Der Text ist eine Mitschrift des von Klaus Holzkamp auf der 6. Internationalen Ferien-Universität Kritische Psychologie, 24. Bis 29.Februar 1992 in Wien gehaltenen Vortrages und war damals ein Vorgriff auf bestimmte Passagen des Buches »Lernen – Subjektwissenschaftliche Grundlegung der Psychologie des Lernens«, das im Frühjahr 1993 erschienen ist. Dort sind die hier dargestellten Überlegungen präzisiert und aus umfassenderen Zusammenhängen begründet.
Veröffentlicht in: Braun, K.-H. & Wetzel, K. (Red., 1992): Lernwidersprüche und pädagogisches Handeln. Bericht von der 6. Internationalen Ferien-Universität Kritische Psychologie, 24. bis 29. Februar 1992 in Wien, S. 91-113. Marburg: Verlag Arbeit und Gesellschaft.
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Klaus Holzkamp
I.
Als wesentliche Marksteine auf dem Weg zur modernen Schule können bei uns die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der gemeinsamen vierjährigen Grundschule im Weimarer Reichsgrundschulgesetz von 1920 gelten. Mit der gesetzlich verankerten Schulpflicht war der vorher bestehende bloße »Unterrichtszwang«, durch welchen die Eltern lediglich verpflichtet waren, ihre Kinder in irgendeiner Form, also etwa auch durch Privatstunden, unterrichten zu lassen, durch den eigentlichen »Schulzwang« als Pflicht zum Unterrichtsbesuch in öffentlichen Schulen ersetzt. Damit war gleichzeitig der Staat in die Pflicht genommen, derartige Schulen für alle in ausreichender Zahl und Qualität bereitzustellen (vgl. etwa Nevermann & Schulze-Scharnhorst, 1987, S. 82). Mit der gemeinsamen Grundschule wurde das bisherige »Säulenprinzip«, in welchem Kinder unterschiedlicher sozialer Schichten von vornherein (schon von der Vorschule an) verschiedenen Schulformen zugewiesen wurden, durch das Gabelungsprinzip ersetzt, in welchem diese Isolierung erst nach einer vierjährigen gemeinsamen Grundschulzeit vorgesehen war.
Schulpflicht und Grundschule sind sicherlich ein wesentlicher Erfolg der Arbeiterbewegung beim Kampf um die Brechung des Bildungsprivilegs und die Demokratisierung der Schule, ein möglicher Schritt in Richtung auf höhere Bildung der Bevölkerung und damit wachsendes Kritik- und Protestpotential. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß derartige Entwicklungen stets widersprüchlich verlaufen und entsprechende Gegenmaßnahmen der herrschenden Kräfte provozieren. So erweist sich, wenn man die Gesamtentwicklung des Bildungs- und Schulwesens in die Betrachtung einbezieht, daß die geschilderten Demokratisierungsansätze in die Herausbildung institutioneller Machtstrukturen eingebettet wurden, von denen vielfältige Tendenzen ausgehen, das mit wirklichem Wissen einhergehende kritische und emanzipatorische Potential wiederum zu entschärfen und zu kanalisieren.
Diesen Aspekt der Vereinnahmung von Schule durch Einbindung in neu formierte Machtkonstellationen hat Michel Foucault (1977) als (seit Mitte des 18. Jahrhunderts feststellbare) Genealogie der Schule als »Disziplinaranlage« aus der früheren Ständeschule historisch analysiert. Seiner Konzeption nach war damit eine grundlegende Änderung des Verhältnisses zur gesellschaftlichen Macht verbunden: Während in absolutistischen Zeiten die »Macht des Souveräns« direkt und von außen auf die Institutionen einwirkte, war dies mit der Durchsetzung bürgerlich-demokratischer Lebensverhältnisse, da hier das Volk zum Souverän erklärt und die formelle Gleichheit aller vor dem Gesetz deklariert wurde, in dieser Weise nicht mehr möglich; so bildeten sich Machtstrukturen heraus, durch welche – unterhalb der formellen Gleichheitsgarantien – in den Institutionen quasi selbsttätig Ungleichheiten produziert und reproduziert wurden: Dies nach Foucault mittels der internen »Machtökonomie« der »Disziplinaranlagen« des Gefängnisses, des Hospitals, des Militärs, der Fabrik, und eben auch der Schule. Derartige machtökonomische Strukturen charakterisiert Foucault als strategische Zurüstungen zur Kontrolle ohne direkte Machteinwirkung, was seiner Konzeption nach dadurch möglich wird, daß die Strategien quasi durch die Betroffenen hindurch wirken, d.h. jeder im naheliegenden eigenen Interesse die Kontrolle hinnimmt oder sich daran beteiligt, damit aber gleichzeitig jene disziplinären Kontrollmechanismen aufrechterhält, denen er wiederum selbst unterworfen ist. – Demnach muß man an der Schule zwei unterschiedliche, widersprüchliche Bewegungsformen unterscheiden: Einerseits die pädagogischen Prozesse, mit denen die Schule in »relativer Autonomie« (vgl. Klafki 1989, S. 22) ihrem aufklärerischen Selbstverständnis folgend umfassende Bildung und geistige Mündigkeit der Schülerinnen/Schüler anstrebt, und andererseits die die pädagogischen Prozesse durchdringenden und formierenden »disziplinären« Prozesse der Einbindung der Schule in herrschende Machtstrukturen.
Um diesen Aspekt der Schule als Disziplinaranlage mit der ihr eigenen Machtökonomie verstehen zu können, muß man sich die neue zentrale Funktion vergegenwärtigen, die der Schule mit der Durchsetzung bürgerlicher Lebensverhältnisse zugewachsen ist. Während früher der Zugang zu bestimmten Berufslaufbahnen und damit verbundenen Lebensmöglichkeiten über die ständischen Gliederungen und damit verbundenen Privilegien eindeutig vorherbestimmt war, akzentuiert sich jetzt die Funktion der Schule als eines zentralen Umschlagplatzes von Berufs- und Lebenschancen: Sie soll über die Planung des schulischen Outputs unter den Vorzeichen der formellen Gleichheit und demokratischen Gerechtigkeit über die Erteilung unterschiedlicher Abschlüsse und Berechtigungen den ungleichen Zugang zu Berufslaufbahnen/Lebensmöglichkeiten steuern und rechtfertigen. Dazu wären zunächst nach außen bestimmte Koordinationen zwischen Bildungssystem, Berechtigungswesen und Beschäftigungssystem vorausgesetzt, die in ihrer Effektivität umstritten und Gegenstand vielfältiger bildungsökonomischer Kontroversen sind. Dies soll hier beiseite bleiben. Statt dessen will ich mich, um auf mein Thema hinzuarbeiten, nur mit der aus dem genannten administrativ-legitimatorischen »Schulzweck« entstandenen Organisationsstruktur, der Schule und den daraus sich ergebenden Widersprüchen zu ihrem pädagogischen Auftrag befassen.
Aus dem Umstand, daß die Schule Anschlußstellen für verschiedene Berufslaufbahnen produzieren soll, versteht sich, daß sie aufgrund vielfältiger administrativer Eingriffe und »Vorschriften« heute auch nach innen mehr oder weniger eindeutig in Laufbahnen mit unterschiedlichen, den Berufslaufbahnen zugeordneten Abschlüssen gegliedert ist: Zunächst verschiedene Schulformen, bei uns Hauptschule, Realschule und Gymnasium, oder auch entsprechende (hier allerdings durch das pädagogische Prinzip der Durchlässigkeit und Individualisierung relativierte) Züge innerhalb der Gesamtschule. Das Gymnasium als Sekundarstufe ermöglicht sodann den Übergang zur gymnasialen Oberstufe, die zum Abitur führt. Diese quasi horizontalen Schulformen oder -zweige sind dann – trotz aller pädagogischer Argumente gegen solche »Beförderungssysteme« – jeweils in sich wiederum nach Jahrgangsklassen gegliedert, die die Schülerinnen/Schüler von unten nach oben durchlaufen müssen, um den Abschluß innerhalb des jeweiligen Schulzweiges bzw. den Übergang zu einem »höheren« Schulzweig zu erreichen (Foucault kennzeichnet dies als »Organisation von Entwicklungen«). Innerhalb jeder Klasse werden die Schülerinnen/Schüler in der jeweiligen Unterrichtsstunde von einem »Lehrer« (als »Funktionär« der Schuladministration) unterrichtet, und zwar – gemäß der Forderung nach Chancengleichheit/Gerechtigkeit – so, daß jede Schülerin und jeder Schüler im Prinzip das gleiche lernen können. Administratives Kriterium für das Vorankommen der Schülerinnen/Schüler ist die – mit den pädagogischen Erfordernissen der individuellen Unterstützung in einem unaufhebbaren Widerspruch stehende – quantifizierende Leistungsbewertung nach dem System der Schulnoten. Der offizielle Schulzweck der »gerechten« Zuweisung zu unterschiedlichen Berufslaufbahnen/Lebenschancen ist dabei nur zu erreichen, wenn die Notengebung als streng vergleichbar bzw. einheitlich ausgegeben werden kann, d.h. der Anspruch gerechtfertigt erscheint, daß die Schülerinnen/Schüler als Grundlage für die Bewertung das jeweils gleiche Quantum an Unterricht erhalten. Dem dienen dann mannigfache administrative Vorkehrungen, wie versuchte Homogenisierung der Klassen, Disziplinarzeit (s. u.), Überwachung etc., wie sie Foucault im einzelnen herausgehoben hat. Diese gesamte schuldisziplinäre Machtökonomie funktioniert dabei nur unter der Voraussetzung, daß die benannten Strategien der Schuladministration und des Lehrers (soweit er als deren Beauftragter agieren muß) auch von den Schülern/Schülerinnen, Eltern und in der Öffentlichkeit als sinnvolle und »gerechte« Strategien anerkannt bzw. übernommen werden, da nur so die Sanktionierung des Zurückbleibens oder Versagens mit der möglichen Konsequenz des Nichterreichens von Abschlüssen bzw. Berechtigungen verschiedener Art Akzeptanz finden kann (und so der administrative Schulzweck »gerechter« Zuweisung ungleicher Lebenschancen nicht in Frage gestellt ist). – Ich will dies hier nicht näher ausführen, und die weiteren Überlegungen auf die Frage zuspitzen, was sich aus der so an der Planung schulischen Outputs orientierten disziplinären Struktur der Schule im Hinblick auf das hier Institutionen vergegenständlichte Verständnis von »Lernen« ergibt.
II.
Es ist offensichtlich, daß – da der Schule die Aufgabe der Planung von Abschlüssen und Qualifikationen zur Bedienung des Beschäftigungssystems zugewachsen ist – das Lernen offiziell notwendigerweise als in direkter Weise administrativ planbar gesehen werden muß: Nur so sind die geschilderten strategischen Zurüstungen der »Organisation von Entwicklungen« anhand von Unterricht und Leistungsbewertung als möglich und effektiv zu betrachten. Entsprechend wird in den institutionell gefrorenen schuloffiziellen Vorstellungen »Lernen« im Normalfall als direktes Ergebnis von schulischem Lehren betrachtet, womit – da das Lehren ja administrativ planbar sein soll – automatisch auch das Lernen der Schülerinnen/Schüler »mitgeplant« wäre. Das Subjekt schulischer Lernprozesse wären in dieser Sichtweise recht eigentlich nicht die Schülerinnen/Schüler, sondern wäre der »Lehrer«, der seinen Unterricht so zu planen und zu realisieren hat, daß mit dem jeweiligen Lehraufwand in kontrollierbarer Weise ein entsprechender Lerneffekt bei der Schülerin oder beim Schüler einhergeht. Dieses schuladministrative Lernverständnis wird von mir durch die differenzierende Bezeichnung »Lehrlernen« umschrieben. – Dies muß nun genauer erklärt werden.
Da das Konzept des Lehrlernens einerseits im Interesse des Schulzwecks der Outputplanung durchgehalten, andererseits aber den konkreten strategischen Anforderungen der Schuldisziplin angepasst werden muß, bedeutet Lehrlernen in diesem Zusammenhang: Das erreichte Lernquantum entspricht dem aufgewendeten Lehrquantum – abzüglich störender Umstände (also mit einer Ceteris-paribus-Klausel). Dabei werden zwei verschiedene Arten solcher störender Umstände in Rechnung gestellt.
Dies sind einmal solche Störbedingungen, deren Vermeidung in der institutionellen Verantwortung der Schule bzw. der Administration liegt: Es ist dafür zu sorgen, daß die Schülerinnen/Schüler dem jeweils vom Lehrer veranstalteten Unterricht in gleicher bzw. vergleichbarer Weise »ausgesetzt« sind. Dies setzt zunächst allgemein voraus, daß die Schülerinnen/Schüler überhaupt erst einmal im Unterricht anwesend sind. Um diese Voraussetzung zu erfüllen, wird die Schulpflicht von einer Verpflichtung des Staates zu einer Verpflichtung der Eltern umakzentuiert: Diese sind dafür verantwortlich, daß die Schülerinnen/Schüler in der Schule körperlich anwesend sind, d.h. nicht fehlen oder schwänzen, die Schule nicht eigenmächtig verlassen etc. Falls dem nicht nachgekommen wird, gelangen gestaffelte administrative Zwangsmaßnahmen zum Einsatz, was bekanntlich bis zur Vorführung des »Schülers« in der Schule durch die Polizei gehen kann. Zur Sicherstellung der körperlichen Anwesenheit der Schülerinnen/Schüler kommt sodann die Sicherstellung der mentalen Anwesenheit: Die Schülerinnen/Schüler sind verpflichtet, dem jeweils aktuellen Unterricht mit voller Zuwendung und Aufmerksamkeit zu folgen. Dies bedeutet, daß sie, wenn sie während des Unterrichts ungefragt reden, Kontakt zu Mitschülerinnen aufnehmen, aus dem Fenster schauen, vor sich hin dösen etc., potentiell mannigfachen sanktionierenden Eingriffen und Ordnungsmaßnahmen des Lehrers, die ihm als »Funktionär« der Schuladministration »zustehen«, ausgesetzt sind: Sicherlich kann der Lehrer im gegebenen Falle auch auf derartige Maßnahmen verzichten, sie stellen aber dennoch (da nicht vorhersehbar ist, ob und wann sie auf jeweils mich zukommen) eine dauernde, »disziplinierende« Bedrohung der Schülerinnen/Schüler dar.
Darüber hinaus gibt es weitere schulische Bemühungen um die Ausschaltung von Störbedingungen, durch welche die Vergleichbarkeit der Resultate unterrichtlicher Einwirkung gesichert werden soll. Dazu gehört, daß das Quantum des Vorgelernten bei allen Schülerinnen/Schülern gleich sein soll. Dem dient etwa die angestrebte Homogenisierung der Jahrgangsklassen durch den Mechanismus der Versetzung und des Sitzenbleibens. Hinzukommt die – als Aspekt seiner professionellen Qualifikation vorausgesetzte – Gleichbehandlung aller Schülerinnen/Schüler einer Klasse durch den Lehrer: Er darf niemanden bevorzugen und niemanden zurücksetzen oder benachteiligen, sondern muß jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler auf gleiche Weise in den vollen Genuß seiner unterrichtlichen Einwirkung kommen lassen etc. (Der Umstand, daß dies nicht realisierbar ist und zudem allen pädagogischen Notwendigkeiten der Individualisierung und Binnendifferenzierung des Unterrichts widerspricht, ist zwar jedem »irgendwie« bekannt: Diese Einsicht darf, wenn der administrative »Schulzweck« nicht in Frage gestellt sein soll, aber keineswegs systematisch in die schuloffiziellen Maßnahmen durchschlagen.)
Sofern die Ausschaltung dieser Art von Störbedingungen in vollem Maße gelingt (was im allgemeinen offiziell vorausgesetzt wird), müßten – sofern man nur diese Sorte Störfaktoren in Rechnung stellt – (gemäß diesem Denkmodell) alle Schülerinnen/Schüler aufgrund der Lehraktivitäten des Lehrers den gleichen Lerneffekt aufweisen, also auch die gleichen optimalen Leistungsbewertungen, d.h. Noten auf sich ziehen. Nun ist dies bekanntlich nicht der Fall. Mehr noch: Wenn dies der Fall wäre, würde der benannte Schulzweck der über verschiedene Bewertungen zu erreichenden Zuweisungen zu unterschiedlichen Schul- und Berufslaufbahnen nicht erfüllbar sein, und die Schule müßte so die ihr auferlegte gesellschaftliche Funktion als Zuweisungsinstanz ungleicher Lebenschancen von vornherein verfehlen. Hier springt nun im schuladministrativen Organisationsmodell die schon angekündigte zweite Art von Störfaktoren ein: Man geht nämlich davon aus, daß auch wenn die Schule pflichtgemäß allen Schülerinnen/Schülern über den gleichen Lehraufwand die gleichen Lernchancen gegeben hat, dennoch bei ihnen Leistungsunterschiede, d.h. Benotungsunterschiede übrigbleiben. Diese Unterschiede sind aber gemäß diesem Denkmodell nicht von der Schule zu verantworten, sondern liegen bei vor- oder außerschulisch zustande gekommenen unterschiedlichen Leistungsdispositionen der Schülerinnen/ Schüler. Solche Unterschiede können in diesem Denkschema auf verschieden günstige Entwicklungsbedingungen im Elternhaus (qua Schichtspezifik), also unterschiedliche außerschulische »Sozialisationsbedingungen«, aber auch auf verschieden hohe »natürliche« Leistungsdispositionen der Schülerinnen/Schüler zurückgeführt werden. Dabei wird diese letzte Deutung, weil damit die mögliche Verantwortung der Schule auf effektivste Weise ausgeschaltet ist, letztlich bevorzugt, was sich in der schulalltäglichen Rede von den natürlichen »Begabungsunterschieden« (die alle wissenschaftlichen Einwände überdauert hat) niederschlägt. – Mit solchen Begabungsideologien wird zwar hypostasiert, daß bei den Schülern wirkliche Begabungsunterschiede vorkommen (zur Problematik dieser gängigen Voraussetzung vgl. Holzkamp 1992). Tatsächlich wird die entsprechende Unterschiedlichkeit der Notenwerte aber durch die Schule hergestellt: Dies dadurch, daß der Lehrer (durch verschiedene Mechanismen) dazu angehalten und letztlich verpflichtet wird, in seiner jeweiligen Klasse die Notenskala auszuschöpfen, d.h. jeweils um eine zentrale Tendenz schwankende Streuungen der Notenwerte (gemäß der Annäherung an ein mehr intuitives Normalverteilungsmodell) abzuliefern. (In Berlin gibt es dazu etwa einen dies dokumentierenden »Notenspiegel« unter jeder Klassenarbeit.)
Die Herstellung derartiger Notenverteilungen gelingt am einfachsten durch die pädagogisch nicht gedeckte Erhöhung bzw. Verminderung der an die Schüler gestellten zeitlichen Anforderungen durch den Lehrer, d.h. Lockerung oder Anziehung der »Zeitschraube« durch Veränderung des Verhältnisses zwischen der Menge der Anforderungen und der zu ihrer Bewältigung zur Verfügung gestellten Zeit: Wenn z.B. bei einer Klassenarbeit fast alle Schüler eine gute Note erhalten haben, dann war die Arbeit »zu« leicht, und man läßt alsbald eine »schwerere« (in der die gleiche Aufgabenmenge in kürzerer Zeit oder eine erhöhte Aufgabenmenge in der gleichen Zeit bewältigt werden muß) folgen. Wenn dagegen fast alle Schülerinnen/Schüler eine schlechte Note erhalten haben, dann war die Arbeit in diesem Sinne »zu« schwer, und die nächste Arbeit muß entsprechend »leichter« ausfallen. (Wie der Lehrer solche Praktiken mit seiner pädagogischen Verantwortung der optimalen Unterstützung jedes einzelnen Schülers in Einklang bringt, ist ihm überlassen; genauer: das »Aushalten« und »Leben« der damit gesetzten unaufhebbaren Widersprüche macht einen wesentlichen Zug seiner administrativen »Brauchbarkeit« als »beamteter« Lehrer o. ä. aus.) – Man sieht, durch derartige administrativ eingeforderten Vortäuschungen von »natürlichen« Streuungen der vorgeblichen Begabung der Schüler schlägt man aus schuldisziplinärer Sicht sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: Man kann der über die unterschiedliche Benotung transportierten schulischen Funktion selektiver Laufbahnzuweisung gerecht werden und dennoch das Konzept des Lehrlernens, also der unmittelbaren Entsprechung zwischen Lehraufwand und Lerneffekt, beibehalten und so die aus dem »Schulzweck« ableitbare Forderung nach administrativer Planbarkeit von schulischen Lernprozessen als erfüllbar bzw. erfüllt hinstellen.
So liegt denn der gesamten disziplinären Schulorganisation die Vorstellung der Lehrlernentsprechung, d.h. die Annahme, daß man mit einem bestimmten Lehraufwand (abzüglich »natürlicher« Begabungsunterschiede) einen bestimmten Lerneffekt zwangsläufig erzeugen kann, als stillschweigende Selbstverständlichkeit zugrunde. Man braucht demnach offiziell immer nur von Lehrplänen, Unterrichtszielen, Erziehungsaufgaben etc. zu reden bzw. um diese zu streiten, und hätte dabei den dadurch bedingten Lerneffekt stets zwangsläufig mitgemeint. So spricht man etwa in den einschlägigen Schulverordnungen kaum vom Lernen, sondern meist nur von den pädagogischen Aufgaben, Erziehungszielen, Lernzielen etc. und damit – wie man meint – ja sowieso auch vom Lernen. In § l des Berliner Schulgesetzes über die »Aufgaben der Schule« heißt es entsprechend u.a.: »Ziel muß die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, die Ideologie des Nationalsozialismus und aller anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten«. Entsprechendes findet sich in den Landesverfassungen der einzelnen Bundesländer, wobei die allseits beliebte Formel »Erziehung-Zu« im Mittelpunkt steht: Erziehung zu »selbständigem kritischem Urteil, eigenverantwortlichem Handeln und schöpferischer Tätigkeit«, »zu Freiheit und Demokratie«, »zu Toleranz, Achtung der Würde des Menschen und Respekt vor anderen Überzeugungen« etc. Derartige Absichtserklärungen setzen sich dann bis in die einzelnen fachspezifischen Curricula, wo ziemlich durchgehend von »Lernzielen« die Rede ist, wenn »Lehr- oder »Unterrichtsziele« gemeint sind, fort. So werden im »Rahmenplanwerk« für die Berliner Schulen häufig die »Lernziele« sogleich als entsprechendes »Können« der Schülerinnen/Schüler terminologisiert. Im Rahmenplan für die Sekundarstufe I, Fach Musik, z.B. heißt es unter der Rubrik »Lernziele«: »Die Schüler können – diasthematische, rhythmische und harmonische Verläufe analysieren und darstellen – musikalische Strukturen weiterverarbeiten und verfremden, – Melodien harmonisieren und arrangieren, Musikstücke singen und spielen«. Im Rahmenplan für die gymnasiale Oberstufe, Fach Latein, finden sich unter »Verbindliche Lernziele« folgende Angaben: »Einblick in die Aneignung griechischer Kultur durch die Römer, … Fähigkeit, Philosophie als Mittel der Lebensbewältigung zu sehen« etc. Zur Erarbeitung dieser »verbindlichen Lernziele« sollen folgende Lerninhalte dienen: »Philosophische Grundprobleme (Leben und Tod, Leib und Seele, Macht und Recht)«, »das >decorum< und das >utile< in ihrer ethischen und ästhetischen Dialektik« usw.
Die damit veranschaulichte Vorstellung der Lehrlernentsprechung ist nicht nur als Grundlage der Schulorganisation, sondern auch in der öffentlichen Diskussion über die Schule unhinterfragt, und demgemäß auch in den politischen Auseinandersetzungen zur Schule und Schulreform kaum ein Thema: Es geht dabei ziemlich durchgehend lediglich um die Frage, welche Erziehungsziele und -inhalte durch die Schule realisiert werden sollen, und über solche Fragen der »Erziehung-Zu« … was denn eigentlich? laufen denn auch entsprechende Kontroversen zwischen linken und konservativen Positionen. Auch innerhalb der Debatten über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Schulreform (in den 70iger Jahren und ihrem Revival seit Mitte der 80iger Jahre) bilden die Curricula und Probleme ihrer Revision einen der wesentlichen Schwerpunkte; Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung sind Fragen der sozialen Öffnung und Durchlässigkeit der Schullaufbahn-Organisation, so etwa in den Kontroversen über die Alternative: Dreigliedriges Schulsystem oder Gesamtschule, wobei neuerdings das Problem der Beziehung der Schule zu ihrem ökologisch-sozialen Umfeld intensiv diskutiert wird (vgl. etwa Braun & Odey 1989). Die Annahme der Möglichkeit administrativer Planbarkeit von Lernprozessen, also Umsetzbarkeit der politisch erkämpften Lehrziele und organisatorischen Vorgaben in Lernergebnisse bei den Schülern/Schülerinnen, gehört dabei aber quasi zum Gedankengut, das allen Parteien gemeinsam ist, und jenseits dessen die Meinungsverschiedenheiten erst beginnen: Offensichtlich sind auch für die Schulreform-Bewegung Zweifel an der hier zugrundeliegenden Vorstellung von »Lernen«, die einem aus den aufklärerischen Traditionen der Erziehungswissenschaften durchaus hätten zuwachsen können, unter dem Druck der »disziplinären« Formierung der Schule und den daraus nahegelegten Beschränkungen politischer Durchsetzbarkeit und »Machbarkeit« bei der Formulierung konkreter Reformziele weitgehend folgenlos geblieben.
Gerade die Ideologie der Lehrlernentsprechung bzw., wie wir in Vorwegnahme späterer Argumentationen sagen können, des »Lehrlernkurzschlusses«, soll im folgenden auf grundsätzliche Weise in Frage gestellt werden. Damit wird das dem zugrundeliegende Postulat der administrativen Planbarkeit des Lernens als Basis der Schulorganisation und des gesellschaftlichen Schulzwecks prinzipiell in seiner Umsetzbarkeit angezweifelt. Als Einstimmung in den damit angesprochenen Problemkreis sollten schon meine Zitate aus Schulgesetzen und offiziellen Lehrplänen dienen, indem angesichts der jedem ja irgendwie bekannten Schulwirklichkeit das Leerformelhafte und Unseriöse der dort formulierten Erziehungsziele anklingt: Warum hat die Schule, wenn sie pausenlos »zu« Demokratie, Menschenwürde, Kreativität, »zum« Frieden, »zur« Gleichberechtigung der Geschlechter, »zur« Solidarität etc. »erzieht«, die damit angezielte Vollkommenheit des Menschen nicht endlich zustandegebracht? Und warum können wir, da doch laufend entsprechende »Lernziele« an uns vollstreckt werden, nicht endlich diasthematische, rhythmische und harmonische Verläufe analysieren, Melodien harmonisieren, und die Philosophie als Mittel zur Lebensbewältigung verstehen? Irgendetwas muß doch da an den Erziehungszielen, an der Schule, an uns, oder an allem Dreien falsch sein. Um herauszufinden, was da falsch ist, muß man m.E. eben die Selbstverständlichkeit der Lehrlernentsprechung, genauer, die darin beschlossene Vorstellung von menschlichem Lernen, dessen Voraussetzungen und Möglichkeiten, näher ansehen – womit ich mich dem zentralen Punkt meiner Überlegungen annähere.
III.
Um dabei weiter zu kommen, sollten wir uns zunächst darauf einigen, das daß Subjekt schulischer Lernprozesse keinesfalls (wie schuloffiziell unterstellt) der Lehrer ist, der das Lernen an den Schülerinnen/Schülern vollzieht. (Damit müssen wir auch der Mutter von Klein-Erna widersprechen, wenn sie auf die Kritik des Lehrers, Klein-Erna rieche schlecht, erwidert: Klein-Erna ist keine Blume, Sie sollen ihr nicht riechen, Sie sollen ihr lernen.) Subjekt des Lernens der Schülerinnen/Schüler sind vielmehr diese selbst. Dies scheint (wenn man es einmal ausgesprochen hat) einerseits selbstverständlich, wird aber andererseits (wie gesagt) von schuloffizieller Seite systematisch ignoriert. Was heißt dies nun aber genauer?
Zunächst muß das Lernen als intendierte Aktivität von den mehr »inzidentellen« Lerneffekten, oder – wie man sich auch ausdrücken kann – Mitlerneffekten unterschieden werden, die praktisch jede Handlung begleiten: Man kann kaum etwas tun, ohne daß man dabei auch irgendwas »lernt«. Da wir aber jetzt die Subjektseite des schulisch veranstalteten Lehrlernens – der institutionellen Lernanforderung – diskutieren wollen, geht es uns hier um das intendierte Lernen der Schülerinnen/Schüler: Es stellt sich die Frage, ob damit, daß von der Schulseite Lernanforderungen an die Schüler/Schülerinnen gestellt werden, auch schon garantiert ist, daß diese Anforderungen – wie es das schulische Konzept des Lehrlernens vorsieht – von den Schülerinnen/Schülern intendiert übernommen werden, also ob diese, wenn man sie zum Lernen bringen will, automatisch auch schon gerade das von ihnen Geforderte auch lernen wollen. Eine solche Frage stellen heißt sie verneinen: Eine von außen gesetzte Anforderung und eine subjektive Intention sind offenbar zweierlei. Die Intentionen stecken nicht schon in den Anforderungen, sondern müssen als ein selbständiger Entscheidungsakt des Subjekts hinzukommen, wenn aus Lernanforderungen auch Lernaktivitäten werden sollen. Genauer: Das Lernsubjekt muß Gründe haben, die Lernanforderung als seine Lernintention, oder – wie wir uns ausdrücken – als seine Lernproblematik zu übernehmen.
Um richtig zu verstehen, was hier mit einer »Lernproblematik« gemeint sein soll, muß man sich klar machen, daß natürlich nicht jede Problematik, vor der ein Subjekt in seiner Lebenspraxis steht, eine Lernproblematik ist. Es gibt ja auch vielfältige Widersprüche, Dilemmata, Problematiken, die nicht erst durch Lernen, sondern durch unmittelbares Handeln zu lösen sind: Unspezifische Handlungs- oder Bewältigungsproblematiken. Diese werden zu »Lernproblematiken« erst dann, wenn das Subjekt einerseits eine bestimmte Handlungsproblematik nicht direkt überwinden kann, aber andererseits antizipiert, daß durch das Dazwischenschieben einer Lernphase eine solche Überwindung der Handlungsproblematik möglich sein wird: Demnach sind Lernprozesse aus primären Bewältigungsaktivitäten ausgegliedert, stellen quasi einen Umweg oder eine Lernschleife dar, und der Lernprozeß hätte dann das intendierte Resultat, wenn die Handlungsproblematik, die ohne Lernen nicht überwindbar war, nunmehr bewältigt werden kann. Jeder Lernhandlung ist also eine »Bezugshandlung« (vgl. Dulisch 1986, S. 151) zugeordnet, von der es abhängt, welche Struktur die jeweils ausgegliederte Lernhandlung hat.
Daraus ergibt sich schon, daß die Handlungsproblematiken, die u.U. zu einer Lernproblematik führen, keineswegs fremdgesetzte, etwa schulische Lernanforderungen sein müssen. So kann ich auf die Schwierigkeiten, die ich durch Lernen überwinden will, in vielfältigen Kontexten auch gestoßen sein, ohne daß mir jemand eine entsprechende Lernaufgabe gestellt hat. Andererseits muß – dies ist für uns wichtig – eine Lernanforderung von mir keineswegs als Lernproblematik übernommen werden. Ich kann sie auch ignorieren, oder für mich als bloße Handlungsproblematik umdefinieren, also die Anforderungen, die von dritter, schulischer Seite als Lernanforderungen gedacht sind, auf andere Weise zu bewältigen versuchen als gerade durch Lernen. Daraus ergibt sich die entscheidende Frage: Welche Gründe kann ich haben, eine Handlungsproblematik (einschließlich einer drittseitigen Lernanforderung) gerade als meine subjektive Lernproblematik zu übernehmen? Und welche Gründe kann ich haben, eine Lernanforderung nicht als Lernproblematik zu übernehmen, sondern in eine bloße Handlungsproblematik umzudeuten und als solche überwinden zu wollen? – Damit wir uns auf die Klärung dieser Frage zubewegen können, hebe ich – im Rückgriff auf unser kategoriales Begriffspaar Motivation/(innerer) Zwang (vgl. Osterkamp 1976, s. 65ff. sowie 347ff. und Holzkamp 1983, S. 412ff.) – hervor, daß es prinzipiell zwei Formen oder Arten von Lernbegründungen geben kann, in Abhängigkeit davon, wieweit mit dem Lernen eine Erweiterung/Erhöhung meiner Weltverfügung/Lebensqualität oder lediglich die durch das Lernen zu erreichende Abwendung von deren Beeinträchtigung und Bedrohung antizipierbar ist.
Sofern vom Subjektstandpunkt eine Lernhandlung aus der damit zu erreichenden Erweiterung/Erhöhung meiner Verfügung/Lebensqualität begründet, und in diesem Sinne motiviert realisierbar ist, muß von mir angesichts einer bestimmten Lernproblematik der innere Zusammenhang zwischen der erhöhten Verfügungserweiterung/Lebensqualität und lernendem Weltaufschluß unmittelbar zu erfahren bzw. zu antizipieren sein. »Lernmotivation«, wie wir sie verstehen, ist also der Inbegriff von Lerngründen, die zwar zunächst allgemein im Interesse an der handelnden Erhöhung der Verfügung/Lebensqualität fundiert sind, wobei aber zugleich – und darin liegt ihr Spezifikum als Lernbegründungen – die wachsende Verfügung/Lebensqualität als Implikat des lernenden Weltaufschlusses antizipierbar ist: Die zu erwartenden Anstrengungen und Risiken des Lernens werden hier also unter der Prämisse von mir motiviert übernommen, daß ich im Fortgang des Lernprozesses in einer Weise Aufschluß über reale Bedeutungszusammenhänge gewinnen und damit Handlungsmöglichkeiten erreichen kann, durch welche gleichzeitig eine Entfaltung meiner subjektiven Lebensqualität zu erwarten ist: Lernhandlungen, soweit motivational begründet, sind mithin quasi expansiver Natur.
Dabei ist, soweit ich an meine Lernhandlungen den Gesichtspunkt ihrer motivationalen Begründbarkeit anlege, stets impliziert, daß ich bei mangelnder Motivation die Möglichkeit habe bzw. gehabt hätte, eine Lernhandlung zu unterlassen. Dies verweist aber auf die benannte prinzipielle Alternative, daß ich angesichts einer gegebenen Lernproblematik auch dann Gründe für die Realisierung von Lernhandlungen haben kann, wenn eine Erhöhung der Weltverfügung/Lebensqualität dabei nicht antizipiert werden kann, aber mit der Unterlassung oder Verweigerung des Lernens für mich eine Beeinträchtigung meiner Weltverfügung/Lebensqualität droht. So sehe ich mich begründetermaßen gezwungen, zu lernen, obwohl die Möglichkeit der motivationalen Begründung der Lernhandlung (mit der Alternative des Nichtlernens) für mich nicht besteht. Damit bin ich gleichzeitig von Perspektiven der gemeinsamen Verfügung über die Lebensverhältnisse abgeschnitten und auf mich selbst – meine unmittelbare Bedrohtheit und Bedürftigkeit – zurückgeworfen. In diesem Fall sind meine Lerngründe also nicht expansiver, sondern (wie wir uns ausdrücken wollen) defensiver Natur.
Vom Konzept der expansiven-defensiven Lerngründe her fällt neues Licht auf das Verhältnis zwischen Lernproblematiken und den Handlungs- oder Bewältigungsproblematiken, aus denen die Lernproblematiken ausgegliedert sind: Während, wie dargelegt, bei expansiv begründetem Lernen die Erhöhung der Verfügung/Lebensqualität unmittelbar als durch das Lernen erreichbare Erweiterung/Vertiefung des Weltaufschlusses intendiert wird, tritt dieser Zusammenhang bei defensiv begründetem Lernen zurück. Hier geht es mir ja primär darum, den drohenden Verlust der gegebenen Handlungsmöglichkeiten durch Machtinstanzen mittels Lernen abzuwenden. So ist der lernende Weltaufschluß, da über ihn diese Bedrohung nicht unmittelbar zu beseitigen ist, gegenüber der Bedrohungsbewältigung sekundär: »Lernen« ist für mich hier nur deswegen bzw. soweit angezeigt, wie ich dadurch den drohenden Verfügungsentzug vermeiden kann. Damit wäre bei defensiv begründetem Lernen aber genau genommen gar nicht die Überwindung einer Lernproblematik, sondern die Überwindung einer durch Lernanforderungen gekennzeichneten primären Handlungsproblematik die dominante Intention: Es muß mir in dieser Konstellation lediglich darum gehen, der Situation, in welcher die Lernanforderung gestellt ist, möglichst umgehend ohne den drohenden Verlust an Verfügung/Lebensqualität zu entkommen.
Aus dem damit umschriebenen unterschiedlichen Begründungszusammenhang ergeben sich nun unterschiedliche Orientierungen und Ablaufsformen des defensiven und des expansiven Lernens:
Da defensives Lernen nicht auf den Lerninhalt, sondern auf die Bewältigung der aus der Lernanforderung entstehenden möglichen Bedrohung gerichtet ist, geht es hier primär nicht darum, in den Lerngegenstand einzudringen, sondern die Bedrohung durch Demonstration eines Lernerfolgs abzuwehren. Ich bin hier nicht daran interessiert, etwas zu lernen (ich sehe nicht ein, was ich davon haben sollte), sondern daran, die jeweilige Anforderung zu bewältigen und dazu gerade in der Weise und soviel zu lernen, daß dies gelingen kann: Ich bin hier also weitgehend außengesteuert, schmiege mich in dem demonstrierten Lernprozeß bzw. -effekt den von dritter Seite an mich herangetragenen Erwartungen an. Dabei ist die Lerndemonstration zwar u.U. nur soweit möglich, wie ich gewisse tatsächliche Lernaktivitäten damit verbinde, diese sind aber nicht vom Inhalt her strukturiert und synthetisiert, sondern nur durch die jeweils aktuellen Situationsanforderungen geprägt. Dabei liegt es in der Dynamik solcher Situationen, daß ich – da sachlich uninteressiert – die Lerndemonstration, soweit eben möglich, durch bloße Vortäuschung von Lernresultaten zu ersetzen, d.h. ohne wirkliches Lernen auszukommen trachten werde. Defensives Lernen ist also in einem außengesteuert und sachentbunden.
Genau umgekehrt ist die Begründungskonstellation bei expansivem Lernen: Hier steuere ich meine Lernaktivitäten nicht primär an äußeren Anforderungssituationen, sondern an den sachlichen Notwendigkeiten, die sich für mich aus dem Prozeß des Eindringens in den für mich »problematischen«, d.h. partiell noch unzugänglichen Lerngegenstand ergeben. Dies bedeutet, daß bei jedem Schritt, den ich bei der Aneignung des Lerngegenstandes weiterkomme, neue Schwierigkeiten auftreten, die eine Kritik und Umorientierung meiner bisherigen Lernweise erforderlich machen. Expansives Lernen ist immer auch ein Prozeß der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung, kann also – da die Eigenheiten des Gegenstandes hier stets auf unvorhersehbare Weise »dazwischenfunken« können – nicht einfach durch geradlinige Lehrplanung und lineare Verfolgung eines antizipierten Lehrziels gelingen. Vielmehr gerät man durch eine solche Verabsolutierung der Zielgerichtetheit häufig gerade in die Einseitigkeiten, Fixierungen etc. hinein, die es in expansivem Lernen zu überwinden gilt. – Daraus ergibt sich, daß bei wirklich produktiv-expansivem Lernen der zielgerichtete Lernprozeß stets durch eine quasi gegensinnige Lernbewegung ergänzt werden muß: eine Bewegung der (vorübergehenden) Defixierung, Distanz- und Überblicksgewinnung, Zurücknahme, Besinnung. Dies soll (im Anschluss an Galliker, 1990) als affinitives Lernen bezeichnet werden: Die Zulassung von Verweisungsreihen (Verwandtschaftsbeziehungen, Ähnlichkeitsabstufungen, Vergangenheitsbezügen etc.), aus denen die innere Ordnung der Bedeutungsverweisungen, in die der Lerngegenstand einbezogen ist, für mich erfahrbar wird. Durch solche affinitiven Lernphasen der Besinnung, des Sich-Zurück-lehnens, Sich-Gehen-Lassens kann ich Gesamtzusammenhänge zulassen, durch welche die Einseitigkeiten und »Engstirnigkeiten« direkt zielbezogenen Lernens aufhebbar sind. Danach kann ich dann – in wiederum bewußt gesteuerten »definitiven« Lernphasen – mich dem Lerngegenstand wiederum gezielt auf einem neuen Komplexitätsniveau annähern – bis aufgrund der auf dieser Ebene auftretenden neuen Schwierigkeiten wiederum eine affinitive Lernphase angezeigt ist. Das damit gekennzeichnete Abwechseln affinitiver und definitiver Lernphasen ist keineswegs ein nebensächliches Merkmal, sondern konstituierendes Moment der Gegenstandsannäherung in sachinteressiertem und -orientiertem expansiven Lernen.
IV.
Nach dieser Skizzierung von wesentlichen Dimensionen des Lernens vom Subjektstandpunkt wenden wir uns wieder auf unsere allgemeinere Fragestellung zurück und setzen diese subjektiven Lerndimensionen mit dem davor dargestellten schuloffiziellen Konzept des Lehrlernens im Zuge der administrativen Planung schulischen Outputs in Beziehung. Welche Prämissen für expansiv bzw. defensiv begründetes Lernen sind durch die im Anschluß an Foucault dargelegten disziplinären Strukturen der Schul- und Unterrichtsgestaltung hergestellt? Bei meinen entsprechenden Analysen hat sich u.a. ergeben, daß durch die Realisierung des schulischen Lehrlernkonzeptes, da hier Lernanforderungen und deren Übernahme durch die Schülerinnen/Schüler kurzschlüssig gleichgesetzt sind, das schulische Lernen – entgegen dem pädagogischen Auftrag der Schule und des diesem verpflichteten Lehrers – in mannigfacher Weise auf »defensives Lernen«, also die bloße Demonstration von Lernprozessen und Resultaten bis zu deren totaler Vortäuschung hin »normalisiert« ist: Darüber habe ich aber in dem Artikel »Lehren als Lernbehinderung?« (1991) schon einiges gesagt. Deswegen will ich (um mich nicht zu wiederholen) hier an die benannte Frage von einer anderen Seite herangehen: Es ergibt sich aus der relativen Autonomie der Schule, daß die Schülerinnen/Schüler hier – im Bündnis mit dem Lehrer, der seine pädagogische Verantwortung gegen seine disziplinäre »Funktionalisierung« durchzusetzen versucht – in vielfältiger Weise mit Interessantem und Wissenswertem konfrontiert werden und so – trotz dessen administrativ deformierter Darbietung oder »darum herum« – immer wieder einmal dazu motiviert sein werden, mehr über ein Thema zu erfahren, tiefer in einen Gegenstandsbereich einzudringen, also (in unseren Worten) in expansiver Weise zu lernen. Die Frage ist nun, wie reagiert die Schule in ihren »disziplinär« organisierten Arrangements und Strategien auf derartige Ansätze zu expansivem Lernen? Meine (aus meiner Gesamtarbeit abgeleitete) These ist folgende: Aus dem schuloffiziellen Lehrlernkurzschluß ergibt sich (wie gesagt), daß Lernen hier nur als abhängige Größe des Lehrens gesehen werden kann. D.h., daß hier den Schülerinnen und Schülern ein eigenes genuines Lerninteresse nicht zugestanden werden kann. Dies bedeutet aber, daß hier eigene Lernproblematiken der Schülerinnen/Schüler und daraus sich ergebende expansive Lernaktivitäten nicht »vorgesehen« sind, man also die damit verbundenen gegenstandsgesteuerten Haltungen, Verlaufsformen, Selbstverständigungsprozesse lernender Gegenstandsannäherung nicht zur Kenntnis nimmt. So muß von der Schuldisziplin der (unter pädagogischem Aspekt stets mehr oder weniger bekannte) Umstand offiziell verleugnet werden, daß sie durch die Art der Unterrichtsorganisation samt den darin einbeschlossenen interpersonalen Klassenraum-Anordnungen etwaige eigene sachbezogen-expansive Lernbemühungen der Schülerinnen/Schüler permanent behindert und stört. In der Schule wird die Erfahrungswelt des produktiven Lernens offiziell ignoriert und kann deswegen auf dieser Ebene auch der Lernende als Lernender nicht respektiert werden. Dies soll nun genauer gezeigt werden.
Nehmen wir an, ein vom Lehrer im Unterricht dargestelltes Problem hat mich (als Schülerin/Schüler) so nachhaltig betroffen und interessiert, daß ich es als meine Lernproblematik übernommen habe: Ich werde also herauszufinden versuchen, wo dabei meine Schwierigkeiten liegen, zu reaktualisieren, was ich darüber schon weiß und mir überlegen, in welchen allgemeineren Zusammenhang das Problem gehört, dies alles in Erwägung bestimmter und Verwerfung anderer Möglichkeiten hin und her überlegend, um so die spannende Problematik wenigstens soweit für mich aufzuschließen, daß sie mir nicht wieder wegrutscht, und ich mich später weiter darum kümmern kann etc. Dies heißt aber, daß ich mich damit schrittweise aus dem schuloffiziell vorgesehenen Unterrichtsarrangement hinausbewege und so Störungen und/ oder Sanktionen von der Schul-/Lehrerseite provoziere.
Auf oberflächlichster Ebene gerate ich hier schon mit dem zeitdisziplinären 45-Minuten-Takt der Schulstunde in Widerspruch. Es wird nämlich vielleicht gleich zur Pause läuten, dann wird der Unterricht schlagartig abgebrochen (der Ziegelstein fallen gelassen), Unruhe kommt auf, und meine initialen Klärungsbemühungen sind, bevor ich sie bewahren konnte, zerstört; falls ich in der Pause noch etwas auf meinem Platz bleiben und nachdenken (mir vielleicht ein paar Notizen machen) will, werde ich vom aufsichtsführenden Lehrer auf den Schulhof geschickt – und in der nächsten Stunde ist etwas total anderes dran.
Viel gravierender ist es aber, daß sich im Zuge der Verfolgung meiner Lernproblematik, da ich ja nun innerlich damit Zugange bin, unausweichlich meine Zuwendung zum weiterlaufenden Unterricht reduzieren muß. So kann ich die früher dargestellte (neben der körperlichen Anwesenheit) zentrale offizielle Voraussetzung für mein Lernen im Schulsinne, meine mentale Anwesenheit im Unterricht, gerade, weil ich tatsächlich etwas zu lernen angefangen habe, nicht mehr erfüllen: Ich bin »unaufmerksam«, und der Lehrer hat, indem er für ein bestimmtes Problem mein Interesse wecken konnte, diese Unaufmerksamkeit selbst provoziert. Dies schließt ein, daß ich – wenn der Lehrer mich dem Unterrichtsritual gemäß aufruft – die Antwort schuldig bleiben muß: Ich habe (wie der Lehrer aus seiner Sicht konstatieren muß), »nicht aufgepasst«, vielleicht sogar – was der Lehrer bemerkt hat (und was für ihn der Grund war, mich »heranzunehmen«) – statt seinem Unterricht zu folgen, einen Moment nachdenklich aus dem Fenster geschaut: Also werde ich vom Lehrer (soweit er seiner disziplinären Funktion nachkommt) gerügt und kassiere eine entsprechende Eintragung in sein Notizbuch (im Wiederholungsfalle ins Klassenbuch). Wenn ich dem Lehrer (was mir normalerweise nicht einfällt) daraufhin wahrheitsgemäß antworten würde »tut mir leid, aber ich war noch mit dem beschäftigt, was Sie vorhin gesagt haben, soll ich Ihnen statt dessen mal erzählen, was für ein Problem ich damit habe?«, so wird dies von der Klasse wahrscheinlich als unbotmäßiger »Witz« mit Johlen begrüßt, vom Lehrer aber u.U. (gemäß seiner Funktion des unterrichtlichen Problembewältigers) als »freche Antwort«, »Unverschämtheit«, o. ä. neuerlich und schärfer gerügt und notiert werden: Was außerhalb der Schule vielleicht der Anfang eines kooperativen Gesprächs, aus dem beide Gesprächspartner etwas lernen, hätte werden können, ist eben in der Schulklasse – da objektiv mit der Abhaltung des vorgeschriebenen Unterrichts nicht vereinbar – tatsächlich offiziell »unmöglich«.
Sobald wir in Betracht ziehen, daß sich aus den auf die Erweiterung des Gegenstandsaufschlusses gerichteten expansiven Lernaktivitäten an bestimmten Schaltstellen zwangsläufig die Notwendigkeit der Kommunikation mit anderen ergeben wird, lassen sich für die benannten expansiven Lernbemühungen im Unterricht weitere Komplikationen vorhersehen. Falls ich etwa an einer bestimmten Stelle festsitze, aber vermuten kann, daß ein anderer darüber etwas weiß und mir weiterhelfen würde, so ist hier aus der Sachlogik des Lernprozesses heraus eine verbale Kontaktaufnahme konstituierender Bestandteil weiterer Gegenstandsannäherung. Wenn ich (als Schülerin/Schüler) aber über diesen Punkt (so leise wie möglich) die Schulkollegin oder den Schulkollegen neben mir in ein Gespräch zu ziehen versuche, so »schwätze ich mit meinem Nachbarn«: dies für den Lehrer ein neuerliches, u.U. sogar im Zeugnis zu vermerkendes Zeichen meiner Unaufmerksamkeit. Also eine entsprechende Frage an den Lehrer stellen? Selbst wenn ich mich dazu ordnungsgemäß melden und warten würde, bis ich aufgerufen werde, kann der Lehrer (sofern er nicht aus pädagogischen Gründen seine offizielle schuldisziplinäre Funktion temporär beiseite läßt) eine solche Frage nicht zulassen und beantworten – dies auch dann nicht, wenn er daraus gemerkt hätte, daß ich was kapiert habe und er mir eigentlich gerne weiterhelfen würde: Wenn er sich in dieser Weise auf die expansiven Lerninteressen seiner »Schüler« einließe (was dem einen recht ist, ist dem anderen billig), wäre die administrative Anforderung, daß der Lehrer zur Ermöglichung der schuldisziplinär vorgesehenen Lehrlernprozesse und Bewertungen die Klasse unbedingt und vor allem anderen »im Griff« zu behalten hat, nicht mehr erfüllbar: Dies eine weitere typische Situation, in welcher die pädagogische Einsicht des Lehrers mit seiner ihm offiziell abverlangten disziplinären Funktion in Widerspruch geraten – und letztlich dahinter zurückstehen muß.
Wenn wir nun den Gesichtspunkt einbeziehen, daß menschliches Lernen über gegenständlich kumulierte Erfahrungen vermittelt ist, so ergeben sich noch weitergehende Einblicke in die Formen schuladministrativer Behinderung des expansiven, entwickelnd-sachinteressierten Lernens: Aufgrund der zentralen schuldisziplinären Strategie der Vereinzelung der Schülerinnen/Schüler als Garantie »vergleichbarer« und »einheitlicher« Bewertung ist nicht nur (mindestens in allen bewertungsrelevanten Konstellationen) der Kontakt zwischen den Schülerinnen/Schülern offiziell unterbunden, sondern sind auch die im Unterricht und bei Prüfungen erlaubten Hilfsmittel weitgehend reduziert und bestenfalls in minimalem Ausmaß in für alle uniformer Weise zugelassen (jeder einen Duden). Dabei wird ignoriert, daß zu sachangemessen-expansivem Lernen nicht nur der Aufbau/die Nutzbarmachung spezifischer Kommunikationsmöglichkeiten mit den einschlägig Kundigen gehört, sondern auch eine durchschaubare und verfügbare Organisation der zur lernenden Weltaufschließung erforderten gegenständlichen Mittel und Quellen. Auf diesem Hintergrund tritt mit aller Deutlichkeit hervor, auf wie rigorose und systematische Weise die Schülerinnen/Schüler im »disziplinär« organisierten Unterricht von dem Aufbau und der Nutzung eines derartigen gegenständlichen Inhalts- und Quellenwissens abgeschnitten sind. Sogar mit dem benannten Zur-Verfügung-Stellen von für alle gleichartigen Hilfsmitteln sind die Erfordernisse lernenden Gegenstandsaufschlusses quasi auf den Kopf gestellt. Dies gilt auch für alle vom Lehrer eingebrachten Unterrichtsmedien, Tafeln, Projektionen oder gar multimedialen Anordnungen. Zu expansiven Lernaktivitäten gehört nämlich, daß ich im Zuge des Lernfortschritts mir selbst eine dem Inhalt der Lernproblematik gemäße Struktur von Informationsmöglichkeiten und Quellen aufbaue, die mir im weiteren eine sinnvolle Nutzbarmachung des jeweils bereits Gelernten ermöglicht. Indem hier über die zu verwendenden Mittel, Quellen und Medien der Lehrer vorentscheidet, wird den Schülerinnen/Schülern ein weiteres mal bekundet, daß dieser das eigentliche Subjekt ihrer Lernprozesse ist und daß ihre eigenen Lernproblematiken und die von da aus für sie jeweils notwendige individuelle Organisation ihrer Mittel/Quellen hier nicht interessiert. Im ganzen bedeutet dies, daß die Schule, um ihrem offiziellen »Zweck« gemäß vergleichbare und einheitliche Leistungsbewertungen zu ermöglichen, aufgrund der dazu erforderlichen Vorkehrungen (mindestens) in Kauf nimmt, daß die Schülerinnen/Schüler beim lernenden Aufbau eines sinnvollen und verfügbaren Weltbezuges zentral behindert werden.
Art und Funktion der schuldisziplinären Störung der subjektiven Voraussetzungen und Implikationen expansiver Lernprozesse der Schülerinnen/Schüler werden in zugespitzter Weise deutlich, wenn wir einerseits die von uns früher dargelegte essentielle Relevanz afftnitiven Lernens für die Gewinnung lernenden Weltaufschlusses in Erinnerung rufen, und andererseits verdeutlichen, wie man dies durch die Art der schuldisziplinär geforderten Unterrichtsorganisation radikal ignoriert.
Wenn man – um dies aufzuweisen – die verschiedenen Dimensionen schuldisziplinärer Anordnungen und Strategeme überblickt, so zeigt sich, daß den erwähnten i. w. S. zeitdisziplinären Konstellationen und Vorschriften gerade für die Eindämmung und Zurückdrängung affinitiver Lernphasen im Unterricht eine besondere Funktionalität zukommt – dies unter dem Aspekt, daß hier die Überwachung und Kontrolle nicht nur der äußerlich sichtbaren Aktivitäten, sondern auch der »Gedanken« der Schülerinnen/Schüler in besonders effektiver Weise möglich scheint: Schon durch die elementare Zeiteinheit »Schulstunde«, die strengen Zeitvorgaben für Klassenarbeiten, aber auch die von der Lehrerfrage und der Reihenfolge des Aufrufens/« Drannehmens« strukturierten Unterrichtsorganisation, soll jede Schülerin und jeder Schüler auf die Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Zeit, damit seine unablässige mentale Präsenz festgelegt werden: Wenn sie/er auf irgendeine Weise »Zeit vertut«, zeitliche Rahmenbestimmungen überschreitet, gesetzte Zeitpunkte verpasst, so hat dies aufgrund der schuldisziplinären Organisation unmittelbare Auswirkungen auf die bewertbaren Schulleistungen, mit den durch deren Abwertung gesetzten bedrohlichen Konsequenzen. So werden die Schnelligkeit des Auffassens und der Aufgabenbewältigung, die Kürze der Reaktionszeit bei der Anforderungserfüllung u. ä. schuldisziplinär zu einem inhaltlich nicht gedeckten, abstrakten Wert erhoben, der das Weiterkommen oder Zurückbleiben der Schülerinnen/Schüler unmittelbar beeinflußt. Mit der Lockerung oder dem Anziehen der Zeitschraube (etwa in Klassenarbeiten) können, wie dargelegt, demgemäß die schulischen Selektionsbedingungen beliebig verschärft oder ermäßigt werden. Die Ausgrenzung von Schülerinnen/Schülern aus dem normalen Klassenverband etwa in Förderklassen oder Sonderschulen begründet sich häufig wesentlich in der »Langsamkeit« der davon Betroffenen (wobei das Kriterium der Zeitbegrenzung typischerweise in den psychologischen Tests, mit denen ggf. die schulischen Selektions- bzw. Ausgrenzungsmaßnahmen zusätzlich untermauert werden, reproduziert ist). – All dies dient keineswegs den Lerninteressen der Schülerinnen/Schüler und pädagogischen Intentionen der Lehrer, sondern direkt den organisatorischen Interessen der Schuldisziplin und im weiteren der Zurichtung der Schülerinnen/Schüler auf ihre Be- bzw. Verwertbarkeit etc.
Außer in der Unterwerfung der Schülerinnen/Schüler unter ein gesetztes Zeitraster erscheint die schulische Zeitdisziplin auch als Forderung nach Synchronisierung ihrer Aktivitäten mit den Lehreraktivitäten im Unterricht: Die mentalen Prozesse der Schülerinnen/Schüler sollen sich möglichst vollkommen den entsprechenden Vorgaben des Lehrers anschmiegen. So soll die Schülerin oder der Schüler, indem sie/er in pausenloser Aufmerksamkeit dem Unterricht folgt, stets auf dem Sprung sein, jeweils die Fragen zu beantworten, die der Lehrer im nächsten Moment stellen wird, an das denken, was der Lehrer gerade denkt, also eigene Impulse, Gedanken, Befindlichkeiten in ihrer immanenten Verlaufsform unterdrücken – besser: erst gar nicht haben. Mit solchen zeitdisziplinären Rastern und Synchronisationen werden die Schülerinnen/Schüler beim »Folgen« des Unterrichts quasi von diesem verfolgt: Ihnen soll (soweit es nach den strategischen Zurüstungen der Schuldisziplin geht) keine Lücke, keine Luft gelassen werden, um an etwas anderes zu denken, abzuschweifen, sich zu entlasten, aus dem Felde zu gehen, sich dem Einfluß des Unterrichts körperlich und mental auch nur einen Moment zu entziehen.
All dies heißt aber (das ist für unseren gegenwärtigen Darstellungszusammenhang relevant), daß auch etwaige affinitive Lernphasen im Kontext sachinteressiert-expansiver Lernaktivitäten – da sie ja ebenfalls eine (wenn hier auch lernbezogene und vorübergehende) Entlastung vom zeitdisziplinär durchorganisiertem Lernen, ein produktives Abschweifen, Sich-seinen-Gedanken-Überlassen etc. bedeuten – von der Schulseite gleichermaßen unterdrückt, in ihren Äußerungsformen den geschilderten subversiven Ausweichbewegungen der Schülerinnen/Schüler zugeschlagen und entsprechend sanktioniert werden müßten. Genauer: Abstrakte Entlastungsbewegungen und affinitive Lernphasen (in verschiedenen Mischungen und Übergängen) führen, da ihre Existenz gleichermaßen schuloffiziell nicht zugestanden ist, vom Standpunkt der Schuldisziplin zu den gleichen »Unarten« bei den Schülerinnen/Schülern: Unaufmerksamkeit, Träumen, Herumbummeln, Den-Platz-Verlassen, Schwätzen, Unerreichbarkeit/Verstocktheit etc. Alle institutionellen Anordnungen und Maßnahmen der Schuldisziplin wirken – soweit der Lehrer ihnen folgt – unbarmherzig darauf hin, die Schülerinnen/Schüler wieder zur Ordnung, auf Vordermann zu bringen, mit dem Lehrer zugewandten »aufmerksamem« Gesicht auf ihrem Platz festzunageln und ihnen damit auch den letzten Rest eigenen Nachdenkens und Nachsinnens auszutreiben. Es ist in den Formen der Schuldisziplin offensichtlich radikal »undenkbar«, daß Schülerinnen oder Schüler die aussteigen, sich zurückziehen, vorübergehend unzugänglich sind, »träumen«, den Raum verlassen, damit nicht notwendigerweise den Unterricht stören und den Lehrer provozieren, sondern vielleicht nur mal in Ruhe gelassen werden wollen, um ein paar Dinge in ihrem Kopf klar zu kriegen. (Wenn die Schule dies »offiziell« anerkennen und institutionell berücksichtigen, also den Schülerinnen/Schülern die Luft zum leben und lernen lassen könnte, würden mit den Behinderungen affinitiven Lernens gleichzeitig die Bedingungen für das »abstrakte« Aussteigen jener Schülerinnen oder Schüler, die gerade nicht unerkannt von einer Lernproblematik gefesselt sind, entfallen).
Von da aus verdeutlicht sich in radikalisierter Weise ein zentrales Dilemma der Schuldisziplin: daß nämlich – durch die schuloffizielle Lehrlernplanung und flankierenden Strategien – auf der Seite der Schülerinnen/Schüler in immer wieder neuen Erscheinungsformen das Gegenteil erreicht wird: Widerständigkeit, Verweigerung, Täuschung etc., quasi als Rache – richtiger: als schulische Überlebensstrategien – derjenigen, deren subjektive Existenz man vom Standpunkt der Schuldisziplin ignorieren und mißachten zu können meint – wiederum richtiger: aufgrund des gesellschaftlichen Schulzwecks geplanten Outputs ignorieren muss (vgl. dazu meine Ausführungen über „widerständiges Lernen“, 1987). Mit der Verfeinerung der schulischen Planung bis zur versuchten zeitdisziplinären Gleichschaltung mentaler Prozesse der Schülerinnen/Schüler erreicht man demgemäß keineswegs widerspruchsfreie »Folgsamkeit« im Unterricht, sondern spezifische körperliche und mentale Ausweichbewegungen, Aussteigen, Sich-Totstellen, Sich-nach-innen-Zurückziehen, individuelle oder gemeinsame Manöver, um den Lehrer wenigstens vorübergehend von einem abzulenken, aber auch dauernd bedrohte Versuche, ohne oder gegen die Schule Räume der Besinnung, der Distanz, des Überblicks zu gewinnen und sich so der disziplinären Vereinnahmung zu entziehen. Damit steht der Lehrer, je konsequenter er (pflichtgemäß) die Herrschaft über das Denken seiner Schüler anstrebt, in umso höherem Grade einer Vielfalt nicht »zugelassener« subjektiver Impulse der Schülerinnen/Schüler gegenüber, die alle nur eins gemeinsam haben: sich zu entziehen, um sich zu behaupten, mindestens nicht total unterzugehen. Da der Lehrer (wie gesagt), um seinen Unterricht in »vorgeschriebener« Weise abhalten zu können, dies – post festum und prophylaktisch – immer wieder zu durchkreuzen und die Schüler an die Kandare zu nehmen versuchen muß (mit neuerlichen, verfeinerten Widerstands- und Ausweichaktivitäten von Schülerseite im Gegenzug), resultiert daraus jene halb verdeckte Unordnung, jene Mischung aus Streß, Überdruß, Mißtrauen, Druck, Bestechung, Feindseligkeit, Opportunismus, die den normalen Schulalltag grundiert.
So läßt sich am Kriterium der Ermöglichung affinitiver Lernphasen zugespitzt herausstellen, was mir (als Schülerin/Schüler) unter den Bedingungen der planenden, überwachenden, normalisierenden Schuldisziplin zum Lernen, wie es in meinem Interesse wäre, fehlt: Unbedrohtheit, Entlastetheit, Unbedrängtheit, Vertrauen, und vor allem (was dies alles einschließt): Ruhe. Der erste Satz in Pestalozzis Erziehungsroman »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt« lautet »Der Mensch muß Ruhe haben«. Die Hilfe des Lehrers, die Mittel und Einrichtungen der Schule etc., könnten mir nur dann potentiell etwas nützen, wenn vor allem anderen diese Grundvoraussetzungen erfüllt wären, wenn ich nicht permanent genötigt, belagert, in die Defensive gedrängt wäre, also aussteigen, vortäuschen, paktieren müßte, um zu überleben, sondern mich zum schulischen Angebot frei verhalten könnte. (Auch alle Erziehungswissenschaft und Didaktik dieser Welt bleibt nichtig, wenn sie nicht auf dieser Voraussetzung aufbaut.) Auf diesem Hintergrund imponiert die wirkliche Schule, die doch Lernstätte zu sein beansprucht, als Ort mitmenschlicher Verwahrlosung, und darin Verwahrlosung der Lernkultur (vgl. dazu Rumpf 1987 und Zimmer 1987, S. 376). Dabei ist (wie aus unseren früheren Darlegungen hervorgeht), die Änderung dieses Zustands nicht in das Belieben der Lehrer und Schülerinnen/Schüler gestellt: Man hat es dabei vielmehr um die subjektive Seite eben jener Schuldiziplin zu tun, die mit der Reproduktion ihrer eigenen gesellschaftlichen Funktionalität (der »gerechten« Zuweisung ungleicher Lebenschancen etc.) die Verwahrlosung ihrer Lernkultur notwendig mitreproduziert.
V.
Um die vorstehenden Darlegungen richtig einschätzen zu können, ist zu bedenken, dass ich hier nur die gegenwärtige Realität unserer „Regelschulen“ und die in ihrer Organisation gefrorene Theorie“ über Lernen in ihrem Widerspruchsverhältnis zum pädagogischen Auftrag der Schule berücksichtigen wollte: Weder war dabei systematisch von den Einsichten die rede, die man aus der aufklärerischen Geschichte der Erziehungswissenschaften entnehmen kann, noch von den mannigfachen Perspektiven über die vorfindliche Schule hinaus, wie sie in der Schulreformbewegung eröffnet sind. So blieb auch die frage unerörtert, wieweit Impulse der Schulreform in die vorfindlichen Schulen hineinwirkten, welche spuren dabei feststellbar sind und auf welche Weise die Reformbemühungen von administrativer Seite immer wieder entschärft, zurückgedreht, verwässert wurden. Ebenso blieb undiskutiert, ob die Konzeptionen der Schulreform, selbst wenn sie optimal realisiert worden wären, tatsächlich zur Entwicklung der Schule als Stätte expansiven Lernens hinreichen würden und wieweit man in diesem Konzept noch weitere, radikalere Reformschritte ins Auge fassen müsste. Mit solchen Erörterungen wäre ich im Rahmen dieses Beitrages überfordert, verweise aber dazu abschließend auf den letzten Teil meines schon erwähnten Lernbuches, in dem die Konsequenzen unserer subjektwissenschaftlichen Analyse institutioneller Lernverhältnisse für die Schulreformdiskussion ausführlich dargelegt werden.
Literatur:
Braun, K.H., Odey, R. (1989): Die Schule und das Leben oder: Gesellschaftliche Interessenwidersprüche, pädagogische Verantwortung und die Öffnung der Schule“. In: K. Ermert (Hrsg.), Was bedeutet heute pädagogischer Fortschritt? Loccumer Protokolle, 8 (S. 150-173). Evangelische Akademie Loccum, Rehburg-Loccum.
Dulisch, F. (1986): lernen als Form menschlichen Handelns. Bergisch Gladbach.
Foucault, M. (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (8. Auflage 1989). Frankfurt/M
Galliker, M. (1990): Sprechen und Erinnern, Göttingen.
Holzkamp, K. (1983): Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M. (Studienausgabe 1985).
Holzkamp, K. (1987): Lernen und Lernwiderstand. Skizzen einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie. Forum Kritische Psychologie, 20, S. 5-36.
Holzkamp, K.(1991): Lernen als Lernbehinderung? Forum Kritische Psychologie, 27, S. 5-22.
Holzkamp, K. (1992): „Hochbegabung“: Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oder Alltagsvorstellung? Forum kritische Psychologie, 29, S. 5-22.
Klafki, W. (1989): Gesellschaftliche Funktionen und pädagogischer Auftrag der Schule in einer demokratischen Gesellschaft
Nevermann, K., & Schulze-Scharnhorst, E. (1987): Kommentar zum Berliner Schulverfassungsgesetz. In: Berliner Recht für Schule und Lehrer, 2 Bände (3. Auflage), herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Berlin, Redaktion w. Mayer, J.K. Jaksch und K. Will (K 210-1 bis 107).
Osterkamp, U. (1976). Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung 2. Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse (4. Auflage 1990), Frankfurt/M.
Rumpf, H. (1987): Belebungsversuche. Ausgrabungen gegen die Verödung der Lernkultur, Weinheim
Zimmer, G. (1987): Selbstorganisation des Lernens. Kritik der modernen Arbeitserziehung. Frankfurt/M.