Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft

Theoretische und methodische Fragen

Vortrag an der Universität Erlangen, 24.02.2000

Morus Markard

Ich will mit einer Vorbemerkung zu den beiden zentralen Begriffen im Titel meines Vortrags beginnen: „Subjekt“ und „Kritische Psychologie“.

Das Subjekt scheint in der Psychologie derzeit durchaus Konjunktur zu haben – über klinische bzw. praktische Orientierungen oder die Psychoanalyse hinaus. Allerdings ist diese Konjunktur nicht unstrittig. So enthält die damit verbundene Zunahme des Bezuges auf qualitative Methoden einmal die Streitfrage um den möglichen oder sinnvollen Grad der Wissenschaftlichkeit oder Objektivierbarkeit in der Psychologie. Je zu klären ist auch die inhaltliche Bedeutung des Subjekts in verschiedenen Ansätzen, die nicht nur die nomothetische Negation des Subjektiven ablehnen, sondern denen auch überkommene Vorstellungen von einem autonomen Subjekt, gar nicht zu reden vom geschichtsmächtigen, verdächtig sind. Man muss also genauer hinsehen, was jeweils mit „Subjekt“ gemeint ist.

Das gilt auch für die Kennzeichnung „kritische psychologie“, vor allem für das englische Etikett Critical Psychology. Critical Psychology kann mittlerweile für alles stehen, was nicht experimentell-statistisch orientiert ist: vom Sozialen Konstruktionismus über Diskurstheorie bis zur psychoanalytisch orientierten Gruppentherapie. Auch hier ist also zu differenzieren.

Um vor diesem Hintergrund die subjektivitäts-bezogenen Vorstellungen der Kritischen Psychologie, wie sie in der Berliner Arbeitsgruppe um Klaus Holzkamp entwickelt wurde, zu charakterisieren, will ich am Titel meines Beitrages die Vokabel „Entwicklung“ hervorheben: Es geht um die „Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft“. Entwicklung repräsentiert in der Veränderung auch Kontinuität. Anders formuliert: In der Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft sollten frühe Ansprüche der Verbindung fundamentaler Psychologie- und Gesellschaftskritik, frühe Ansprüche der theoretischen Verbindung von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung nicht aufgegeben, sondern sie sollen angemessener realisiert werden.

Die Anfänge der Kritischen Psychologie sind eng mit der – stark politisch inspirierten – Psychologiekritik der Studentenbewegung verbunden, die sich vor allem als Funktionskritik, also als Kritik an der Funktion der Wissenschaft „Psychologie“, die mit ihren Befriedungs- und Selektionsstrategien allein zur „Herrschaftswissenschaft“ tauge, zu „Befriedungsverbrechen“, wie es im Titel eines von Basaglia und anderen herausgegebenen Buches heißt, das den Untertitel trägt: „Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen“.

In der Tat gibt es ja so gut wie keinen Problembereich der Gesellschaft, an dessen Entwicklung oder Reproduktion Psychologinnen und Psychologen nicht beteiligt wären – sie betreuen Bomberpiloten in Angriffskriegen, sie versuchen ihnen anvertraute Minderjährige mit Erziehungsstrategien zu übertölpeln, sie waren an der Optimierung von Folter ebenso beteiligt wie daran, ökonomisch-soziale Problemen zu personal-psychologischen umzuformulieren: wenn etwa aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie deren mangelnde Frustrationstoleranz oder aus der Kombination von Armut und der Karstadt-Werbung „aufgepasst – zugefasst“ der psychologisch zu behandelnde minderjährige Ladendieb wird.

In eben dieser Linie der Kritik resümierte noch Ende der 80er Jahre einer der Herausgeber der – mittlerweile allerdings eher postmodern orientierten – Zeitschrift „Psychologie & Gesellschaftskritik“, Siegfried Grubitzsch, derzeit Präsident der Universität Oldenburg, es sei dort nie darum gegangen, „die Analyse menschlichen Verhaltens und Bewußtseins in der Absicht zu betreiben, eine bessere Psychologie zu produzieren, sondern die Bedingungen und damit das Verhalten selbst als gesellschaftlich konstituiert aufzuzeigen. Bedingungen aufzuzeigen, die das menschliche Subjekt zerstören, und zu benennen, welchen Anteil die Psychologie als Wissenschaft daran hat.“ (1988, 113)

Daran störten und stören – rückblickend – die Kritische Psychologie Berliner Observanz weniger die politischen Implikationen als der Widerspruch, daß im Zitat – i.w.S. psychologische – Aussagen über Subjektivität gemacht werden, gleichzeitig aber die Wissenschaft „Psychologie“ aufgegeben werden soll. Denn in der zitierten Passage sind ja mindestens implizit Vorstellungen über menschliche Subjektivität und dieser angemessene bzw. unangemessene gesellschaftliche Verhältnisse enthalten. (Ich halte es zwar nicht für zwingend, daß es im arbeitsteiligen Gesamt der Wissenschaft unbedingt eine Disziplin „Psychologie“ geben müsse, wohl aber, daß im Zitat Bezug auf ein Wissen genommen wird, das seit über 100 Jahren nicht nur, aber auch in der Psychologie versammelt und diskutiert wird.) Und: Es gibt ja nicht nur Psychologen, die sich, wie skizziert, an der Reproduktion gesellschaftlicher Fehlentwicklungen beteiligen, sondern auch andere, die versuchen, gerade dies herauszuarbeiten, die versuchen, gegen rassistische Entwicklungen zu arbeiten und etwa herauszufinden, warum in der S-Bahn einem drangsalierten Schwarzen niemand hilft. In diesem Widerspruch zwischen Selektion und Emanzipation ging und geht es um die sog. Relevanz der Psychologie.

Ein 1970 publizierter Aufsatz von Klaus Holzkamp dazu beschäftigte sich mit dem Problem derart, daß er gesellschaftlich-politische und fachlich-methodische Aspekte verband. Das heißt, er faßte Relevanz weder allein unter politischen Aspekten noch bloß als Problem experimental-methodologisch erzwungener Reduktion der Komplexität und Vielfalt alltäglicher menschlicher Aktivitäten und gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge auf einige davon isolierte Variablen. Vielmehr unterschied er – unter Bezug auf Habermas – zwischen „technischer“ und „emanzipatorischer Relevanz“, um das problematische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis eben fachlich und politisch angehen zu können.

Was bedeutet nun technische Relevanz? Zur Klärung muß man sich auf folgende Eigenart des variablenpsychologischen Experiments beziehen. Dort geht es bekanntlich darum, unter der Kontrolle der Forscher/Vl die Wirkung der von diesen hergestellten Bedingungen auf Erleben und Verhalten der Vpn zu erfassen. Was damit – günstigstenfalls, also bei interner und ggf. externer Validität – erfaßt werden kann, ist, wie Menschen sich unterfremdgesetzten, von ihnen unbeeinflußbaren Bedingungen verhalten. „Technische“ Relevanz bedeutet unter dieser Voraussetzung die – potentielle – Bedeutung psychologischer Resultate für außerexperimentelle Lebensverhältnisse, bei denen davon abstrahiert wird, daß Menschen nicht nur unterBedingungen leben, sondern sie ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern. Holzkamp formulierte seinerzeit: „Wenn man Lebewesen, die eine Geschichte haben, die – der Möglichkeit nach – auf reflektierte Weise Subjekte dieser Geschichte sein können, die – ebenfalls der Möglichkeit nach – sich bewußt eine ihren Bedürfnissen gemäße … Welt schaffen können und die schließlich in freiem, symmetrischem Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als ,Menschen‘ bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine Geschichte haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, ‚Organismen‘ nennen will, so kann man feststellen, daß (in der experimentellen Anlage) restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich – der Möglichkeit nach – wie ‚Menschen‘ verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie ‚Organismen‘ zu verhalten.“

Emanzipatorische Relevanz nun wurde demgegenüber so definiert, daß in psychologischen Konzepten und methodischen Anordnungen der im Experiment vermißten Doppelbestimmung menschlicher Existenz – objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung – Rechnung zu tragen sei, als Voraussetzung dafür, eine gegenüber problematischen, daß heißt, subjektive Bestimmung einschränkenden, gesellschaftlichen Verhältnissen praktisch eingreifende Psychologie entwickeln zu können.

Zweierlei wurde schnell deutlich, 1. dass diese einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnisse einen Namen haben: Kapitalismus, und 2. dass vernünftige Interessenvertretung in freiem Dialog materielle Verhältnisse voraussetzt, in denen der Mensch – mit dem kategorischen Imperativ von Marx (1967a, 79) gesprochen – nicht mehr „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist, anders formuliert, Verhältnisse, worin real „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx & Engels 1969b, 482), ein Standpunkt, der einschließt, vorher gegenläufige Verhältnisse „umzuwerfen“ (ebd.), nicht bloß umzuinterpretieren oder wegzudiskutieren. Denn die bloße „Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer anderen Interpretation nur anzuerkennen.“ (Marx & Engels 1969, 20). Das u.a. meint die Rede von der befriedungsverbrecherischen Dienstbarkeit der Intellektuellen.

Das Problem bestand nun aber darin, inhaltliche Kriterien für die so intendierte emanzipatorische Relevanz zu gewinnen. Denn wegen der erwähnten Beschränkung waren diese Kriterien ja nicht aus der vorfindlichen, experimentell dominierten Psychologie zu gewinnen. Dem denkbaren Einwand, daß diese aber doch über empirische Erkenntnisbestände verfüge, wurde folgendes entgegengehalten: Erstens: Diese Erkenntnisbestände konnten zur Gewinnung inhaltlicher Relevanzkriterien nichts beitragen, weil auch bewährte Hypothesen über die „anthropologische“ Angemessenheit der Begriffe, in denen sie formuliert sind, grundsätzlich nichts aussagen können. So kann bspw. die empirische Bewährung des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz nicht über die humanwissenschaftliche Angemessenheit der Grundbegriffe Reiz, Reaktion, und Verstärkung entscheiden. Entsprechend ist der differentielle Erkenntnisgehalt konkurrierender Konzepte und Definitionen und damit verbundener Daten auf dieser Ebene nicht auszumachen. Das zweite Problem bestand darin, daß die gesuchten Kriterien auch nicht durch die schlichte Rücknahme methodischer Reduktionen zu gewinnen war. Denn damit landet man bei jenen Alltagsvorstellungen, deren Verkürzungen zu überwinden potentielle Funktion von Wissenschaft ist. Ich hoffe, Werbiks Unterscheidung zwischen Psychonomie und Psychologie richtig verstanden zu haben, wenn ich folgende Parallele ziehe: Von der Psychonomie führt nur dann ein Weg zur Psychologie zurück, wenn ich diese vorher inhaltlich bestimmt habe. Die Frage war aber, die diese Psychologie zu bestimmen sei.- Auf psychologische Praxis bezogen: Woran sollen und können sich Psychologen fachlich orientieren, die sich nicht an dem kritisierten psychologischen Treiben beteiligen wollten?

Es ergab sich noch ein weiteres Problem: Wenn man von der Annahme ausgeht, daß der Mensch Natur-, Gesellschafts- und individuelles Wesen ist, wie läßt sich dann, da diese Aspekte auf der Phänomen-Ebene zwangsläufig vermischt erscheinen, klären, was an den jeweiligen Lebensäußerungen natürlich, was daran gesellschaftlich-formbestimmt, was daran indivduell-idiosynkratisch ist? Die Frage etwa, ob der Mensch von Natur aus a-sozial ist und entsprechend gesellschaftlich gebändigt werden muß, ist unter emanzipatorischer Perspektive theoretisch und praktisch – etwa in Erziehungsfragen – nicht zu unterschätzen, da von ihrer Beantwortung erstens abhängt, ob gesellschaftliche Repression generell notwendig ist oder nicht, und zweitens, ob und wie bzw. inwieweit psychologische Konzeptionen dieses Problem formulieren und fassen.

Wenn man davon ausgeht, daß die gegenwärtige Verfaßtheit der Gesellschaft die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten behindert, hätte eine emanzipatorische Psychologie eben jene menschlichen Möglichkeiten auf den Begriff zu bringen, die in der vorfindlichen Psychologie begrifflich unterschritten und in der bürgerlichen Gesellschaft real behindert werden. Dies würde also bedeuten, die Begrifflichkeit der vorfindlichen Psychologie daraufhin zu untersuchen, inwieweit dort menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten, verkürzt um ihre allgemeine Perspektive, nur in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmtheit gefaßt werden, letztere aber blind universalisiert wird.

Zwei Beispiele:

Ist z.B. Motivation so zu fassen, dass Menschen im Ergebnis einer psychologischen Intervention wollen, was sie wollen sollen, oder so, dass danach gefragt wird, in wessen Interesse wer was wollen soll, danach, wie je meine Lebensmöglichkeiten davon tangiert sind, dass oder wenn ich an mich gestellte Anforderungen erfülle?

Oder: Im Konzept des Vorurteils schwingt eine Art persönlicher Zuschreibung mit. In dieser Tradition fragt man sich, wie Rassisten sind, warum Menschen zu Rassisten werden: Man kann aber angesichts der herrschenden Ausländerpolitik und -gesetzgebung auch fragen: Wie sollten Menschen nicht ausländerfeindlich, nicht rassistisch werden, wenn sie doch den Ausschluss, die Ausgrenzung von „AusländerInnen“ jeden Tag als „Recht und Gesetz“, als gesellschaftlich legitim vorgeführt sehen? Warum sollten Menschen, aus welchen sozialen Gruppen auch immer, nicht auf die Idee kommen, dass sie Entsprechendes auch in ihrem Alltagsdenken und -handeln vollziehen dürfen? Warum sollte die Vorstellung, dass eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von AusländerInnen eine Verbesserung der Lage Einheimischer brächte, nicht ins alltägliche Denk- und Handlungsrepertoire Einheimischer übergehen? Wenn man so fragt, sieht man Rassismus nicht in erster Linie als persönliches Vorurteil, sondern als Reproduktion alltäglicher Lebensweise, eines institutionellen Rassismus.

Soweit nun in psychologischen Konzepten und Befunden menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten nur verkürzt gefasst bzw. gesellschaftliche Verhältnisse ausgeblendet werden, wäre aber auch eine als objektiv sich in Szene setzende Psychologie als in Wirklichkeitparteilich blamiert; mehr noch: Es wäre ein jenseits gesellschaftlicher Widersprüche operierender Objektivitätsbegriff grundsätzlich problematisiert. In gesellschaftliche Widersprüche eingelassene psychologische Konzepte sind unvermeidlich parteilich, ihr unterschiedlicher Erkenntnis- und Objektivitätsgehalt ergibt sich mit ihrer Potenz, das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit menschlicher Existenz zu entfalten, wie etwa am Motivationsbeispiel skizziert, mit dem wissenschaftspolitischen Anspruch, wissenschaftlicher Erkenntnis gegen Fremd- und Selbstbeschränkung aufrecht zu erhalten, das Verhältnis von Wissenschaft und Macht zu reflektieren, als ein Verhältnis, das nicht nur äußerlich ist, also die Organisation und institutionelle Durchsetzung wissenschaftlicher Auffassungen betrifft, sondern in die Poren wissenschaftlichen Denkens eindringt.

Wie auch immer: emanzipatorisch intendierte Wissenschaft bedarf einer Perspektive, in der Verkürzungen als Verkürzungen sichtbar werden. Das ist das zentrale Problem, jedenfalls dann, wenn man des status quo nicht als Maßstab akzeptiert, aus dem Bestehenden das Mögliche nicht streichen will.

Diese mit der Funktionskritik inhaltlich verbundenen, allerdings über sie hinausgehenden Fragestellungen verdankten sich dem Bezug der sich entwickelnden Kritischen Psychologie auf marxistische Theorie von Natur und Gesellschaft. Diesem Bezug verdankte sich auch das Bemühen um eine eigene, genuin marxistische Psychologie-Konzeption. Diese Intention hatte sich besonders mit zwei Auffassungen auseinanderzusetzen:Erstens mit derjenigen, daß menschliche Subjektivität auf den bloßen Schnittpunkt der ökonomischen Bedingungen zu bringen sei: Dann allerdings, so unser Einwand, bedarf es keiner eigenen wissenschaftlichen Konzeption, Subjektivität wäre dann nur unselbständiges Moment der Gesellschaftstheorie. Diese ökonomistische Vorstellung läuft letztlich auf eine psychologische Milieutheorie hinaus, in deren Bann Menschen immer nur als bedingt und bewirkt, nicht aber als bewirkend und Bedingungen verändernd begriffen werden können – wie in der experimentellen Anordnung. Die zweite Position, mit der man sich auseinanderzusetzen hatte, bestand in dem historisch verständlichen Vorschlag, die Beschäftigung mit Subjektivität der Psychoanalyse zu überantworten und diese mit marxistischer Gesellschaftstheorie zu kombinieren. Das hierbei auftauchende Problem besteht aber darin, daß die Psychoanalyse mit ihrem antigesellschaftlichen Triebmodell kein mit dem Marxismus vereinbares Konzept des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft besitzt. Die zentrale theoretische Aufgabe, den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in seinen Widersprüchen zu fassen, wird verstellt, wenn die dabei anvisierten wissenschaftlichen Bezugssysteme für die Fragen des Verhältnisses von Subjektivität und Gesellschaft sich widersprechen.

Ich denke, bis hierhin Wesentliches zu dem Problembestand formuliert zu haben, der in kritisch-psychologischer Subjektivitätskonzeption einer Lösung näherzubringen war. Ich resümiere die Problemfelder: Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik mit emanzipatorischer Perspektive, das Begreifen des konkret-historischen Zusammenhangs individueller und gesellschaftlicher Reproduktion mit der Ermöglichung differentieller Beurteilung des Erkenntnisgehalts vorfindlicher psychologischer Konzeptionen, dabei Ansprüche an Objektivitätskriterien nicht zu ermäßigen. Es ging also darum, die Besonderheit menschlichen Handelns und Erlebens dadurch zu begreifen, daß die Besonderheit desZusammenhang zwischen individuellem Lebens- und gesellschaftlichem Reproduktionsprozeß faßbar wurde.

Methodisch lief das – in Anlehnung an das logisch-historische Verfahren von Marx – auf den Versuch hinaus, mit interdisziplinären Bezügen das Psychische in seiner Geschichtlichkeit historisch-empirisch zu re-konstruieren.

Ich kann mich hier aber nur auf das Resultat beziehen, das Holzkamp in seiner Grundlegung der Psychologie die „gesamtgesellschaftlich Vermitteltheit individuelle Existenz“ nannte: Daran will ich zwei Aspekte herausheben:
1. Gesellschaft ist dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern nur in ihren dem Individuum zugewandten Ausschnitten gegeben. Entsprechend sind einzelne Sachverhalte in ihrer Bedeutung nicht mehr aus sich selber alleine heraus zu begreifen, sondern nur aus ihrer Funktion im Gesamt der arbeitsteiligen Reproduktion. Objektiv bewegt sich damit der Lebensprozeß des Individuums im Widerspruch, in der „Gegenläufigkeit des gesamtgesellschaftlichen Prozesses von der Produktionsweise her und der Strukturierung des personalen Lebensprozesses von der Reproduktion des individuellen Daseins her“ (1983, 358).
2. Gesellschaftliche Bedingungen determinieren menschliches Handeln nicht, sondern sie sind als Bedeutungen zu fassen, die für die Menschen Handlungsmöglichkeiten repräsentieren, zu denen sie sich verhalten können und müssen.

Auf dieser Grundlage sehen wir die Perspektive für die Lösung des Subjektivitäts-Objektivitäts-Problems in der Beantwortung der Frage, wie das Vermittlungsverhältnis von subjektiv-individuellem Lebens- und objektiv-gesellschaftlichem Reproduktionsprozeß psychologisch gefaßt werden kann, und zwar unter folgender Voraussetzung: ‚Mein‘ subjektiver Standpunkt ist „zwar der Ausgangspunkt meiner Welt- und Selbsterfahrung, aber damit keine unhintergehbare bzw. ‚in sich‘ selbstgenügsame Letztheit (…) Der ‚Standpunkt des Subjekts‘ schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein. (…)“. (a.a.O., 538 f.).

Die hier nur in resultathaftem Staccato skizzierte Entwicklung zur Subjektwissenschaft bedeutet, wie anfänglich gesagt, keine Abwendung von der ursprünglichen Funktionskritik und vom marxistischen Bezug der Kritischen Psychologie, sondern den Versuch ihrer Weiterentwicklung – übrigens auch vor dem Hintergrund, dass keines der Probleme, denen sich die Entstehung der Kritischen Psychologie verdankt, bislang gelöst ist.

Ich möchte abschließend am Resultat der skizzierten Entwicklung drei Aspekte herausheben: 1. das Konzept der Handlungsfähigkeit als Vermittlungskonzept zwischen gesellschaftlich Bedeutungen und subjektiven Handlungsgründen, 2. die Relevanz des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bzw. von gesellschaftlicher Struktur und situiertem Kontext und 3. methodologische Konsequenzen.

1. Handlungsfähigkeit als Vermittlungskategorie

Handlungsfähigkeit ist in der Kritischen Psychologie der Begriff, mit dem die genannte Vermittlung der individuellen mit der gesellschaftlichen Reproduktion zum Ausdruck gebracht werden soll. Wie gesagt, wird die Weltseite dabei gefaßt als Bedeutungen, zu denen sich das Individuum verhalten kann und muß, Bedeutungen, die menschliches Handeln also nicht direkt determinieren, sondern als Handlungsmöglichkeiten aufgefaßt werden müssen. Daraus folgt aber nicht, Handeln sei diesen Bedeutungen gegenüber geradezu beliebig. Ich betone das deswegen, weil in der Psychologie die Absicht, das Subjekt in seiner Intentionalität zur Geltung zu bringen, dazu führen kann, Handeln zu bloßen Sinnstiftungen zu sublimieren, „freigesetzt“ von den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, die Sinngeschehen in je aufzuschließender Weise formieren, womit wieder einmal das Verhältnis von „objektiver Bestimmtheit“ und „subjektiver Bestimmung“ verfehlt wird.

Handeln ist weder direkt determiniert, noch Ausdruck frei flottierender Sinnstiftung, sondern in Prämissen begründet – gemäß den Interessen des Individuums und unter Bezug auf die ihm gegebenen Bedeutungen, die als sachlich-soziale Weltgegebenheiten Handlungsmöglichkeiten repräsentieren. Diese werden für das Individuum dann zu ‚Handlungs-Prämissen‚, wenn es im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickeln muß. Prämissen sind also vom Individuum ‚herausgegliedert‘ Aspekte von Bedeutungskonstellationen. Prämissen sind Bedingungen, wie ich sie akzentuiere, sie sind sozusagen der subjektiv begründete Weltbezug. Theoretische Aussagen über Handlungen fassen wir dementsprechend als Aussagen über Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Der von Holzkamp unausgeführte, posthume Entwurf des Konzeptes „Lebensführung“ akzentuiert das alltäglich Prozeßhafte dieses Zusammenhangs. Ohne diesen Zusammenhang wäre es trivial. Ich komme darauf zurück.

Um einem allfälligen Mißverständnis vorzubeugen, möchte ich folgendes hervorheben: „Begründet“ bedeutet hier nicht „rational“ oder „bewußt“, wie sich am Beispiel überkochender Milch veranschaulichen läßt: Milch kocht gewiß nicht bewußt über, wohl aber auch nicht unbewußt, sondern unter bestimmten Bedingungen, sie kocht bedingt über. „Begründet“ bedeutet auch nicht „rational“, sondern wird von uns als Gegenbegriff zu „bedingt“ verstanden. Unbewußtes macht nur im Begründungsdiskurs Sinn.

Begründetheit und deren Rekonstruktion schließt auch die Rede von Irrationalität aus: „Mein“ Verdikt der Irrationalität des anderen ist aus Außensicht unbegriffene Prämissenlage eines anderen.

2. Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit; restriktive / verallgemeinerte Handlungsfähigkeit

Wenn, wie gesagt, gesellschaftliche Verhältnisse dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern immer nur in Ausschnitten, mit unmittelbar nicht sicht- und erfahrbaren Verweisungszusammenhängen, gegeben sind, dann ist den situativ-unmittelbaren Kontexten deren Vermittlung mit gesellschaftlichen Strukturen nicht auf die Stirn geschrieben.

Dass Situationen zu ihrem psychologischen Verständnis auf ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge hin analysiert werden müssen, mag das Beispiel eines als konzentrationsschwach diagnostizierten Schülers verdeutlichen: Die Fixierung des Blicks auf diesen Schüler und seine vermeintliche Eigenschaft verstellt den Blick darauf, daß zu diesem konzentrationsschwachen Schüler womöglich ein didaktikschwacher Lehrer gehört, der seinerseits wiederum seinen Stoff stur durchzieht, weil er sich unter dem Druck von Lehrplänen sieht, deren Zustandekommen sich Einflüssen verdankt usw. usf. Die Konzentrationsstörung, die im Gewande phänomenaler Konkretheit erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt oder pseudokonkonkret (Kosik), und zwar deswegen, weil dabei – im Alltagsdenken wie seiner blinden Reproduktion in der Psychologie – von den skizzierten gesellschaftlichen Vermittlungen des Phänomens abgesehen, also abstrahiert wird. Damit werden Konkretheit und Abstraktheit verkehrt.

Wie sich am Beispiel zeigt, wird in dieser Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit auch von gesellschaftlichen Machtkonstellationen abgesehen, ein Umstand, der in dem Maße wahrscheinlicher wird, in dem Machtverhältnisse selber abstrakter werden. Es zeigt sich hier auch, warum aus unserer Sicht Psychologie eines Bezuges auf Gesellschaftstheorie bedarf – natürlich im Wissen darum, daß auch gesellschaftstheoretische Konzeptionen konkurrierend und strittig sind, marxistische Konzeptionen allemal – aber das ist ja ein generelles Problem interdisziplinärer Bezüge.

In der Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit erscheint es so, als seien Konflikte, die in der unmittelbaren Lebenswelt des Individuums auftreten, auch dort entstanden und unter alleinigem Bezug auf diesen Zusammenhang lösbar. Das Individuum ist dann sisyphosartig mit dem Versuch befaßt, seine Lebensqualität durch Arbeit an sich selber, an seinen unmittelbaren Beziehungen zu erhöhen – und damit übrigens gelegentlich auch das Einkommen von Therapeuten. Hier zeigt sich das Dilemma, daß psychologische Berufspraktiker immer wieder der dilemmatischen Erwartung ausgesetzt sind, psychologische Probleme zu kurieren, ohne wesentlichen Einfluß auf die Lebensumstände nehmen oder veranlassen zu können, aus denen diese Probleme verständlich werden.

Meine nur knappe Erwähnung gesellschaftlicher Machtverhältnisse verweist auf den für uns wesentlichen Umstand, daß Handlungsmöglichkeiten dem Individuum nicht ungebrochen, sondern immer in einem je zu klärenden Verhältnis zu gesellschaftlich vermittelten Handlungsbehinderungengegeben sind. Dabei hat das Individuum strukturell die Alternative, in, wie wir sagen, „restriktivem“ Bewältigungsmodus bloß zugestandeneMöglichkeiten zu „nutzen“ bzw. nahegelegte Denkformen zu reproduzieren oder diese Möglichkeiten selber zu erweitern; die erste Möglichkeit verfestigt ggf. die Probleme, mit denen es konfrontiert ist. Die zweite Möglichkeit birgt aber auch ein Risiko in sich, nämlich das, zu scheitern und sich weitere, größere Probleme einzuhandeln – eine konfliktträchtige Alternative, die den Kern subjektwissenschaftlicher Forschung als Analyse von Handlungsfunktionalitäten ausmacht. Holzkamp hat in seinem nachgelassenen Manuskript über „Lebensführung“ als die „formale Seite“ problematischer Lebenssituationen „Ausgrenzung, Unterdrückung, Ignorierung, Mißachtung der Lebens-/Verfügungsinteressen des anderen – sei es des einzelnen Anderen oder des Anderen als Gruppe“ (1996, 104) hervorgehoben.

Die zentrale Aufgabe subjektwissenschaftlicher Analysen ist die Herausarbeitung des Verhältnisses zwischen unmittelbarer Situation bzw. deren durchaus anschaulicher Erfahrung und den in beide ragenden gesellschaftlichen Strukturen, Strukturen, die selber aber nicht anschaulich, sondern nur theoretisch zu rekonstruieren sind. Ohne deren Rekonstruktion wäre der Weltbezug psychologischer Forschung, wie Holzkamp sich in seinem erwähnten, nachgelassenen Manuskript über „Lebensführung“ ausdrückt, „flach“: „Der Weltbezug psychologischer Theorie … kann … nur angemessen begriffen werden, wenn wir von der bloßen Tatsächlichkeit der Welt zu ihrer Struktur übergehen.“ (1996, 55) Insofern liegt, so Holzkamp im selben Manuskript, eine „der Hauptaufgaben unserer Analyse … darin, die Vermittlung zwischen Gesellschaftsstruktur und Individuum … herauszuarbeiten“ (Holzkamp 1996, 48). Das bedeutet aber auch eine Absage an alle Konzeptionen, die die Gesellschaft in ein Sammelsurium von Situationen auflösen und die in Situationsansätzen die traditionelle Psychologie zu überwinden versuchen. Die situationsenthobene Abstraktheit der traditionellen Psychologie ist u.E. nicht durch pseudokonkrete Situationsanalysen zu überwinden.

3. Methodische Konsequenzen

Um die methodischen Konsequenzen der hier vorgestellten Überlegungen zu verdeutlichen, muß ich noch einmal auf das Bedingtheitsdenken rekurrieren, das im Experiment seinen prägnantesten forschungspraktischen Ausdruck findet. Dort werden Theorien als Bedingungs-Ereignis-Relationen formuliert. (Darauf, dass dies übrigens ein methodisch folgenreiches Selbstmissverständnis nomothetischer Psychologie ist, komme ich noch kurz zurück.) Bedingungs-Ereignis-Relationen sind nicht vom Standpunkt des Subjekts aus gedacht, sondern von einem Außenstandpunkt, von dem aus das Subjekt Manipulations-Objekt ist. In einer subjektwissenschaftlichen Psychologie sind aber, wie schon gesagt, theoretische Aussagen als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zu konzeptualisieren. Diese sind, da Gründe immer erster Person sind, nur vom Standpunkt des Subjekts aus zu formulieren. Daraus folgt, daß psychologische Theorien Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte sein müssen – über eigene Interessen, Motive, Gründe und über die Konsequenzen des Handelns in wichtigen bzw. problematischen Lebenssituationen vom Standpunkt des Subjekts aus.

Wenn nun psychologische Theorien als Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte verstanden werden, ist dem in methodischen Anordnungen und psychologischen Konzepten Rechnung zu tragen, und es ist im Begründungsdiskurs zu argumentieren. Anders: Wenn Theorien der Selbstverständigung der Subjekte dienen, dann ergibt sich daraus, daß Menschen nicht Gegenstand der psychologischen Forschung sind, daß sie nicht ‚beforscht‘ werden, sondern daß sie selber – zusammen mit den psychologischen Professionellen – auf der Forschungsseite stehen. Die Selbstcharakterisierung unseres Ansatzes als einer „Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ ist also nicht metaphorisch, sondern wörtlich gemeint. Gegenstand der Forschung ist nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt. Aus diesem Grunde sind subjektwissenschaftliche Aussagen keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen (z.B. als konzentrationsschwach), sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. Verallgemeinerbare – Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen.

Ich hatte eben schon darauf verwiesen, daß Erfahrungen auf ihre – unanschaulichen – gesellschaftlichen Strukturmomente hin zu analysieren sind. Daß dies möglich ist, ergibt sich methodisch aller Unmittelbarkeit und Authentizität von Erfahrung zum Trotz daraus, daß individuelle Erfahrungen in gesellschaftlichen Denkformen gemacht werden. Deswegen ist das Erlebnis der Unmittelbarkeit bzw. die Unmittelbarkeit der Erfahrung zwar evident und weder in Zweifel zu ziehen noch zu hintergehen, die Evidenz aber ist hinterfragbar.

Was ich meine, läßt sich am Problem frühkindlicher Erfahrungen Erwachsener von sexuellem Mißbrauch veranschaulichen. Dabei geht es um die Aufklärung der Erfahrung sexueller Gewalt bzw. des Aufklärungspotentials erfahrener sexueller Gewalt für gegenwärtige Lebensprobleme und damit um das Problem des Verhältnisses von Erfahrung und Deutung. Erfahrungen kann zwar nur je ‚ich‘ machen, aber ‚ich‘ mache sie nicht im luftleeren Raum, sondern, vor allem in dem Maße, in dem ‚ich‘ ihrer innewerde, im Medium gesellschaftlicher Sprach- und Denkformen und damit auch im Medium konkurrierender psychologischer bzw. alltäglicher Konzepte. Wie ich das, was mir widerfährt, erfahre, bzw. inwieweit ‚ich‘ für ‚mich‘ Erfahrenes – hier z.B. sexuelle Gewalterfahrungen – zum Angelpunkt der Klärung meiner gegenwärtigen Lebensprobleme mache bzw. inwieweit dies andere, Professionelle, für ‚mich‘ deutend tun, hat eine theoretische Dimension, in die Alltags- und wissenschaftliche Vorstellungen eingehen.

Dies hat die zentrale Implikation, daß das Authentische und das Theoretische in individueller Erfahrung keinen Gegensatz bilden, sondern eine widersprüchliche Einheit. Erfahrungen sind nur im Lichte von Theorien bzw. Urteilskriterien aufzuschlüsseln.

Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffen, bedeutet das Aufschlüsseln und Mitteilen der Unmittelbarkeit (der Erfahrung) an andere die Explikation ihrer wirklichen Vermitteltheit. Mit diesen Überlegungen sind die theoretischen und methodischen Probleme der Aufschlüsselung von Erfahrung natürlich nicht gelöst, sondern nur gestellt. Und: Das Methodenproblem dreht sich in diesem Sinne um das Problem der – intersubjektiven – Selbstverständigung über Erfahrungen.

Dabei bedeutet „Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ natürlich nicht Psychologie vom Standpunkt des jeweiligen Subjekts. Es geht vielmehr um eine Psychologie vom verallgemeinerten Subjektstandpunkt aus, das heißt um eine Psychologie im Begründungs- statt im Bedingtheitsdiskurs. Daß die jeweiligen Subjekte nicht beforscht werden, sondern auf der Seite der Forschung stehen, bedeutet natürlich auch nicht, daß die professionell Forschenden sich inhaltlich auf die Seite dieser jeweiligen Mitforschenden schlagen. Das ist formal ja schon dann ausgeschlossen, wenn es sich um mehrere, ggf. in Konflikt befindliche Mitforschende handelt. Daß die professionell Forschenden nicht einfach auf der Seite derjeweiligen Mitforschenden stehen können, ergibt sich aber auch aus der genannten Differenzierung von Erfahrung zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit und den damit verbundenen ideologiekritischen Überlegungen und aus dem praktischen Weltbezug der Subjekte, der für subjektwissenschaftliche Forschung konstitutiv ist – durchaus entsprechend der berühmten Marxsche Feuerbach-These, der gemäß es nicht nur drauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern: Spätestens dann, wenn es um praktische Konsequenzen aus Forschung / Analysen geht, gibt es ja Meinungsverschiedenheiten – auch eben zwischen Forschenden (ein Problem, das sich durch Rückzug der Forschung von praktischen Veränderung natürlich vermeiden läßt). Der für die Kritische Psychologie konstitutive Gedanke emanzipatorischer Veränderung schließt Kritik an Verhältnissen und Verhalten ein. Hier sind inhaltliche Kontroversen kaum zu vermeiden, jedenfalls dann nicht mehr, wenn praktische Forschung praktische Änderungen ins Auge faßt. Dieses Problem ist in unserem Konzept der Entwicklungsfigur genauer gefaßt, auf das ich ggf. in der Diskussion zurückkommen kann.

Wie ich vorhin sagte, haben im Begründungsdiskurs zu entwickelnde theoretische Zusammenhangsaussagen die Form von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen. Fallbezogen, wie sie sind, enthalten sie keine Feststellungen zu Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene. Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander „verrechnet“ werden. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge artikulieren vom Subjekt gestiftete Sinnzusammenhänge, sind Ausdruck subjektiv guter Gründe. Deswegen ist der Zusammenhang zwischen Handlungsprämissen, Lebensinteressen und Handlungsvorsätzen formal als implikativ zu verstehen und somit einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Wenn jemand unter denselben Prämissen einen anderen Handlungsvorsatz faßt, spricht das nicht gegen die Geltung des vorigen Zusammenhangs, sondern dafür, daß im zweiten eine andere Vorstellung subjektiver Vernünftigkeit vorliegt. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selber ab vom Gedanken der Subjektivität. Verallgemeinerungsmöglichkeiten liegen nicht in zentralen Tendenzen, sondern in der Herausarbeitung gesellschaftlich vermittelter Handlungsmöglichkeiten. Es kommt dabei darauf an, daß die subjektive Sinneinheit des Falles analytisch nicht verlorengeht.

Holzkamp hat nun an vielen Beispielen aus der Sozial- und Lernpsychologie an zahlreichen Beispielen nachgewiesen, daß sich in offiziell alsBedingungs-Ereignis-Konstellationen formulierten Hypothesen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge verbergen. Unter dieser Voraussetzung kann von einer kontingenten Beziehung zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente keine Rede mehr sein. Dies hat nun erstens methodisch zur Konsequenz, daß die Prüfung dieser Theorien ein Mißverständnis, pseudoempirisch, ist. Zweitens – und vielleicht noch wichtiger – zeigt sich daran, daß Annahmen über Handlungsgründe nicht in eine hermeneutische Exklave der Psychologie abgeschoben werden können, sondern wesentliche Konzeptionen und Theorien des psychologischen mainstream prägen, dessen Offizialdiskurs sich damit als theoretisch und methodologisch irrig erwiese.

Mit den hier vorgetragenen Überlegungen sind weniger Probleme gelöst, sondern eher auf eine, wie wir hoffen, produktive Weise gestellt.

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