Die Medikalisierung von Meinungen: verzerrtes Denken und der klinische gesunde Menschenverstand

Artikel von Diederik F. Janssen in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Diederik F. Janssen

Zusammenfassung

Der vorliegende Artikel enthält eine historische Bewertung und poststrukturalistische Kritik der Vorstellung von der kognitiven Verzerrungen, wie sie in forensisch-psychiatrischen Ansätzen auf Menschen angewendet wird, die Sexualstraftaten gegen Kinder begehen. Dargestellt werden ausgewählte Beobachtungen aus der diskursanalytischen Untersuchung von über 40 Artikeln (1984-2006) und 9 diagnostischen Instrumenten, die spezifisch die Kennzeichnung von Ideenbildung, die sich auf Kindesmissbrauch bezieht, als „gestört“ betreffen. Die Trope der Verzerrung, die verwendet wird, um therapieschädigende Rationalisierungen unangepassten Verhaltens zu bezeichnen, ist wissenschaftlich unfruchtbar und kann besser als Folge der Medikalisierung abweichender Meinungen verstanden werden. Die größte Gefahr eines routinisierten Verständnisses von Kognitionen als „verzerrt“ ist kulturelle Erstarrung: eine ungünstige Rigidität in der Interpretation, in der Verortung und im Umgang mit moralischen Dilemmata.

Summary: The Medicalization of Opinion: On Clouded Cognitions and Clinical Commonsense

This article provides an historical appraisal and poststructural critique of the notion of cognitive distortions as used in forensic psychiatric approaches to sexual offenders against children. Selected observations are offered that derive from an discourse analytic examination of over 40 articles (1984-2006) and 9 diagnostic scales that specifically inform the qualification of child sexual abuse related ideation as ‘distorted’. Trope of distortion, used to indicate countertherapeutic rationalizations of transgressive behavior, is not productive in a scientific sense and can better be identified as a corollary of the medicalization of abject opinion. The ultimate danger of any routinized conception of cognitions as ‘distorted,’ is cultural inertia: an unfortunate rigidity in interpreting, localizing and dealing with moral dilemmas.

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