Erschienen in: Jahrbuch des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen 10/1986, S. 69-92.
Ute H.-Osterkamp
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Inhalt
- Vorbemerkung
- Die psychoanalytische Konzeption des „Charakters“ als Form dauerhafter Abwehr gesellschaftlich unzulässiger subjektiver Lebensäußerungen: Verkürzte Reproduktion von Mechanismen der ideologischen Einbindung des Subjekts in die bürgerliche Gesellschaft
- Theorien individueller Selbstverwirklichung: Flexibilität/Verinnerlichung als Rezepte illusionärer Autonomie der Persönlichkeit gegenüber den Verhältnissen
- Die Theorie von Herkommer/Bischoff/Maldaner über Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung innerhalb moderner kapitalistischer Gesellschaften: Spontane Durchsetzung der Ideologie der Selbstverwirklichung in gesellschaftlichen Freiräumen durch ökonomistische Verkürzung der marxistischen Analyse
- Fazit der Darstellung/Kritik „persönlichkeitstheoretischer“ Spiegelungen bürgerlicher Rückzugs- und Freiraumideologeme: Rahmenbestimmungen marxistischer Persönlichkeitstheorie
- Perspektiven und Schwierigkeiten einer psychologischen Konkretisierung des marxistischen Persönlichkeitsentwurfs
1. Vorbemerkung
Der Begriff „Persönlichkeit“ ist trotz seiner allgemeinen Verbreitetheit/Geläufigkeit in der Psychologie außerordentlich problematisch. Das trifft sowohl auf seine inhaltliche Bestimmung zu, die von Autor zu Autor variiert, als auch auf seine Funktion, die i.d.R. unreflektiert bleibt (s. dazu Holzkamp, 1985).
Im allgemeinen wird Persönlichkeit als Ganzheitlichkeit des Verhaltens, als typisches Reaktionssyndrom gefaßt, das sich im Zusammenspiel – angeborener oder erworbener – individueller Dispositionen und Umwelteinwirkungen herausgebildet hat und die jeweils aktuellen Einflüsse in ihrer Auswirkung auf das individuelle Verhalten je spezifisch bricht. Der Begriff „Persönlichkeit“ umfaßt die – mehr oder minder aufgezwungene – Festlegung/Programmierung individuellen Verhaltens, der zufolge der einzelne gegenüber den aktuellen Einwirkungen eine gewisse Unabhängigkeit/Widerständigkeit erhält. Während die mehr allgemeinpsychologischen Ansätze im wesentlichen auf die Bestimmung/Definition möglicher „Persönlichkeitsfaktoren“ – wie z.B. „Angst“, „Aggression“, „Extraversion“/“Introversion“, „Frustrationstoleranz“ etc. – und die Erfassung des Zusammenspiels dispositioneller Faktoren mit situationellen Momenten beim Zustandekommen individuellen Verhaltens gerichtet sind (um dieses durch gezielte Eingriffe an der objektiven oder subjektiven Seite in die gewünschte Richtung lenken zu können), sind die mehr therapeutisch orientierten Ansätze (vor allem im Umkreis der Psychoanalyse) vorwiegend mit den subjektiven Folgen/Kosten der personalen Festlegung, d. h. der „Charakterbildung“ in Anpassung an die herrschenden Verhältnisse, beschäftigt. („Charakter“ ist der in der älteren Psychologie vorherrschende Begriff für den Sachverhalt, der heute unter dem Begriff „Persönlichkeit“ verhandelt wird.)
Wenn man sich nun von marxistischer Seite der Persönlichkeits-Problematik nähern will, so ist es nicht damit getan, mit „materialistischen“ Kategorien (etwa „Arbeit“ oder „Tätigkeit“) ein (weiteres) abstraktes Strukturmodell zu entwerfen, das den konkreten Menschen dann als Entwicklungsnorm vorgehalten wird. Vielmehr muß auch hier die Analyse mit dem „Anschauungskonkretum“ widersprüchlich-repressiver bürgerlicher Lebensverhältnisse beginnen, d. h. in diesem Zusammenhang: mit den Widersprüchlichkeiten, Gebrochenheiten, Halbheiten empirischer Subjektivität und „Personwerdung“ innerhalb der kapitalistischen Klassenrealität. Dies bedeutet methodisch, daß – (wie Marx im „Kapital“ „durch“ die Theorien der bürgerlichen Ökonomie „hindurchgeht“) in persönlichkeitstheoretischer Absicht mit den Mitteln marxistischer Analyse/Kritik durch die bürgerlichen Theorien, in denen jeweils bestimmte Aspekte „persönlicher“ Existenz unter kapitalistischen Bedingungen gespiegelt und ideologisch universalisiert sind, „hindurchgegangen“ werden muß: Nur so kann man am Ende zu Abstraktionen gelangen, die die Konkretheit bürgerlicher Subjektivität in sich aufheben, in denen man also nicht über die wirklichen Erfahrungen, Leiden, Zwiespältigkeiten, Illusionen der Individuen „normativ“ hinwegsieht, sondern Möglichkeiten, sich dazu bewußt zu „verhalten“ und so zu einer wirklichen Lebenserweiterung zu kommen, zu eröffnen sucht.
Da ich ein solches Vorhaben hier nicht umfassend, sondern nur selektiv und fragmentarisch verwirklichen kann, berücksichtige ich im folgenden nur diejenigen bürgerlichen Persönlichkeitsvorstellungen, die überhaupt vom Standpunkt des Subjekts ausgehen und die so – wenn auch in spezifisch verkürzter Form – überhaupt zu dem m. E. für die Bestimmung des Begriffs „Persönlichkeit“ zentralen Problem, dem Verhältnis des Individuums zu seiner subjektiven Befindlichkeit, seinen Emotionen und Bedürfnissen, vorstoßen: die „dynamischen“ Persönlichkeitskonzepte im Umkreis der Psychoanalyse und neuerer, insbesondere „humanistischer“ therapeutischer Richtungen. In derartigen Ansätzen sind – wie sich zeigen soll – wesentliche Probleme personaler Existenz unter bürgerlichen Verhältnissen, wenn auch verkürzt, behandelt oder zu mindest als Fragen auf den Begriff gebracht, deren Klärung jede marxistische Persönlichkeitskonzeption in der bürgerlichen Gesellschaft nicht umgehen kann. Dabei dürfen einerseits die ideologischen Befangenheiten solcher dynamischer Persönlichkeits-Ansätze nicht reproduziert, aber andererseits auch die darin vollzogenen begrifflichen Zuspitzungen verschiedener Formen klassenbedingter Subjektivität nicht aus dem Auge verloren werden.
2. Die psychoanalytische Konzeption des „Charakters“ als Form dauerhafter Abwehr gesellschaftlich unzulässiger subjektiver Lebensäußerungen: Verkürzte Reproduktion von Mechanismen der ideologischen Einbindung des Subjekts in die bürgerliche Gesellschaft
Persönlichkeit konstituiert sich gemäß den Auffassungen Freuds aus der Art der Herrschaft/Kontrolle des Individuums über seine Triebe, die in Abhängigkeit von der „Ichstärke“ der Individuen in unterschiedlicher Weise geschehen kann: zum einen über die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung – in individueller Negierung/Überwindung etwaiger gesellschaftlicher Schranken – oder aber als Fähigkeit, die für die Gesellschaft gefährlichen und nicht geduldeten Impulse zu sublimieren, d. h. von ihren ursprünglich kritischen Zielen ab- und auf gesellschaftlich „wertvolle“ Ziele umzulenken und in derart vergeistigt/kultivierter Form zu einer – wenn auch im Vergleich zur direkten „Triebabfuhr“ reduzierten – Befriedigung zu kommen, die zugleich die gesellschaftliche Integration/Anerkennung des einzelnen festigt. Über die objektiven und subjektiven Bedingungen eines derartigen „Sublimierungsprozesses“ sagt Freud nur soviel, daß er nicht jedem zugänglich sei. Falls dem einzelnen zu dem einen wie dem anderen die innere Kraft fehle, würden ihm – infolge der mit ihrer Äußerung verbundenen Bestrafung – die eigenen Triebregungen zur Gefahr. Er versuche sich dieser – quasi durch einen Handstreich – zu erwehren, indem er sich auf die Seite der Mächtigen, d. h. gegen die eigenen, gegenüber den herrschenden Verhältnissen kritischen Impulse, also gegen sich selbst stellt und als Entgelt dafür – als Schutz vor deren Aggressionen, wie es Freud auf den Begriff bringt – das Wohlwollen derer gewinnt, von denen er abhängig ist.
Das Individuum wehrt sich gemäß Freuds Auffassung gegen die äußere Gefahr des gesellschaftlichen Ausschlusses (des Ausschlusses von den gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten durch diejenigen, die über diese verfügen), indem es die innere Gefahr bekämpft, d. h. alle Impulse niederzuhalten und zu verdrängen sucht, die diese äußere Gefahr heraufbeschwören könnten. Dieser Prozeß der Wendung individueller Auflehnung gegen die äußeren Beschränkungen auf die eigenen „anstößigen“ Regungen wird in der Öffentlichkeit systematisch gefördert: Der zentrale Mechanismus der Einbindung in die vorgegebene Ordnung besteht, wie sich aus den Freudschen Ausführungen ableiten läßt, darin, daß man der möglichen, gegen die bestehenden Machtverhältnisse gerichteten, mehr oder weniger bewußten Auflehnung der Individuen zuvorkommt, indem man deren persönliche Integrität in Frage stellt, ihnen Schuldgefühle ob ihrer anstößigen Gefühle und Impulse vermittelt und jede kritische Regung als Beweis individueller Undankbarkeit angesichts der trotz des eigenen Ungenügens empfangenen Wohltaten erscheinen läßt. Die fraglose Verinnerlichung der herrschenden Normen als Mittel individueller Existenzsicherung funktioniert nach Freud nur bei den „privilegierten“, „besser beteilten“ Schichten, während die „Masse“ im allgemeinen nur dem äußeren Zwang gehorche und zum „freiwilligen“ Verzicht im Interesse der Kulturerhaltung nicht bereit sei (s. z.B. Freud, GW XIV, S. 333). Wohlverhalten als Voraussetzung des Scheins individueller Autonomie und Selbstbestimmung ist dadurch definiert, daß der hinter der Selbsteinschränkung stehende Zwang, indem man diesem durch die vorzeitige Erfüllung des jeweils Erwarteten zuvorkommt, unsichtbar bleibt. Diese „Selbsteinschränkung“ bildet wiederum die reale Basis für die Wirksamkeit der Annahme einer – um einen griffigen Terminus von Lerner (1979) zu gebrauchen – „Surplus-powerlessness“: Daß nämlich das Subjekt über seine objektive Machtlosigkeit hinaus sich – aus Angst vor der Freiheit, Autonomie, Verantwortung etc. – selbsttätig in Ohnmacht und Abhängigkeit hält, zentrale Ursache unserer Entwicklungsbehinderung somit unsere eigene Angst, Risiko- und Anstrengungsscheu sei, durch die wir gehindert würden, die objektiven Lebensmöglichkeiten für uns zu nutzen – eine These, die wiederum dadurch subjektiv Glaubwürdigkeit gewinnt, daß unter Bedingungen der Fremdbestimmtheit, der mangelnden Vorhersehbarkeit/Vertretbarkeit der Folgen unseres Handelns, unsere Initiative in der Tat sehr eingeschränkt ist.
Die „autonome“ Unterdrückung gesellschaftlich sanktionierter Impulse und die dadurch bedingte Behinderung individueller Entwicklung bedeutet nach Freud die Verinnerlichung des äußeren Zwangs, wobei die Handlungsimpulse und die ihnen zugrundeliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen – gerade infolge ihrer Unterdrückung, ihrer mangelnden Befriedigung und ihres Ausschlusses aus dem Bewußtsein – übermächtig werden und das Individuum gegen seinen Willen in seinem Handeln bestimmen und damit wiederum nachträglich die äußeren Reglementierungen gerechtfertigt erscheinen lassen. Die Verinnerlichung des äußeren Zwangs wird somit zur Grundlage zunehmender Selbstablehnung und Selbstverunsicherung: Zum einen, weil, wie Freud herausstellt, nichts kränkender ist als die Erfahrung, nicht „Herr im eigenen Hause“, d.h. seinen „Triebregungen“/Gefühlen hilflos ausgeliefert, gegen seinen Willen und wider bessere Einsicht „getrieben“ zu sein; und zum anderen, weil die „Triebabwehr“ psychische Energie kostet, die den Individuen für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen verloren geht, sie allgemein schwächen, „zurückhaltend“ sein und allem aus dem Wege gehen lassen würde, was auch nur entfernt an die unterdrückten Erkenntnisse/Impulse erinnern und die Einschränkung durch die äußere Realität aktualisieren und bewußt machen könnte. Diese Abwehr kann sich – so Freud – gegenüber der realen Gefahr verselbständigen, d. h. auch dann noch wirksam sein, wenn diese gar nicht mehr gegeben ist. Aufgabe der Therapie sei es dann, die überhängige, mittlerweile überflüssige Verdrängung und die auf ihr basierende – sowohl für den einzelnen wie für die „Gemeinschaft“ kostspielige – Fehlanpassung aufzuheben und so die durch die Verdrängung gebundenen Energien für die Bewältigung aktueller Aufgaben und den Genuß der je gegebenen Lebensmöglichkeiten freizusetzen. An Stelle der in ihren Folgen außerordentlich problematischen, unkontrollierbaren Verdrängung soll die bewußte Zensur der Bedürfnisse treten, die man – entsprechend den gewachsenen Möglichkeiten der „Triebkontrolle“, der Unterwerfung unter die herrschenden Normen und Interessen – entweder befriedigt oder aber aus Einsicht in ihre mangelnde Angemessenheit/Durchsetzbarkeit bewußt verwirft.
Die Abwehr gegen die verpönten Triebregungen und die sie aktualisierenden Erfahrungen/Erkenntnisse kann sich nach Freud zu bestimmten neurotischen Charakterformen verfestigen, die ihre Herkunft aus der Angst bzw. aus der Abwehr angstauslösender „Triebregungen“ und Erkenntnisse nur noch durch ihre Zwanghaftigkeit und Unbeeinflußbarkeit durch aktuelle Erfahrungen erweisen. Die Persönlichkeitsbildung als allgemeine Programmierung individuellen Verhaltens gegenüber den jeweiligen „Autoritäten“ als Vertretern gesellschaftlicher Gewalt einerseits und den eigenen Bedürfnissen andererseits ist nach Freud bis zum 5. Lebensjahr im wesentlichen abgeschlossen und bestimmend für das spätere Verhalten der Erwachsenen. Sie beruht auf der Verinnerlichung der äußeren Gewalt, der wiederum die Angst zugrunde liegt, durch die eigenen unbotmäßigen Regungen die soziale Einbettung und die damit verbundenen lebensnotwendigen Zuwendungen zu riskieren/verlieren, d. h. also auch auf dem Versprechen, durch Gefügigkeit gegenüber den Interessen der jeweils Mächtigen – in bestimmtem Ausmaß – gegen deren Aggressionen/Strafen geschützt zu sein bzw. an deren Lebens- und Machtmöglichkeiten partizipieren zu können. Gerade aber diese aktive Einbindung in die herrschenden Verhältnisse, die Mischung von Unterdrücktwerden und aktiver Beteiligung an der Macht/Unterdrückung sowie die gleichzeitige Entlastung von der Angst durch diejenigen Kräfte, die sie verursachen, erschwert die kritische Distanz zu diesen außerordentlich, da diese ja immer auch eine kritische Distanz zum eigenen „Wohlverhalten“ wäre, zu dem man sich gerade aus der Defensive heraus, zur Bewältigung individueller Angst, genötigt sieht.
Die von Freud nur skizzierte Auffassung des Charakters als dauerhafter Abwehrform gegenüber gesellschaftlich sanktionierten Triebregungen/Handlungsimpulsen wurde von W. Reich zu einem zentralen Bestandteil seiner Theorie entwickelt. Im Gegensatz zu Freud jedoch, der von der Notwendigkeit der Triebunterdrückung als allgemeiner Bedingung/Voraussetzung gesellschaftlicher Existenz ausging, beschränkte Reich einerseits diesen Zusammenhang von Triebunterdrückung und Gesellschaftlichkeit auf die kapitalistische Klassenrealität, wobei ihm andererseits aber trotz der von ihm angestrebten Erweiterung der Psychologie um die marxistisch-soziologische Dimension die überindividuelle Gesellschaftlichkeit, d. h. Verantwortung des einzelnen für die gesellschaftlichen Verhältnisse – die Gesellschaft nicht nur als durch die Individuen gelebte, sondern die Existenz des einzelnen überschreitende Realität – mehr und mehr aus dem Blickfeld geriet.
Die charakterliche Struktur ist nach Reich ein „erstarrter soziologischer Prozeß einer bestimmten Epoche“, der sich in die frühkindliche Psyche eingeschrieben habe und dort „ohne viel Veränderungen“ (1933, S. 16) erhalte und später notwendig werdende Anpassungen an sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen erschwere. Das Individuum wird hier – wie mehr oder weniger in allen Theorien, die von einem „Ergänzungsverhältnis“ von subjektiver und objektiver Realität ausgehen – als Durchlaufbecken gesehen, in welchem sich frühere Eindrücke/Determinierungen ablagern und die indviduelle Fähigkeit, den Erfordernissen der aktuellen Stunde/Situation zu entsprechen, mehr oder weniger behindern. Die Verankerung der gesellschaftlichen Strukturen im Charakter geschehe, wie Reich meint, über die innerhalb der – kleinbürgerlichen – Familie praktizierte Sexualunterdrückung, die eine allgemeine Unterwürfigkeit/Autoritätssucht bedinge. Charakter bedeutet nach Reich – indem er auf der Vermeidung gefahrvoller Situationen basiere – eine gewisse innere Stärke und Stabilität, zugleich aber auch eine individuelle Einschränkung, Erstarrung, Abschottung nicht nur gegen die inneren „Triebe“, sondern auch gegenüber äußeren Einwirkungen/Einflüssen. Jede Versagung trägt, so Reich, zur Verfestigung des Charakters, zu seiner „Verpanzerung“ bei, durch die die individuelle Bedürfnisbefriedigung in weit höherem Maße, als durch die Umwelt gefordert, beeinträchtigt würde. Gerade durch die übergroße Triebzurückhaltung könne es aber zu einem „Triebstau“ kommen, durch den die ständige Gefahr des Durchbruchs des Charakterpanzers gegeben sei. Zwischen dem Ausgangspunkt der Charakterbildung, dem Schutz vor realen Gefahren, und seiner besonderen Funktion, dem Schutz vor der Triebgefahr und „Stauungsangst“, besteht nach Reich ein „ergänzender Gegensatz“: Je mehr Realangst, d.h. Angst vor der äußeren Bedrohung vermieden werde, um so größer sei die Angst vor der eigenen Triebhaftigkeit, dem „Durchbruch“ der gestauten Triebe, d.h. die „Triebangst“ (1933, S. 183 f). In Abhängigkeit von der individuellen Anpassungsfähigkeit an die aktuellen Gegebenheiten unterscheidet Reich zwischen einem „realitätstüchtigen“ Charakter, der genügend durchsetzungsfähig und stark sei, um seine Bedürfnisse innerhalb der gegebenen Verhältnisse zu befriedigen, und dem neurotischen Charakter, der gerade infolge seines überhöhten Gehorsams gegenüber den herrschenden Normen letztlich unfähig würde, die erforderlichen Anpassungsleistungen zu erbringen. Die Frage nach den Ursachen der unterschiedlichen Verarbeitung der äußeren Unterdrückung und Behinderung subjektiver Entwicklung wird auch von Reich – wie in der traditionellen Psychologie üblich – durch die Hypostasierung unterschiedlicher – angeborener oder gesellschaftlich produzierter – psychischer Dispositionen beantwortet – also unerklärt gelassen.
In Reichs Persönlichkeits- bzw. Charakter-Konzeption wird ein für die ideologische Einbindung der Individuen in die bürgerliche Gesellschaft konstitutiver Mechanismus der schuldhaftschuldlosen Verstrickung reproduziert und zugleich für die Funktionsbestimmung der Psychoanalyse benutzt: Wir werden einerseits, indem wir diese mit unserem Verhalten reproduzieren, für die Verhältnisse verantwortlich gemacht und zugleich – durch die Annahme der uns in frühester Kindheit aufgezwungenen Fehleinstellung unserer Entwicklung – von dieser Verantwortung entlastet, dabei mit dem Versprechen getröstet, per psychotherapeutischer Behandlung – zumindest wenn die falsche Weichenstellung noch nicht allzu sehr eingerastet ist – zu einem konstruktiven gesellschaftlichen Element zu werden, das (so zumindest bei Reich und in weiteren Theorien der „Selbstverwirklichung“), indem es „spontan“ und „unmittelbar“ gemäß seinen „natürlichen“ Bedürfnissen bzw. seiner „natürlichen Bestimmung“ lebt, automatisch zum Wohle der Gesellschaft beiträgt und entsprechende Bestätigung erfahren wird.
In den Auffassungen Reichs und vor allem Freuds sind einerseits wichtige Mechanismen der Vereinnahmung des Subjekts durch die bürgerlichen Verhältnisse beschrieben, andererseits wird aber der Erkenntnisgehalt solcher Vorstellungen dadurch entschärft und entstellt, daß die faktische aktuelle Unterdrückung auf die Vergangenheit/frühe Kindheit verlegt wird und die gegenwärtigen Entwicklungsbehinderungen im wesentlichen als bloß psychische, verselbständigte Reaktionen auf verjährte Unterdrückungsverhältnisse erscheinen. Die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Klassenrealität, die reale Ausbeutung/Unterdrückung und die alle Lebensbereiche durchdringende Konkurrenz der Menschen untereinander unter dem Schein der Freiheit, Gleichheit und allgemeinen Nächstenliebe, denen die Menschen in ihrem Verhalten mehr oder weniger bewußtlos Rechnung tragen müssen, bleiben, wie auch die Auswirkungen der Anpassung an diese Existenz, die rigorose Durchsetzung des individuellen Vorteils unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit und des Altruismus, in ihren Auswirkungen auf die subjektive Situation unreflektiert.
3. Theorien individueller Selbstverwirklichung: Flexibilität/Verinnerlichung als Rezepte illusionärer Autonomie der Persönlichkeit gegenüber den Verhältnissen
Während in den geschilderten Auffassungen von Freud und Reich der Tatbestand gesellschaftlicher Unterdrückung – da der „Charakter“ als subjektive Reaktion darauf gefaßt ist – noch (wie „naturalisiert“ und „verschoben“ auch immer) präsent ist, ist in einem heute sehr verbreiteten Typ von dynamischtherapeutischen Theorien (besonders im Umkreis der „Humanistischen Psychologie“) die Beschränkung persönlicher Entfaltung durch gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse überhaupt geleugnet oder „wegdiskutiert“: Man geht hier davon aus, daß sich das Individuum unter allen gesellschaftlichen Bedingungen voll verwirklichen kann, wobei (in unterschiedlicher Weise) die in den Verhältnissen gegebenen Widerstände und Bedrohungen als Möglichkeiten angesehen werden, sich in besonderem Maße als Persönlichkeit zu entfalten und zu bewähren.
Eine gegenwärtig sehr „erfolgreiche“ Spielart von so verstandenen „Selbstverwirklichungs-Theorien“ ist die „Charakter“- bzw. „Persönlichkeits“-Konzeption des Begründers der „Gestalttherapie“ Perls. Hier wird unter dem Motto unbehinderter Entwicklung „natürlicher“ Anlagen die „Charakter“-Theorie von Freud und Reich, unter dem Schein ihrer Radikalisierung, um ihre letzte kritische Potenz gebracht: Indem er zum einen Charakter – wie jede Form der Festlegung, sei sie nun fremdbestimmt oder an den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Erkenntnissen ausgerichtet – als Einengung individueller Reaktionsmöglichkeiten gegenüber den aktuellen Anforderungen und damit als subjektive Entwicklungsbehinderung faßt; und indem er zum anderen die von Freud und Reich immerhin noch benannten realen Bedrohungen als Ursache individueller Unterwerfung und der daraus resultierenden „psychischen“ Zwänge alsbald zu bloßen Projektionen/Phantasieprodukten erklärt. Gefahren und Traumata sind nach Perls im wesentlichen Lügen, die dazu dienen, unsere mangelnde Bereitschaft zu „wachsen“ bzw. zu „reifen“, zu rechtfertigen: Nicht irgendwelche äußeren Mächte, sondern unsere eigene Ängstlichkeit und allgemeine Wehleidigkeit, unsere Sucht nach Anerkennung und Sicherheit würden uns in unserer Entwicklung behindern: Wenn wir weniger zimperlich uns selbst und anderen gegenüber wären, könnte uns die Welt wenig anhaben. Die Charakterbildung geht nach Perls im wesentlichen auf „Blockierungen“, d.h. auf Momente objektiver Überforderung zurück, in denen wir – statt unser eigenes Potential zu mobilisieren – gelernt hätten, uns schwachzustellen und damit andere für unsere Zwecke einzuspannen, zu manipulieren. Die größte Hilfe, die man anderen gewähren könnte, bestünde somit in der Frustration ihres Sicherheits- und Versorgungsdenkens, der Versagung von Unterstützung, damit sie sich auf ihre eignen Kräfte/Möglichkeiten besinnen, selbständig würden und die Verantwortung für ihre Entwicklungsbehinderungen zu übernehmen lernten – statt diese anderen oder den Verhältnissen anzulasten. Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen bedeutet, wie Perls die auch für andere humanistische Psychologen, z. B. Maslow, geltende Maxime in aller Deutlichkeit auf den Begriff bringt, nicht nur die Verantwortung für die eigenen Schwächen und Behinderungen zu übernehmen, sondern zugleich jede Verantwortung für die Mitmenschen und deren Behinderung abzulehnen, sich durch deren Lage nicht im Genuß der eigenen Lebensmöglichkeiten beeinträchtigen zu lassen: Zur „Selbstverwirklichung“ gehört die Kunst, die Welt zu nehmen, wie sie ist, aus allem das Beste zu machen und das Häßliche und Dunkle nicht zu beklagen, sondern als Preis oder Folie für das Lichte und Schöne in der Welt zu akzeptieren. Ein wichtiges Moment der Selbstverwirklichung sei jedoch, wie von allen ihren Vertretern hervorgehoben wird, die Kunst, Mittelaktivitäten in Zielaktivitäten zu verwandeln, d. h. die jeweiligen Aktivitäten nicht um irgendwelcher äußeren Belohnungen/Zwecke/Ziele auszuüben, sondern um ihrer selbst willen zu genießen.
Die Gesellschaft funktioniert, wie auch das einzelne Individuum, so Perls, nach dem Prinzip der Selbstregulierung, demzufolge sich, sofern man diesen harmonischen Verlauf nicht durch willkürliche Eingriffe, Zielsetzungen etc. behindert, das jeweils dringlichste Bedürfnis spontan äußere und die weitere Entwicklung bestimme. Das Funktionieren der gesellschaftlichen Entwicklung hänge dabei vom Funktionieren, der „Verantwortung“ der einzelnen Menschen, d.h. ihrer Bereitschaft ab, unmittelbar auf die Erfordernisse der Situation zu antworten. Verwirrung könne, wie Perls meint, dadurch entstehen, daß uns die Gesellschaft mit Anforderungen konfrontiert, die unserer Selbstverwirklichung entgegenzustehen scheinen. Diese Verwirrung würde sich – zumindest in einer progressiven Gesellschaft wie der amerikanischen (1976, S. 39) – jedoch ganz von allein lösen, wenn man sie nur aushalte und nach der Maxime lebe: „Es ist, wie es sein soll, und es soll sein, wie es ist.“ (1976, S. 79)
Während wir uns nach Perls im wesentlichen durch die eigene Angst und allgemeine Wehleidigkeit an der Selbstverwirklichung, der größtmöglichen Nutzung der sich bietenden Möglichkeiten hindern und unserem Wohlbefinden nichts im Wege stünde, wenn wir uns versagten, ständig an mögliche Gefahren zu denken und uns für das Leben anderer verantwortlich zu fühlen, vertritt z.B. neuerdings Gruen in seinem kürzlich im „Spiegel“ hoch gelobten Buch (1985) wiederum die These, daß gerade durch die Unfähigkeit, Angst und (Mit-)Leiden zuzulassen, unsere personale Verwirklichung behindert ist. „Autonomie“ besteht, so Gruen, nicht in der Behauptung der eigenen Wichtigkeit und Bedeutung, sondern in der Übereinstimmung mit den eigenen Gefühlen, und mangelnde Autonomie gründe sich in der Abwehr unserer Empfindsamkeit, der Abschottung gegenüber unseren Gefühlen. Diese Abwehr führt Gruen wiederum auf unsere „allgemeine Neigung zur Abstraktion“ zurück, die für unsere Kulturgeschichte insgesamt kennzeichnend sei und dem jeweils einzelnen über die – wiederum durch deren Sozialisation bedingte – Unfähigkeit der Eltern, speziell der Mutter, vermittelt sei, auf die Lebensäußerungen und -bedürfnisse des Kindes adäquat zu reagieren. Die Entscheidung darüber, ob ein Kind in Abhängigkeit oder Autonomie aufwächst, falle bereits sehr früh. Der Abbruch der Autonomie und damit eine massive Störung der Persönlichkeitsentwicklung setze dann ein, wenn das Kind als Ausweg aus der Situation der Angst und Verzweiflung, statt diese auszuhalten und innerlich an ihr zu wachsen, nach Macht zu streben beginne, d. h. lerne, sich mit den Mächtigen zu identifizieren, jede Form von Schwäche zu verachten und zugleich alle Autonomiebestrebungen bei sich und anderen zu unterdrücken – womit es zugleich einen aktiven Beitrag zum Prozeß der Verunmenschlichung der Menschen leiste (1985, S. 24). In expliziter Abhebung von Freud, der von der Notwendigkeit der Anpassung an die Gesellschaft ausgegangen sei, ohne die Validität dieser Gesellschaft zu hinterfragen, betont Gruen umgekehrt, daß angesichts der „pseudosozialen“ Realität Anpassungsstörungen und die damit verbundenen Pathologien keine Fehlentwicklungen, sondern eher Zeichen individueller Autonomie und personaler Entfaltung seien: Die wahrhaft Starken sind seiner Auffassung nach nicht die Mächtigen, die, wie er meint, nur deswegen nach Macht streben, weil sie Ohnmacht, Angst und Leiden nicht ertragen können, sondern diejenigen, die – gerade in ihrer Ohnmacht – ihre Menschlichkeit beweisen würden (1985, S. 143 f). „Das Gefährliche sind“, wie Gruen meint, „nicht die äußeren Gefahren…, sondern die Angst vor dem Terror der Einsamkeit, dem Chaos und dem Wahnsinn.“ (1985, S. 141)
In den hier dargestellten Theorien der Selbstverwirklichung erscheint die Gesellschaft als allgemeine Rahmenbedingung, durch welche den Individuen bestimmte Auflagen und Begrenzungen gesetzt sind, denen sich diese so weit wie möglich zu entziehen und im übrigen – als Preis für die zugestandenen Freiheiten/Freiräume – nachzukommen suchen. Die gesellschaftliche Reglementierung werde durch die privaten Freiräume kompensiert, innerhalb derer man eben deswegen frei ist, d. h. tun und lassen kann, was man will, weil die bestehenden Machtverhältnisse dadurch unberührt bleiben. Die Ausnutzung/Ausgestaltung der zugestandenen Freiräume/Freiheit wird dann als Entwicklung der Persönlichkeit verkauft, wobei die Ohnmacht, indem sie als Entlastung von der Verantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse dient, zugleich als „Freiheit“ erscheint.
„Selbstverwirklichung“ als weitgehende Befreiung von der Verantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse – sei es in rücksichtsloser Selbstdurchsetzung, sei es im Rückzug auf die eigene Innerlichkeit und deren Pflege – bedeutet nichts anderes als die mehr oder weniger „kritische“ Tolerierung der Verhältnisse, die man im allgemeinen um so weniger infrage zu stellen bereit ist, je mehr man von ihnen profitiert oder zu profitieren meint; sie bedeutet nicht „Autonomie“, sondern eine Ohnmacht, die nicht Bedingung unserer Menschlichkeit und Selbstverwirklichung ist, sondern vielmehr die objektive Voraussetzung für die mangelnde Menschlichkeit der Individuen untereinander, ihres – allem „freiheitlichen“ Anstrich zum Trotz – defensiv-egozentrischen, nur auf die Wahrung des eigenen Vorteils gerichteten und damit asozialen, letztlich gegen die eignen Interessen gerichteten Verhaltens, also ihrer personalen Verkümmerung ist.
Die theoretische Zentrierung auf die unmittelbare Selbstverwirklichung bedeutet nichts anderes, als daß man gegen die Auswirkungen statt gegen die Ursachen der Unterdrückung kämpft und sich damit automatisch auf die Seite der Herrschenden schlägt, indem man – gemäß der allgemeinen Ideologie, daß jeder seines Glückes Schmied ist – die Menschen unmittelbar für ihre subjektive Situation verantwortlich macht. Die Unterdrückungsverhältnisse werden nicht als Bedingung, sondern als Resultat individueller Unvernunft/Triebhaftigkeit oder – wie in den „fortschrittlichen“, auf die Selbstverwirklichung zielenden Theorien – als Resultat individueller Autoritätssucht/Unterwürfigkeit, der Angst vor Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung gefaßt. Diese subjektiven Tendenzen/Gefühle/Ängste werden nicht in ihren gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und -zusammenhängen analysiert, sondern als bloß individuelles und nur vom jeweils einzelnen zu verantwortendes Phänomen behandelt, mit dem man auf die eine oder andere Weise fertig zu werden hat.
Die Abstraktion von der Verantwortung für die Verhältnisse und die (von Perls empfohlene und von Gruen beklagte) Abschirmung gegenüber der Wahrnehmung menschlichen Leidens, der Angst und Verunsicherung, sind zwei Seiten des gleichen Prozesses: Ich kann meine kritischen Impulse/Erkenntnisse nur in dem Maße zulassen, wie ich ihnen in meinem Handeln entsprechen kann. Sofern die Umsetzung meiner Gefühle und Erkenntnisse in konkretes Handeln Folgen hätte, die mich überfordern und meine gesellschaftliche Integration gefährden könnten, werde ich die spontane Tendenz haben, mich von ihnen und damit auch von mir selbst zu distanzieren.
Der Zugang zu unseren Gefühlen und Erkenntnissen hängt, ebenso wie die Möglichkeit, uns von diesen zu „befreien“, von unserer realen und als möglich erkannten – immer über die Beziehungen zu den Mitmenschen vermittelten – Handlungsfähigkeit, d.h. aber von unserer Macht ab: Genau dieser Weg der Einflußnahme auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als Voraussetzung der bewußten Bestimmung des eigenen Lebens, Fühlens und Handelns wird in den Theorien der Selbstverwirklichung – bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen – denunziert: als persönliches Machtstreben, als unbewußtes Ausleben aufgestauter Aggressionen etc. Sie reproduzieren damit blind die objektive Widersprüchlichkeit der Anforderungen, mit denen die Menschen unter kapitalistischen Verhältnissen ständig konfrontiert sind und die wesentlich zu deren Verunsicherung beiträgt: Indem sie zur Überwindung der von ihnen kritisierten/zensierten Verhaltensweisen und Bedürfnisse genau die Bedingungen angeben, die zu ihnen geführt haben, d. h. Die Menschen mit Appellen innerer Läuterung traktieren und zugleich die objektiven Möglichkeiten, diesen zu entsprechen, verbauen und damit aber die Gefühle subjektiver Unzulänglichkeit/Verunsicherung als Bedingung innerer Unfreiheit erhöhen, die sie zu bekämpfen vorgeben etc.
Indem die Theorien der Selbstverwirklichung die – innere – Freiheit in Anpassung an oder auch in subjektiver Erhebung über die gegebenen Verhältnisse als einzig sinnvolle Lebensführung preisen, kommen sie zu einer Reihe falscher Alternativen, die den Ausweg aus der Situation der Fremdbestimmtheit, des Uneins-mit-sich-selbst-Seins, systematisch verstellen: Nur unter der Bedingung der Fremdbestimmtheit der Existenz, wenn ich mich, um nicht deren Zuwendung zu verlieren, zum ausführenden Organ der Interessen derer mache, von denen ich abhängig bin und alle dieser Funktion widersprechenden Erkenntnisse und Impulse verdränge/leugne, gerät „Sicherheit“ in Gegensatz zu „Wachstum“. Wenn ich hingegen Wachstum bzw. Entwicklung nicht als mystische Kraft, sondern als Erweiterung meiner Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten in bewußter Bestimmung meiner Lebensbedingungen fasse, ist Sicherheit nicht Gegenpol zur Entwicklung, wie alle Theorien der Selbstverwirklichung einmütig behaupten, sondern mit dieser identisch, sowohl deren Voraussetzung als auch Ergebnis. Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, etc. lösen nicht, wie die Selbstverwirklichungstheorien unterstellen, per se Angst aus, sondern allein über die realen Gefahren, die mir drohen, wenn ich die mir gesteckten Grenzen überschreite. Die Menschen sind nicht an und für sich entwicklungsfeindlich, sondern nur in dem Maße, wie sich die Veränderung ihrer Lebensbedingungen über ihre Köpfe hinweg vollzieht und im wesentlichen nichts anderes als die Gefährdung ihrer mühsam erworbenen „Integration“ bedeutet. Die Alternative zur Festlegung/Disziplin auf der Grundlage der Angst ist nicht Offenheit, sondern die Ausrichtung des Verhaltens an den eigenen Entwicklungsinteressen und den sich daraus ergebenden Zielen. „Offenheit“ unter Bedingungen der Abhängigkeit ist nicht Ausdruck meiner Freiheit, sondern Bedingung meiner Flexibilität, meiner allgemeinen Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden Lebensumstände und zugleich Abwehr aller Anforderungen, sich Klarheit über die gesellschaftliche Funktion des eigenen Handelns/Nichthandelns, dessen Auswirkungen auf die Situation der Mitmenschen und die eigene Existenz zu verschaffen, d. h. der Gesellschaftlichkeit meiner Existenz bewußt Rechnung zu tragen. Sich selbst wichtig zu nehmen, ist nicht, wie in den Theorien der Selbstverwirklichung mehr oder weniger deutlich behauptet wird, Hindernis individueller „Autonomie“, sondern deren absolute Voraussetzung. Nur wenn ich mich selbst und das, was ich tue, wichtig nehme und mich entsprechend engagiere, werde ich meiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht, verliert die verhängnisvolle These vom „Rädchen im Getriebe“, das nach irgendwelchen übergeordneten Plänen funktioniert (die auch den Theorien der Selbstverwirklichung zugrunde liegen) ihre Überzeugungskraft. Die oberflächliche Selbstbezogenheit, an der sich der allgemeine Tadel festmacht, resultiert hingegen gerade aus der mangelnden Selbstgewißheit, den Zweifeln an der eigenen Bedeutung, wie sie typisch für Verhältnisse sind, innerhalb derer der Wert des einzelnen von seiner Verwertbarkeit für die herrschenden Interessen abhängt.
Die Theorien der Selbstverwirklichung innerhalb fremdbestimmter, der eigenen Verfügung entzogener Lebensbedingungen gewinnen dadurch den Schein der Authentizität (und finden so in weiten Kreisen Resonanz), daß sie typische Erlebnis- und Verhaltensweisen, wie sie sich in Reaktion auf die kapitalistische Klassenrealität herausbilden, in ihren selbsteinschränkenden/selbstzerstörerischen Auswirkungen – zumindest partiell – plastisch beschreiben, teilweise kritisch reflektieren und zugleich „Lösungen“ anbieten, die sich unter dem Druck der Verhältnisse ohnehin spontan aufdrängen, damit mögliche Zweifel an der Richtigkeit des eigenen angepaßten Verhaltens beseitigen und somit unmittelbar beruhigend wirken. Dieser Weg des geringsten Widerstands, der Anpassung in unmittelbarer Reaktion auf die Unterdrückung, wird i.d.R. als besonders dornenreich und dramatisch dargestellt, so daß z. B. nicht der Rückzug auf die eigene Innerlichkeit als Flucht vor der gesellschaftlichen Verantwortung, sondern umgekehrt jede politische Tätigkeit als Flucht vor der Dramatik der Auseinandersetzungen mit den eigenen Untiefen erscheint. Während Freud noch als Bandbreite menschlichen Glücks die Alternative zwischen dem normalen Elend und dem neurotischen Leiden der angepaßten Existenz setzt und damit in indirekter Weise als Voraussetzung menschlichen Glücks die Überwindung der fremdbestimmten Verhältnisse aufzeigt (die er jedoch zugleich als utopisch verwirft), stellt sich diese Notwendigkeit der Überwindung der Fremdbestimmtheit als Voraussetzung der Selbstbestimmung in den Theorien der Selbstverwirklichung, indem sie die innere Unabhängigkeit von der äußeren Unabhängigkeit loslöst, von vornherein überhaupt nicht mehr. Wenn man die politischen Implikationen der Selbstverwirklichungstheorien in ihren verschiedenen Spielarten betrachtet, so verdeutlicht sich, daß hier nicht, wie in der Freudschen Psychoanalyse, dem Individuum Hilfestellung zur Realisierung der angesichts massiver gesellschaftlicher Unterdrückung noch verbleibenden Lebensmöglichkeiten gegeben werden soll, sondern das Subjekt dazu aufgerufen ist, per rücksichtsloser Selbstdurchsetzung oder (angesichts allzu großer Widerstände dagegen) Pflege des inneren Reichtums und der eigenen Leidensfähigkeit das „Glück der Persönlichkeit“ zu suchen und zu finden. Es ist demgemäß (trotz ihrer häufig „radikalen“ oder „progressiven“ Aufmachung) sicherlich kein Zufall, daß die Selbstverwirklichungstheorien mit ihrer Denunziation des Strebens nach Sicherheit, ihrer Anpreisung schrankenloser „Flexibilität“ und/oder des Glücks der „inneren Werte“ etc., z.B. relativ nahtlos von der gegenwärtigen „neokonservativen“ Offensive nach der „Wende“ vereinnahmbar sind.
So ist es auch nicht verwunderlich, daß etwa die Auffassung vom Rückzug in die eigene Innerlichkeit als wahre menschliche Größe sich nicht nur in bestimmten Spielarten der Selbstverwirklichungstheorien findet, sondern (unter begünstigenden gesellschaftlich-politischen Konstellationen) darüberhinaus konservative Ausdrucksformen der bürgerlichen „öffentlichen Meinung“ prägt.
Die politische Funktion derartiger Auffassungen als Entlastung von der Verantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die Mystifizierung der hinter diesen Verhältnissen stehenden Interessen wird, wie die Untersuchung der westdeutschen Biografik der Nachkriegszeit durch Helmut Peitsch (1984) aufweist, im besonderen Maße bei der Aufarbeitung bzw. Verdrängung der faschistischen Vergangenheit durch die sogenannten „inneren Emigranten“ deutlich. Die zentrale Verteidigung gegen den Vorwurf, den Faschismus durch die eigene passiv/angepaßte Existenz unterstützt zu haben, bestand in der Demonstration persönlicher Integrität und Empfindsamkeit, die man sich aller äußeren Anpassung an die unmenschliche Realität zum Trotz bewahrt habe. Von dieser Position individueller Menschlichkeit aus erschien, so Peitsch, der Faschismus im allgemeinen als Tragödie, in die alle Menschen – Faschisten und ihre Opfer – schuldhaft/schuldlos verstrickt waren. Angesichts der These von der alle Menschen einschließenden Kollektivschuld verflüchtigten sich automatisch alle konkreten Unterschiede und damit zugleich jede faktische Schuld. Die Mystifizierung der Schuld und die Verklärung des Leidens standen, wie Peitsch aufweist, dabei im engen Zusammenhang: Das Leiden wird quasi zur Quelle innerer Läuterung stilisiert, die jede Schuld kompensiert. Wer bei dem, was er tat, innerlich litt, kann für dieses Tun nicht verantwortlich gemacht werden bzw. hat die ihm gebührende Strafe bereits erfahren. Gemäß der Position „innerlicher“ Menschlichkeit hat, so Peitsch, jeder Mensch, ob Faschist oder Antifaschist, seine guten und weniger guten Seiten, woraus sich der allgemeine Appell ableitet, daß jeder mit der Kritik bei sich selbst ansetzen und verbleiben möge. Die Anklage der Verhältnisse und die Forderung ihrer Veränderung erscheinen unter diesem Blickwinkel persönlicher Menschlichkeit als bloße Rationalisierung, als Flucht vor der Notwendigkeit der geistig-moralischen Selbstsäuberung, die sich selbst disqualifiziert.
Diese Art der Verarbeitung der eigenen „zurückgezogenen“ Existenz im Faschismus, die zugleich die wahren – objektiven und subjektiven – Ursachen des Faschismus verstellt, wurde, wie H. Peitsch zeigt, in der – literarischen – Öffentlichkeit systematisch gefördert. Als gelungene Berichte wurden in der Literaturkritik z.B. diejenigen hervorgehoben, die, statt über dessen Ursachen aufzuklären, das Leiden verklärten, indem sie es als Bewährungsprobe deuteten, an der man als Persönlichkeit gereift und gewachsen sei. Die allgemeine Kritik galt hingegen jenen Autoren, die den Faschismus nicht als über die Menschheit gekommenes schicksalhaftes Unheil schilderten, sondern in seinen gesellschaftlichen Ursachen analysierten und sowohl die allgemeine Doktrin der schuldhaft/schuldlosen Verstrickung aller Menschen widerlegten, indem sie die wirklichen Opfer des Faschismus von jenen unterschieden, die an diesem profitierten oder zu profitieren hofften, wie zugleich in ihrer eigenen Person die Möglichkeit widerständiger Existenz unter unmenschlichen Verhältnissen manifestierten.
Die individuelle Menschlichkeit (– in Abstraktion von ihrer sozialen und politischen Dimension –), die sich in der Rechtfertigung der angepaßten Existenz im Faschismus spontan aufdrängte und durch die Literaturpolitik und die allgemeine Öffentlichkeit systematisch gefördert wurde, erweist sich, ganz wie es in den Theorien der Selbstverwirklichung empfohlen wird, in der individuellen Fähigkeit, aus dem jeweils Gegebenen das Beste zu machen, offen für das Gute und Schöne zu sein, wo immer es sich zeigt, dieses als Entschädigung für das Niedrige und Häßliche zu nehmen, von dem man sich nach Möglichkeit fernhalten sollte. Wenn einem diese äußere Distanz zum Negativen und Bösen in der Welt nicht gelingt, hat man diesen Auffassungen zufolge immer noch die Möglichkeit zu innerer Distanz, d.h. sich bei dem, wozu man sich unter dem Druck der Verhältnisse genötigt sieht, innerlich herauszuhalten und die eigene Persönlichkeit/Menschlichkeit dort zu pflegen, wo dies den einzelnen nicht in Schwierigkeiten bringt, (vgl. etwa auch Peitsch, Kühnl und Osterkamp 1985).
4. Die Theorie von Herkommer u.a. über Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung innerhalb moderner kapitalistischer Gesellschaften: Spontane Durchsetzung der Ideologie der Selbstverwirklichung in gesellschaftlichen Freiräumen durch ökonomistische Verkürzung der marxistischen Analyse
Die ideologischen Fallstricke bürgerlicher Selbstverwirklichungs- und Autonomievorstellungen sind auch beim Versuch der Entwicklung marxistisch fundierter Persönlichkeitskonzepte nicht etwa leicht zu vermeiden, vielmehr muß eine umfassende Aneignung und Umsetzung materialistischer Dialektik mit permanenter selbstkritischer Reflexion möglicher Verkehrungen der erarbeiteten Konzeption durch unvermerktes Eindringen bürgerlich-ideologischer Elemente geleistet werden. So ist etwa die Klärung der Problematik personaler Existenz unter bürgerlichen Verhältnissen dann von vornherein verstellt, wenn bereits die marxistischen Grundpositionen Verkürzungen und Vereinseitigungen enthalten, durch welche ihre kritische Durchdringungskraft verloren geht. Ein Beispiel dafür sind die marxistisch gemeinten, aber – durch Reservierung des Marxismus für den Produktionsbereich – ökonomistisch verkürzten Vorstellungen von Herkommer, Bischoff und Maldaner (1984), da hier in den Leerstellen, wo die marxistische Analyse suspendiert ist, sich fast zwangsläufig heute gängige Ideologeme, wie die Ideologie der Selbstverwirklichung in gesellschaftlichen Freiräumen, durchsetzen.
So gehen Herkommer et al. vom Widerspruch zwischen dem in hohem Maße fremdbestimmten Produktionsbereich und dem Freizeitbereich aus, der – in Abhängigkeit von der Höhe des Lohns und der Länge der Freizeit – „eine Vielfalt an Betätigungsmöglichkeiten eröffnet – von den verschiedensten Hobbytätigkeiten und Vereinstätigkeiten, gewerkschaftlicher und politischer Arbeit bis hin zum Verreisen und Familienausflügen“ und damit Raum für die individuelle Entwicklung biete (1984, S. 211). Persönlichkeit entwickelt sich nach Auffassung Herkommers, Bischoffs, Maldaners in der persönlichen Ausgestaltung zugestandener Freiräume, durch welche der einzelne Lohnabhängige „fähiger, sensibler, bedürfnisreicher – und als solch entwickelte Persönlichkeit … wieder in den Produktionsprozeß“ zurückkehren und in diesem entsprechende Veränderungen schaffen würde (1984, S. 194). „Die Entwicklung eines ‚freizeitkulturellen Lebensstils‘ in der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus“ hätte somit „nicht nur in breitem Umfang die persönliche und soziale Selbstverwirklichung aller Bevölkerungsschichten gebracht – allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang –, sondern auch die Werte von Kommunikation und Kreativität gleichsam in den Produktionsprozeß zurückgetragen. Zunächst arbeitete man, um einen freizeitkulturellen Lebensstil für sich, die Familie und gemeinsam mit anderen pflegen und genießen zu können; schließlich schlägt dieser Lebensstil in eine Neubewertung der Arbeitsinhalte und -bedingungen um“ (1984, S. 195).
Gesellschaftliche Veränderungen ergeben sich diesen Ausführungen zufolge, ganz im Sinne der Theorien der Selbstverwirklichung, dadurch, daß man sich in seinen Freizeitbeschäftigungen/Vergnügungen zur bedürfnisreichen Persönlichkeit entwickelt und als eine solche auch größere Freiräume im Produktionsprozeß anregt, dessen allgemeine Fremdbestimmtheit dieser Auffassung nach offensichtlich nur deswegen besteht, weil die Menschen noch keine hinreichenden Unabhängigkeitsbedürfnisse entwickelt haben.
Subjektivität wird von Herkommer, Bischoff, Maldaner als kompliziertes und widerspruchsvolles Verhältnis von sozialer Deterrminiertheit des einzelnen durch die Gesellschaft und dem „innerhalb bestimmter Grenzen mögliche(n) tätige(n) Gestalten seiner Beziehungen in der Gesellschaft“ (1984, S. 130) gefaßt, das sich durch alle Lebensbereiche hindurchziehe. Die Menschen seien nicht nur durch den vorwiegend fremdbestimmten Produktionsbereich, sondern zugleich durch andere, der realen Subsumtion des Kapitals entzogene Bereiche bestimmt. Die verschiedenen Lebensbereiche würden nicht direkt, sondern gebrochen durch die Tradition und Wertorientierung je spezifischer Gruppen, zu denen der einzelne gehört, auf die Individuen einwirken und sich in diesen zur Persönlichkeitsstruktur verdichten, die dann wiederum die Verhältnisse, durch die sie geworden ist, in je individueller Besonderung reproduziere. „Was wiederholte Betätigung zur Erfahrung gemacht hat“ würde, wie es in verkürzter Übernahme eines von Marx in einem völlig anderen inhaltlichen Zusammenhang gemachten Ausspruchs heißt, zum Bestandteil individueller Persönlichkeit (1984, S. 215). Die individuelle Aneignung der jeweiligen Lebensbereiche sei doppelbestimmt: durch den Kompromiß zwischen der Tendenz nach sozialer Angleichung, Nachahmung einerseits und nach individueller Differenzierung, der Heraushebung persönlicher Besonderheit andererseits. Die Gesamtheit der individuellen Aneignung, der Nachahmungs- und Differenzierungstätigkeit, würde durch den „Habitus“ organisiert, der sich aus dem Zusammenspiel derEinwirkungen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären und dem jeweiligen Temperament des einzelnen ergebe und zugleich die Eigenart und Unterscheidbarkeit der individuellen Aneignung bestimme. „Persönlichkeit“ entstehe aus dem Kompromiß zwischen Anpassung und Differenzierung, d.h. der persönlichen Ausgestaltung der Anpassung an die verschiedenen Lebensbereiche in Abhebung oder auch Ausgrenzung von anderen.
Der Zwang bleibt gemäß diesen Ausführungen auf die unmittelbare Reglementierung des Verhaltens beschränkt, die im Produktionsbereich am stärksten und in den übrigen, der realen Subsumtion unter das Kapital entzogenen Lebensbereichen erheblich geringer, mehr oder weniger aufgehoben sei. Die Kindheit wird nicht, wie in den psychoanalytisch orientierten Theorien, als Zeitraum bestimmt, in welchem die individuelle Autonomie/Widerständigkeit gebrochen, die Basis für die allgemeine Unterwürfigkeit gegenüber allen „Autoritäten“ gelegt wird, sondern explizit als ein Raum definiert, in welchem Dressur und Disziplin eingeschränkt sind. Die Dimension des verinnerlichten Zwangs – die Selbstunterdrückung zur Sicherung des Wohlwollens derer, von denen man objektiv abhängig ist und die damit verbundene Partizipation an der Macht/Unterdrückung – geraten völlig aus dem Blickfeld, ebenso wie die dadurch bedingte subjektive Problematik, die als reale Verunsicherung, allgemeine Ängste und Selbstzweifel und das Bemühen, den eigenen Persönlichkeitswert gegenüber anderen zu demonstrieren, vordergründig wird. Die Folge davon ist die Harmonisierung/Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse, die den Individuen immer mehr Freizeit und damit eine fast unüberschaubare Fülle an Möglichkeiten zur Ausschmückung ihres individuellen = privaten Lebens bzw. ihrer Persönlichkeit bieten. Die Abhängigkeit der Persönlichkeitsentwicklung von den zur Verfügung gestellten „Freiräumen“ bestimmt eine Reihe anderer Theorien, auf die hier jedoch nicht im einzelnen eingegangen werden kann (s. z.B. Hoff, Lappe und Lempert, 1985): Die Handlungsmöglichkeiten sind derartigen Auffassungen zufolge in mehr oder weniger beschränktem Maße den Individuen vorgegeben. Restriktive Situationen führen zu restriktivem Verhalten, offene Situationen führen zur Erweiterung individueller Handlungsweisen. Die Möglichkeit und Notwendigkeit des Kampfes gegen die entwicklungsbehindernden Lebens- und Arbeitsbedingungen bleiben außerhalb der Diskussion. Damit können menschliche Beziehungen nicht in ihrer subjektiven Qualität, der unmittelbaren Verbundenheit über die gemeinsame Entwicklung in der bewußten Bestimmung der Lebensverhältnisse, sondern nur auf der instrumenteilen Ebene begriffen werden, auf welcher die jeweils privaten Interessen aneinander abgearbeitet werden bzw. sich innerhalb vorgegebener Verhältnisse miteinander arrangieren müssen.
5. Fazit der Darstellung/Kritik „persönlichkeitstheoretischer“ Spiegelungen bürgerlicher Rückzugs- und Freiraum-Ideologeme: Rahmenbestimmungen marxistischer Persönlichkeitstheorie
Die Quintessenz aus den hier dargestellten Theorien läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn man von der gesellschaftlichen Verantwortung der Menschen als wesentlicher Bestimmung dessen, was Persönlichkeit ausmacht, absieht, verkommt Subjektivität zur Ausschmückung der individuellen Person in Abhebung und/oder Ausgrenzung von anderen und zur „Gestaltung“ privater Beziehungen, wobei die vielfältigen Auflagen, die der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ gesetzt und die mannigfachen Begrenzungen/Belastungen, denen die privaten Beziehungen innerhalb kapitalistischer Verhältnisse unterworfen sind, als bloße Folge individuellen Fehlverhaltens/Unvermögens oder überhaupt nicht erscheinen.
Als Ergebnis all dieser Theorien steht dann die schlichte Behauptung, daß die Menschen mit der längsten Freizeit und dem meisten Geld die entwickeltsten Persönlichkeiten seien [die sich, wie z.B. bei Maslow (1972), leicht in die Aussage ummünzen läßt, daß Geld und freie Zeit nicht Basis, sondern Krönung der Persönlichkeitsentwicklung sind, d.h. „starke Persönlichkeiten“ automatisch zu den gesellschaftlichen Spitzenpositionen aufsteigen und weniger starke halt weiter unten bleiben].
Indem man Entfremdung auf die äußere Reglementierung reduziert und damit die Verhältnisse im „Privatbereich“ idealisiert, entfällt ein zentraler Aspekt menschlichen Leidens und damit unabweisbarer Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung: die Selbsterniedrigung und die dadurch bedingte Selbstfeindschaft, die sich aus der eigentätigen Festigung der Bedingungen individueller Abhängigkeit ergeben, und die vielfältige, mehr oder weniger bewußte Einbezogenheit in die Unterdrückung anderer, die die Beziehung zu diesen massiv belastet und die potentielle Widerständigkeit gegen jede Form der Ausbeutung unterminiert. Das Leiden an der kapitalistischen Klassenrealität besteht nicht primär in der äußeren Disziplinierung, sondern in der Gebrochenheit der eigenen Haltung zu den Mitmenschen und einem selbst, die diese Verhältnisse einem aufnötigen, und in der dadurch bedingten Selbstverunsicherung. Diese ist um so größer, je fragwürdiger das individuelle Verhalten in Reaktion auf die objektive Verunsicherung ist; sie wird im allgemeinen durch eine mehr oder weniger sublime Selbstbeweihräucherung, die Demonstration individueller Tugenden/Fähigkeiten, aber auch selbst erfahrener Leiden kompensiert, die allen Schaden und alle Leiden, die man anderen zugefügt hat, null und nichtig oder gar als Selbstaufopferung erscheinen lassen.
Aufgabe einer an der Entwicklung und Emanzipation der Menschen interessierten Persönlichkeits-Konzeption wäre es gerade, dieses Leiden und diese Ängste/Selbstzweifel weder zu verschweigen noch abzuwehren oder zu beschönigen, sondern in ihren vielfältigen Formen auf den Begriff zu bringen, d. h. sie in ihren objektiven Ursachen, Zusammenhängen und Konsequenzen zu klären, damit man sich bewußt mit ihnen auseinandersetzen kann, statt aus der Defensive heraus genau die Verhältnisse zu festigen, die die Verunsicherung bedingen und die Menschen entgegen ihren Interessen für fremde Zwecke manipulierbar machen. Statt das Thema „Angst“ generell zu umgehen, wie das z. B. bei Herkommer, Bischoff und Maldaner geschieht, oder diese als bloßes Fantasieprodukt herunterzuspielen, wie das z.B. Perls tut, oder aber das Ertragen der Angst zur inneren Größe zu stilisieren, wie das Gruen betreibt, gilt es vielmehr, die in der Angst enthaltene Kritik an den Verhältnissen, d.h. die in ihr widergespiegelten Bedrohungen auf den Begriff zu bringen und mit den Ursachen der Angst diese selbst aufzuheben – in der Erkenntnis, daß mich „Angst“ immer hinter meinen menschlichen Möglichkeiten zurückbleiben, in meinem Denken und Handeln eng werden und mich mir selbst zum Feinde werden läßt.
Statt die Ausnutzung zugestandener Freiräume als Selbstverwirklichung und Raum wahrer Menschlichkeit zu verkaufen und „Bescheidenheit“ bzw. die Zufriedenheit mit dem, was einem beschieden ist, zur höchsten Tugend zu erheben, gilt es vielmehr, die Eingebundenheit des individuellen Handelns in die herrschenden Verhältnisse/Interessen, das heißt aber auch die objektive Asozialität jeder „Resignation“ sowie die „Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit“, die dem Rückzug auf die eigene Innerlichkeit zugrunde liegen, aufzudecken und damit den Ansporn zu setzen, gegen die objektive und subjektive Erniedrigung anzugehen (vgl. MEW 4, S. 200). Man darf, so Marx, dem Menschen „keinen Augenblick der Selbsttäuschung und der Resignation … gönnen“, sondern muß „den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert“ (MEW 1, S. 381). „Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen“ (ebenda), d.h. die Menschen mit den Konsequenzen ihres Verhaltens konfrontieren, ihnen unmöglich machen, die Augen davor zu verschließen, damit sie damit aufhören, ihre eigene Erniedrigung und deren Bedingung, ihre aktive Beteiligung an der Festigung der Unterdrückungsverhältnisse zu verschleiern, sondern sich gegen diese zur Wehr zu setzen beginnen. Statt die Varianz hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten meiner „Freiräume“ als Beweis individueller Autonomie und gesellschaftlicher Freiheit zu preisen, gilt es vielmehr, um mit Marx zu sprechen, die „mit kleinen Antipathien, schlechten Gewissen und brutaler Mittelmäßigkeit“ verbundenen „konzessionierten Existenzen“ in ihrer „wechselseitigen zweideutigen und argwöhnischen Stellung“ (ebenda) und in „ihrer ebensosehr anerkennenden als verkennenden Beschränktheit“ (MEW 1, S. 380) zu verdeutlichen, d.h. den Kampf gegen den „bescheidene(n) Egoismus“ zu führen, welcher „seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich selbst geltend machen läßt“ (MEW 1, S. 389). Statt, um nicht unangenehm aufzufallen, die eigenen Behinderungen und damit die objektiven Verhältnisse, die diese Behinderungen bedingen, zu verbergen, gilt es, diese in aller Schärfe auf den Begriff zu bringen und mit der „trotzigen Parole“: „Ich bin nichts, und ich müßte alles sein“ allen Beschönigungen der Unterdrückung entgegenzutreten (ebenda).
Wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung sind nicht die mir zugestandenen Freiräume, sondern in wessen Interesse ich handele: Inwieweit ich eine „konzessionierte“, den herrschenden Interessen untergeordnete Existenz führe, d.h. mich zur Absicherung meiner individuellen Existenz den herrschenden Verhältnissen füge, oder inwieweit ich mich gerade – in der Erkenntnis ihrer asozialen, gegen die Entwicklungsinteressen der Menschen gerichteten Funktion – gegen eine solche „konzessionierte Existenz“, d.h. gegen jede Form von Resignation, des Arrangements mit den bestehenden Entwicklungsbehinderungen und meiner Beteiligung daran, verwehre. Wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung ist also, inwieweit ich auf die Bedingungen meiner Existenz vermittels meiner Unterwürfigkeit, die Leugnung/Zensur meiner „unangemessenen“ Lebensansprüche, oder in Erweiterung meiner Handlungsfähigkeit zur vollen Realisierung meiner Bedürfnisse, Interessen und Erkenntnisse Einfluß zu gewinnen trachte. Nicht in der Ausnutzung, sondern gerade in der Zurückweisung von „Freiräumen“, innerhalb derer die Freiheit nur so lange besteht, wie man gemäß den herrschenden Vorstellungen und Interessen funktioniert, kommt die Persönlichkeit zum Ausdruck, die sich in dem Maße entwickelt, wie man zu dem, was man für richtig erkannt hat, steht, sich von diesem weder durch Bestechung noch durch Bedrohung abbringen läßt. Nelson Mandela beweist gerade dadurch seine Persönlichkeit, daß er – im Wissen um die politischen Konsequenzen – die „Freiheit“ zurückweist, die man ihm gewähren würde, wenn er dem Kampf gegen die Apartheid abschwören und stattdessen den Kampf um die Menschlichkeit im eigenen Inneren betreiben würde (s. hierzu z.B. auch die Ausführungen Brendlers, 1983, über Luther).
Die Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft ist somit nicht der „Habitus“ als je spezifische Bündelung gesellschaftlicher Einwirkungen und/oder als je besondere Aneignung der für die Bewältigung der verschiedenen Lebensbereiche notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten durch die Individuen, sondern die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Menschen für die Verhältnisse, das bewußte Verhalten zu den gegebenen Lebensbedingungen und zu den eigenen Bedürfnissen, indem man diese in ihrer Gewordenheit und also auch Veränderbarkeit erkennt. Dieses bewußte Verhalten der Menschen zu den Bedingungen ihrer Existenz und zu sich selbst ist wiederum durch ihre gesellschaftliche Handlungsfähigkeit, d.h. aber durch ihre Beziehungen zu den Mitmenschen bestimmt, wobei Ohnmacht nicht Entlastung von der Verantwortung, sondern allein die Verpflichtung enthalten kann, sich gegenüber den entwicklungsbehindernden Bedingungen handlungsfähig zu machen, d. h. sich die Einflußmöglichkeiten zu verschaffen, um seiner Verantwortung für die Verhältnisse gerecht werden zu können. „Das wirkliche Subjekt“ ist nicht, so Marx „als Resultat“ sondern in „seine(r) Objektivation“ (MEW 1, S. 224) zu fassen. Statt mich durch die vergangenen/erlittenen Erfahrungen zu definieren und diese zugleich für meine gegenwärtige Beschränktheit/Verzagtheit/Gleichgültigkeit gegenüber den Verhältnissen und damit auch der Situation der Mitmenschen verantwortlich zu machen, gilt es vielmehr, mich durch meine Lebensansprüche und Ziele, durch das, wofür ich eintrete und was ich bewirke, zu bestimmen, d.h. mich als gesellschaftliche Kraft zu begreifen, die partiell durch die individuelle Vergangenheit, im wesentlichen aber durch die Beziehungen zu den Mitmenschen bestimmt ist. (Die Haltung der Jugendlichen ist nicht primär durch ihre je spezifischen Sozialisationserfahrungen, sondern vor allem durch die gegenwärtige Erfahrung ihrer allgemeinen Bedeutungslosigkeit/Nutzlosigkeit und ihre reale Ohnmacht und Abhängigkeit bestimmt. Die aktuelle Streikbereitschaft der Arbeitenden hängt, wie z.B. Untersuchungen von Bosch, 1978, zeigen, zentral von ihren gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten, der allgemeinen Streikbereitschaft und den Realisierungschancen der Forderungen ab, und persönliche Faktoren werden erst in dem Maße unmittelbar verhaltensbestimmend, wie die allgemeine Handlungsfähigkeit, etwa die Streikfront, zerbricht, die Individuen wieder isoliert, ohnmächtig, auf die individuell/defensive Existenzsicherung zurückgeworfen sind.)
„Kultur“ ist, so Gramsci, nicht Anhäufung von Wissen und Fähigkeiten, sondern die – an den eigenen Zielen orientierte – „Disziplin des eigenen Ichs“, „Besitz der eigenen Persönlichkeit“ (1967, S. 21), was nur dadurch zu erreichen ist, daß man die eigenen unbotmäßigen Impulse, Bedürfnisse und Erkenntnisse nicht unterdrückt, sondern sich gegen jede „Zensur“ Unterdrückung dieser subjektiven Erfahrungen/Bewertungen der objektiven Realität verwehrt. Persönlichkeit bedeutet nach Gramsci die Entwicklung eines höheren Bewußtseins, und dieses höhere Bewußtsein beinhaltet, daß sich die Menschen in ihrer Kollektivität, d.h. als gesellschaftliche Kraft erkennen und so „den eigenen geschichtlichen Wert . . . , die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten“ begreifen (1967, S. 21) und „eine größere Bewußtheit der eigenen Macht, der eigenen Fähigkeit“ entwickeln, „die gesellschaftliche Verantwortung auf sich zu nehmen, zum Schiedsrichter des eigenen Schicksals zu werden“ (1967, S. 25). Die „Eroberung eines höheren Bewußtseins“ bedeutet zugleich, daß sich die Menschen nicht durch die Wirklichkeit absorbieren lassen, sondern diese beherrschen lernen (1967, S. 31), daß sie nicht „nur egoistisch, ohne logische Kontinuität“ einem „Verteidigungssystem gegen die Ausbeutungen“ und der „Duckmäuserei und fingierten Untertänigkeit“ verhaftet bleiben (1967, S. 35), sondern die „notwendigen Bedingungen für die vollständige Verwirklichung ihres Ideals“ schaffen (1967, S. 26). Die Entwicklung der Persönlichkeit ist nicht durch unmittelbare „Arbeit an der Person“, ihren Bedürfnissen, Gefühlen etc. gemäß den herrschenden Interessen zu leisten – sondern schließt den Kampf gegen alle Verhältnisse ein, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist (MEW 1, S. 385). Und dieser Kampf um die objektiven Voraussetzungen unbehinderter subjektiver Entwicklung ist zugleich, wie Gramsci hervorhebt, ein Kampf gegen den „erniedrigenden Servilismus“ (ebenda), d. h. aber auch gegen jede Form der Verschleierung/Verherrlichung dieses Servilismus – etwa als persönliche Freiheit, individuelle Autonomie- in der bürgerlichen Ideologie/Psychologie bzw. in unseren eigenen Köpfen.
6. Perspektiven und Schwierigkeiten einer psychologischen Konkretisierung des marxistischen Persönlichkeitsentwurfs
Mit den aus der Kritik/Aufhebung bürgerlicher Positionen gewonnenen Rahmenbestimmungen sind die Widerspruchspole subjektiver Existenz unter bürgerlichen Verhältnissen markiert, die in einer marxistischen Persönlichkeitstheorie nicht wieder eliminiert oder von einander getrennt werden dürfen, gleichzeitig die Aspekte hervorgehoben, unter denen man sich dabei permanent der Gefahr unvermerkter Vereinnahmung durch bürgerliche Persönlichkeits-Ideologeme zu erwehren hat. Damit sind indessen nur die Voraussetzungen psychologischer Persönlichkeits-Konzeptionen unter marxistischen Vorzeichen, nicht aber schon deren konkrete Bestimmungen aufgewiesen. Für die somit zu leistende psychologische Konkretisierung des marxistischen Persönlichkeitsentwurfs sind durch die Kritische Psychologie bereits wichtige Vorarbeiten beigetragen worden, insbesondere durch die Elaboration des Widerspruchsbegriffs „restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ auf seine Implikationen/Konsequenzen für die Widersprüchlichkeiten kognitiver und emotional-motivationaler Prozesse, deren soziale Bezüge und deren ontogenetische Entwicklungsgesetzlichkeiten unter bürgerlichen Lebensverhältnissen (vgl. z.B. Holzkamp 1983). Das Problem der Individualität als „Ort“ der persönlichkeitsspezifischen Ausprägung, Integration und Kontinuität/Diskontinuität bestimmter psychischer Funktionsaspekte wurde dabei indessen erst in Ansätzen behandelt: In derartigen „persönlichkeitstheoretischen“ Klärungen (auf der Grundlage einer weit über das hier Angedeutete hinausgehenden Aufarbeitung psychologischer, literarischer, künstlerischer Vorstellungen/Manifestationen menschlicher Individualität in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmtheit) liegt eine unserer wesentlichen zukünftigen Aufgaben.
Nun mag man an dieser Stelle den Hinweis auf bereits vorliegende Ausarbeitung marxistischer Persönlichkeitstheorie, besonders sowjetischer Psychologen, speziell der Kulturhistorischen Schule, vermissen: Ist damit die eben als erst zukünftig zu bewältigende wissenschaftliche Entwicklungsarbeit gekennzeichnete Aufgabe nicht eigentlich schon geleistet, so daß hier weniger eigene Forschungsanstrengungen als die Rezeption der vorliegenden sowjetischen Persönlichkeitstheorien angezeigt erscheinen?
Um zu dieser Frage den angemessenen Zugang zu finden, ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Arbeiten etwa der Kulturhistorischen Schule wesentliche Grundlagen für die Entwicklung marxistisch fundierter Psychlogie unter bürgerlichen Verhältnissen geschaffen haben: So wäre auch die Kritische Psychologie ohne die Rezeption der Auffassungen speziell A.N. Leontjews nicht möglich gewesen, wobei etwa Leontjews objektive Bestimmung des Psychischen als signalvermittelte Lebenstätigkeit, seine „genetische“ Herangehensweise an den Gegenstand der Psychologie u.v.a. auch heute noch die kategorial-methodologischen Fundamente der Kritischen Psychologie ausmachen. Gleichzeitig muß aber auch gesehen werden, daß in dem Maße, wie man sich in der kritisch-psychologischen Forschung der Herausarbeitung der menschlich-gesellschaftlichen Spezifik des Psychischen, insbesondere aber der Widersprüchlichkeiten individueller Subjektivität unter bürgerlichen Verhältnissen annäherte, nicht nur die Rezeption entsprechender psychologischer Auffassungen Leontjews immer weniger ergiebig wurde, sondern sich darüber hinaus auch eine kritische Distanz zu manchen seiner Positionen ergab (vgl. dazu etwa H.-Osterkamp 1976, Keiler 1985 und Maiers 1985).
Dahinter verbirgt sich die allgemeinere Problematik der Übertragbarkeit von Konzepten und Befunden der Psychologie im Sozialismus auf psychologische Ansätze in der bürgerlichen Gesellschaft. Dabei wäre zunächst zu bedenken, daß in der Psychologie ja nicht nur die Wissenschaft, sondern auch ihr „Gegenstand“, das individuelle Subjekt, als historisch bestimmt durch konkrete gesellschaftliche Verhältnisse angesehen werden muß. Somit bedürfen die kategorialen Bestimmungen des Psychischen auf „allgemein-menschlicher“ Ebene einer begrifflichen (und methodologischen) Spezifizierung auf die Erfassung der gesellschaftlich-formbestimmten Züge individueller Subjektivität, wenn diese in ihrer historischen Konkretheit und darin gegebenen besonderen Entwicklungswidersprüchlichkeit nicht verfehlt werden soll. So wäre dann eine einfache Herunterkonkretisierung der von der sowjetischen Psychologie erarbeiteten Grundkategorien (wie „Tätigkeit“, „Aneignung“ etc.) auf die Subjektivität unter bürgerlichen Verhältnissen von der Marxschen Charakterisierung der bürgerlichen Ökonomen mitbetroffen, die – indem sie die historischen Spezifika der Arbeit/Produktion „vergessen“ – „die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse“ in der bürgerlichen Gesellschaft „beweisen“ (Grundrisse, S. 7). Sofern man aber die von der sowjetischen Psychologie vollzogenen Konkretisierungen ihrer Konzepte/Vorgehensweisen auf die empirische Subjektivität unter sozialistischen Bedingungen so behandelt, als wäre damit auch die subjektive Situation von Individuen unter bürgerlichen Verhältnissen faßbar, so würde man damit – insbesondere persönlichkeitstheoretische – Konzeptionen den Individuen als abstakte Normen vorhalten, die mit ihrer wirklichen Lebensproblematik nicht vermittelt sind, und die sie – da die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind – prinzipiell nicht erfüllen können: Damit hätte man einen weiteren Beitrag zur Erhöhung der Unsicherheits- und Insuffizienzerlebnisse der Individuen geleistet, der dann wiederum mit den geschilderten bürgerlichen Persönlichkeitsvorstellungen über die Ohnmacht und den Adel des isolierten Individuums konvergiert.
Ein anderer Aspekt dieser Übertragungsproblematik ist mehr wissenschaftsgeschichtlicher Art: Man hat in Rechnung zu stellen, daß sich die psychologischen Konzeptionen nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch unter den sozialistischen Bedingungen etwa der Sowjetunion ja nicht im luftleeren Raum oder in unmittelbarem Bezug zum Gegenstand entwickeln, sondern im Zuge konkreter wissenschaftlicher und politisch-ideologischer Auseinandersetzungen. Damit werden die Eigenart und Stoßrichtung der psychologischen Ansätze und Befunde erst hinreichend verständlich, wenn man berücksichtigt, auf welche zu überwindenden Konzepte sie sich beziehen und wofür bzw. wogegen sie jeweils Partei ergreifen, was ihrer einfachen Eingemeindung in den wissenschaftshistorischen Kontext der Psychologie in der bürgerlichen Gesellschaft (zu der schließlich auch die marxistische Persönlichkeitstheorie hierzulande gehört) entgegensteht. Mithin darf auch nicht aus dem Auge verloren werden, daß die sowjetische Psychologie ja keine einfache Ansammlung richtiger Erkenntnisse ist, sondern sich als lebendige Wissenschaft in intensivem Meinungsstreit voranbewegt. Es gibt somit keine übergeordneten Konzepte dafür, welche der zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vorliegenden vielfältigen und widersprüchlichen Ausprägungsformen sowjetischer Psychologie/Persönlichkeitstheorie man denn für unsere Verhältnisse übernehmen soll, womit die Problemlage hier in unübersehbarer Weise kompliziert ist.
Mit diesen Bemerkungen ist die Übertragungsproblematik nur in einigen Punkten angerissen, aber nicht einmal hinreichend in ihren Problemaspekten entfaltet, geschweige denn bewältigt. Es muß vielmehr zugestanden werden, daß sich die genannten Schwierigkeiten etwa der Kritischen Psychologie in Auseinandersetzung mit Leontjew bisher mehr oder weniger naturwüchsig in der alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit durchgesetzt haben, deren systematische, selbstkritische Aufarbeitung aber nicht geleistet ist. Die einschlägige Diskussion ist also erst noch zwischen allen Beteiligten/Betroffenen umfassend und intensiv zu führen. Soviel sollte allerdings aus den vorstehenden Problematisierungen immerhin deutlich werden: Was diese Auseinandersetzung auch im einzelnen erbringen mag, die benannte Aufgabe der psychologischen Konkretisierung des dargelegten marxistischen Entwurfs personaler Existenz auf die Individualität/Persönlichkeitsentwicklung unter bürgerlichen Verhältnissen liegt in jedem Fall im wesentlichen noch vor uns.
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