1991) von Wissen suspekt. Er suchte das Gespräch und die Auseinandersetzung mit Studierenden, so dass die Kritische Psychologie im Dialog (vgl. Markard, 2010, S.19) entwickelt wurde. Der dialogische, interaktive Prozess des Lernens kann auch als ein Grundstein zur Aneignung der Kritischen Psychologie heute angesehen werden. Darum ist es empfehlenswert, sich in Lesekreisen zusammenzufinden, dabei die je eigenen Lerninteressen und individuellen (Zeit-)Ressourcen offen zu legen und ein verständigungsorientiertes Klima zu schaffen. Dabei muss es immer möglich sein, aussteigen zu können, denn jede/r hat eigene Lerngründe, die sich im Laufe der Zeit verändern können. Es ist aber unserer Erfahrung nach wichtig, dass die anderen Beteiligten erfahren, warum jemand einen anderen Weg weitergeht, um der Gruppe unter Umständen die Chance zu geben, sich zu entwickeln. Immer hilfreich ist es, den Kontakt zu anderen Gruppen oder ExpertInnen aufzunehmen, um über Veranstaltungen informiert zu werden oder inhaltliche Fragen zu klären.

Hürden und Probleme der Aneignung: Überwindbar oder notwendiges Übel?

Adorno und Horkheimer schrieben, dass »der ehrlichste Reformer […] durch Übernahme eines eingeschliffenen Kategorienapparats und der dahinterstehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte« (1947/1988, S.4). Holzkamp sah es deshalb als eine zentrale Aufgabe an, ein neues Begriffssystem in der Grundlegung der Psychologie (1983) zu entwickeln, um die herrschaftsstabilisierende Funktion der traditionellen Begriffe sichtbar zu machen und überwinden zu können. Die Kritische Psychologie gilt als ein »hochelaboriertes, geschlossenes epistemologisches System« (Mattes 1998), was ihre Lektüre nicht einfach macht, dafür aber einen großen Erkenntnisgewinn verspricht, wenn man sich einmal auf die Reise begibt.

Die neuen teilweise sperrigen, alltagsfernen Begriffe gepaart mit einem hohen Grad an Abstraktion und Holzkamps Vorliebe für lange Sätze mit vielen Substantivierungen bedürfen der Vermittlung. Jedoch: »Diese VermittlerInnen oder LehrerInnen oder BegleiterInnen der produktiven Aneignung kritischer Psychologie waren« so Rexilius (2008) »von wenigen Enklaven abgesehen, gewissermaßen ausgestorben: Die KollegInnen, die die Macht hatten, ihre Wissenschaftsauffassung als die richtige und rechte zu behaupten, verweigerten ihnen konsequent und rigoros den Zugang zu Stellen an den Hochschulen.«

Die Schwierigkeiten der Aneignung gelten aber vor allem dann, wenn man versucht, sich die Kritische Psychologie als Paradigma im Ganzen anzueignen, denn es gibt viele Beiträge, die für sich stehen und dabei auch sehr gut verständlich sind. Dabei wird man jedoch meist hinnehmen müssen, nicht zu wissen, wie die Begriffe oder das Menschenbild der Kritischen Psychologie eigentlich begründet werden. Es bedarf also bei einer systematischen Aneignung der Kritischen Psychologie einer gewisser Ausdauer und Hartnäckigkeit, wobei auch kleinere Hilfestellungen den Lernprozess erleichtern können. Zum Beispiel kann es sinnvoll sein, sich ein eigenes Begriffslexikon anzulegen oder das stetig wachsende Glossar auf grundlegung.de zu nutzen.

Wer Vorkenntnisse im Bereich Marxismus, Wissenschaftstheorie oder traditioneller Psychologie hat, wird davon zehren können. Vorsicht ist beim Verständnis mancher Begriffe (z.B. Handlungsfähigkeit) geboten, da sie umgangssprachlich klingen, aber viel mehr dahinter steckt (vgl. Fried et al. 1998, Kaindl 1998). Ebenso problematisch wäre es, der weit verbreiteten Manier zu erliegen, Menschen zu typisieren und — entgegen der kritisch-psychologischen Intention, Begriffe für Menschen und ihre Selbst-/Verständigung bereitzustellen — diese nach »restriktiv« und »verallgemeinert« handelnden Menschen zu klassifizieren. Mit der kritischen Betonung gesellschaftlicher Verhältnisse angesichts des »Elends der Welt« (Bourdieu) und dem Kritisieren von Ansätzen, die von ebensolchen behindernden gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahieren, kann es vorkommen, dass man das Individuum zum »Opfer« seiner Verhältnisse erklärt. Aus kritisch-psychologischer Sicht wäre dieser Denkstil als Bedingtheitsdiskurs zurückzuweisen und auf die Begründetheit jedes Handelns zu pochen, mag dieses in Auseinandersetzung mit noch so einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnissen stattfinden oder von »außen« sonderbar anmuten.

Für die Zukunft der Kritischen Psychologie wird es notwendig sein, neue Formen der Aneignung, Vermittlung und des Austausches zu finden und bestehende auszubauen. Beispiele dafür sind u.a. der Online-Einführungskurs zur Grundlegung der Psychologie (grundlegung.de) und die Assoziation Kritische Psychologie (kritischepsychologie.blogsport.de). Aktuell ist auch auf ein Vernetzungstreffen zu Kritischer Psychologie hinzuweisen, das vom 14.-15. Mai 2011 in Berlin stattfinden soll und sich mit Perspektiven dieses doch leider universitär marginalisierten Ansatzes befasst. »Wenn es Kritische Psychologie bei mir nicht gibt, dann hole ich sie zu mir — nicht nur in meinen Bücherschrank«. Diesem Motto folgend, haben wir bisher immer gute Erfahrungen mit der Organisation von Vorträgen oder Workshops gemacht.

Literatur

Fried, B., Kaindl, C., Markard, M. & Wolf, G. (Hrsg., 1998), Bericht über den 4. Kongreß Kritische Psychologie. Erkenntnis und Parteilichkeit: Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft, Berlin/Hamburg: Argument

Horkheimer, M. & Adorno, T.W. (1947, 1988), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer

Kaindl, C. (1998), Gesellschaftliche Dimensionen individueller Handlungsfähigkeit. Zur Debatte um ein kritisch-psychologisches Grundkonzept. Auszug aus der unveröffentlichten Diplomarbeit: 2010.ferienuni.de/data/kaindl-diplomarbeit-auszug-gesellschaftstheorie.pdf

Mattes, P. (1998), Kritische Psychologie, in: Psychologische Grundbegriffe — ein Handbuch, Grubitzsch, S. & Weber, K. (Hrsg.), rowohlts enzyklopädie, S. 292-297.

Rexilius, G. (2008), Wie Klaus Holzkamp posthum auf den Kopf gestellt wurde, Journal für Psychologie, 16(2), online: journal-fuer-psychologie.de/jfp-2-2008-3.html


Quellen

Einführende Online-Texte

Bücher zum Weiterlesen

  • Holzkamp, K. (1972), Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten
  • Markard, M. (2010), Einführung in die Kritische Psychologie
  • Markard, M. (2010), Kritische Psychologie: Forschung vom Standpunkt des Subjekts, in: Mey & Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie
  • Markard, M. & Ausbildungsprojekt subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000), Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Wider Mainstream und Psychoboom
  • Osterkamp, U. (1996), Rassismus als Selbstentmächtigung
  • Ulmann, G. (1987), Über den Umgang mit Kindern
  • Weber, K. (2010), Kinder

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