Emanzipatorische Bewegungen: Ent-Unterwerfung denken und praktizieren

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011.

Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Annette Schlemm

Warum wehren sich ausgerechnet ausgegrenzte und verarmende Menschen so wenig gegen soziale Zumutungen? Warum fühlt sich das Engagement in linken Gruppierungen und Institutionen oder auch emanzipatorischen Bewegungen oft genau so schlecht an wie der Rest des Lebens in dieser Konkurrenzgesellschaft? Was können wir tun?

Wer jetzt die Weiterführung dieses Textes in Manier der psychologischen Ratgeberbücher erwartet, ist auf der falschen Fährte. Lange genug haben Linke versucht, auf die »stumme Masse« einzuwirken immer wieder neue Strategien der Einflussnahme zu entwickeln. Alle Überlegungen, die darauf hinauslaufen, wie wir »die Leute« besser verstehen können, oder alle Anstrengungen, die Anderen zum richtigen Verhalten zu bringen, hängen in einer Falle fest: Wir dünken uns in der »besseren Position« — und diese Position versetzt »die Anderen« in eine passive Rolle, in der sie nicht mehr als Subjekte ihres Lebens ernst genommen werden.

Eine Theorie für Menschen, nicht über Menschen

Eine wichtige Schlussfolgerung aus der Kritischen Psychologie ist die Orientierung darauf, andere Menschen nicht als Objekt unserer Einflussnahme zu behandeln, wenn wir Emanzipation als Ziel und Weg umsetzen wollen. Der Subjektstandpunkt, der sich grundlegend von einem »Außenstandpunkt« unterscheidet (vgl. S.7), macht den Unterschied aus zwischen einem emanzipatorischen Vorgehen und einem Vorgehen, das die Entmündigung der Menschen in der herrschenden Gesellschaft reproduziert.

Der Subjektstandpunkt ist deshalb nicht nur von Bedeutung für das wissenschaftliche Fachgebiet Psychologie, sondern er hat weitreichende gesellschaftstheoretische und praktische Folgen. Da individuelles Leben gesellschaftlich vermittelt ist, kann es keine von der Theorie der Gesellschaft getrennte Theorie des Individuums geben. Eine Theorie vom gesellschaftlichen Menschen hat die Aufgabe, die vielfach empfundene Kluft zwischen Praxen, in welchen Individuen ihr unmittelbares Leben und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen meistern, und der »großen Politik«, deren Reichweite die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse umfasst, zu durchdringen und sichtbar zu machen, dass die isolierte Privatexistenz ein hergestellter Schein der bürgerlichen Verhältnisse ist.

Aus der gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz folgt, dass es unangemessen ist, Menschen lediglich als Träger von Eigenschaften zu sehen. Biologisierungen, Psychologisierungen oder auch Personifizierungen kappen den Zusammenhang zwischen Menschen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen. Es geht nicht darum, Menschen zu problematisieren, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie sich in der konkreten Lebenslage zeigen. Die Umdeutung von problematischen Situationen zu problematischen Eigenschaften von Menschen (etwa »Egoismus«), lenkt die Lösungsenergie auf das falsche Betätigungsfeld. Im Gegenzug wäre es aber auch falsch, Menschen lediglich als Marionetten ihrer gesellschaftlichen »Prägungen« und Befolger gesellschaftlicher Gesetze und Zwänge zu betrachten. Dann werden sie von vornherein wesentlicher menschlicher Charakteristika beschnitten.

Menschliche Subjektivität hängt eng damit zusammen, dass menschliche Individuen »natürlich gesellschaftlich« sind, dass also ihre »Natur« darin besteht, gesellschaftlich vermittelt zu leben. Durch die Gesellschaftlichkeit entsteht ein spezifischer Möglichkeitsraum: Was für das Ganze notwendig ist, hat für den Einzelnen nur Möglichkeitscharakter. Dabei geht es nicht nur um »Möglichkeiten 1. Ordnung«, also die Möglichkeiten, die sich innerhalb vorgegebener Bedingungen, gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse bieten — sondern es geht auch um die »Möglichkeit 2. Ordnung«: das Verändern der Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Menschen sind Subjekte, insofern »sie sich selbst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß ihren Lebensinteressen erfahren können« (Holzkamp 1983b: 139). Unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen »die Masse der Individuen von der kollektiven Verfügung über ihre Lebensbedingungen ausgeschlossen und auf ihr privates, individuelles Dasein zurückgeworfen ist« (Holzkamp 1980: 212, kursiv A.S.), haben die Individuen zwei mögliche Handlungsausrichtungen: Die eine weist in Richtung einer »gemeinsame[n] Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten« (Holzkamp 1983a: 2) — also in Richtung der Möglichkeit 2. Ordnung, die andere in Richtung eines individuell begründeten Verzichts auf diese Erweiterung, des Sich-Einrichtens in den Möglichkeiten 1. Ordnung. Diese beiden Richtungen — verallgemeinerte und restriktive Handlungsfähigkeit (vgl. S.7) — sind kein äußerer Bewertungsmaßstab, sondern können jedem Individuum dabei helfen, die eigenen Gründe besser zu verstehen und bewusster zu entscheiden.

Menschliches Verhalten ist begründet, nicht nur bedingt

Menschliches Verhalten ist keine marionettenhafte Reaktion auf beherrschende gesellschaftliche Strukturen, sondern Menschen handeln begründet in bzw. gegen diese Strukturen. Dabei sind diese Handlungsgründe die »Scharniere« zwischen den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen wie je ich sie in meiner Lebenslage erfahre und dem individuellen Handeln. Menschliches Verhalten ist nicht in Form von »Bedingungs-Ereignis-Zusammenhängen« zu diskutieren, sondern als »Prämissen-Begründungs-Zusammenhänge« (vgl. Holzkamp 1983a: 352). Prämissen sind dabei jene durch die gesellschaftlichen Bedingungen gegebenen Handlungsmöglichkeiten, die angesichts je meiner gerade vorliegenden Problematik und der vorhandenen konkreten Interessen wichtig werden.

Das Ernstnehmen der jeweils individuellen Prämissen und subjektiven Gründe macht emanzipatorisches Denken und Handeln komplexer als oft angenommen. Es kann nicht darum gehen, »unter welchen Bedingungen« die Menschen vielleicht besser für ihre Rechte kämpfen würden, es kann erst recht nicht darum gehen, ihnen wohlwollend und bevormundend diese Bedingungen stellvertretend zu schaffen. Bedingungen für die Selbstbestimmung können nicht fremdgesetzt werden. Dasselbe gilt auch für vorgegebene Ziele, z.B. in der Bildungsarbeit: »Solange sie Teil einer fremdgesetzten Anordnung […] sind, können sie Probleme der Selbstbestimmung für die Teilnehmenden darstellen« (Kaindl 2009: 144). Jedes Vorgehen, dass von vornherein primär die »Einflussnahme auf Andere« anstrebt, entmächtigt und entsubjektiviert diese Anderen.

Intersubjektivität der wechselseitigen Selbstentfaltung

Es soll hier nicht um moralische Anforderungen gehen, die zu erfüllen sind, sondern darum, welche Vorgehensweisen dem Ziel der Emanzipation dienlich sind oder ihm widersprechen. Fremdbestimmung verhindert Selbstbestimmung. Das gegenseitige Aufeinanderhetzen verhindert kooperative Beziehungen, und wenn man andere Menschen instrumentalisiert, braucht man sich nicht zu wundern, wenn alles nur mit Druck oder gar nicht läuft. Im Einführungsbeitrag (S.7) wurde bereits der Unterschied zwischen Instrumentalbeziehungen und Subjektbeziehungen erläutert. Subjektbeziehungen basieren weniger auf gutem Willen oder angeeigneten Kommunikationstechniken, sondern sie müssen bereits die Vorformen derjenigen gesellschaftlichen Praxis bestimmen, die als Ziel auch die künftigen Gesellschaftsformen konstituieren soll: Die eigenen Freiheitsräume wachsen nicht mehr auf Kosten der Freiheitsräume anderer, sondern die jeweils individuelle Selbstentfaltung bezieht ihre Kraft aus der Selbstentfaltung der Anderen und stärkt wiederum diese. In einer Zukunftswerkstatt mit dem Thema »Ums Menschsein geht es« erarbeiteten die Teilnehmenden als abschließende konkrete Utopie den Satz: »Ich bin selbst ein Puzzle/Teil des Ganzen, ich kann und möchte meinen Platz finden; ich kann ein gutes Teil weitergeben und mich selbst komplettieren«.

Die Kunst der Ent-Unterwerfung

Es gibt eine alte anarchistische Regel: Die Mittel dürfen dem Ziel nicht widersprechen! In unserem Fall muss erst noch begründet werden, warum es erforderlich ist, in den eigenen Bewegungen und Strukturen intersubjektive Beziehungen zu pflegen und Instrumentalisierungen kenntlich zu machen und so weit wie möglich zu verhindern. Wäre es nicht doch sinnvoll, für die »große Politik« primär in Kategorien des Gegeneinander, des konsequenten Kampfes gegen Unrecht und Ausbeutung usw., die Stärkung durch Geschlossenheit der eigenen Reihen anzustreben, um machtvoll und erfolgreich zu werden?

Welche Macht und welchen Erfolg kann man dann aber erwarten? Die historische Erfahrung zeigt: Manche Mittel machen das angestrebte Ziel zunichte, und Menschen zu instrumentalisieren und sich instrumentalisieren zu lassen, bringt keine Emanzipation in die Welt. Ich kann unter Umständen gute Gründe haben, mir selbst das Hintergehen meiner Absichten nicht einzugestehen. Wenn ich monatelang bei den wöchentlichen Montagsdemos von denen, für die ich mich einsetze, vom Eiscafé nebenan nur genervt angeglotzt werde; wenn die Leute nur müde aus dem Fenster linsen, während wir uns bei der Antifademo den Hintern abfrieren… — dann kommen die Fragen hoch: »Was ist nur mit diesen Leuten los? Wie bekommen wir sie auch dazu, dass…?«

Wir bekommen sie mit Sicherheit nicht dazu, wenn wir sie zu etwas bekommen wollen. Fremdbestimmung konterkariert das gute Ziel. Wenn wir uns nicht auf unsere und ihre Gründe einlassen, werden wir trotz aller Bemühungen nicht viel erreichen. Wenn wir also auf diesem Weg nicht weiter kommen, und vielleicht sogar verstehen, dass wir uns durch das Ausschalten ihrer Subjektivität selbst die Beine gestellt haben, können wir auch beginnen, es anders zu versuchen: Es geht darum, die jeweils individuellen Gründe für politisches Handeln ernst zu nehmen. Das heißt noch lange nicht, alle Begründungen zu akzeptieren und hinzunehmen, aber es bietet die Chance, mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten und die Gesellschaft zu verändern, statt letztlich gegen sie.

Wie können wir, ausgehend von der Anerkennung des Begründetseins von menschlichem Handeln, unser Vorgehen erfolgreicher gestalten? Wichtig ist es, jeweils von konkreten Lebensproblemen auszugehen. Die Art und Weise, wie Menschen versuchen, ihr Leben zu realisieren, wird unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen letztlich widersprüchlich sein. Wenn ich ständig um meinen Arbeitsplatz bangen und mich dafür abstrampeln muss, fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass andere auch ohne diese Anstrengung gut leben dürfen. Aber auch mir selbst spreche ich damit diese viel angenehmere Möglichkeit ab. Wenn ich Erfolg in der politischen Arbeit will und mich dabei über die Interessen anderer hinwegsetze, dann schade ich meinem eigentlichen Ziel.

Dann kann es schmerzhaft sein, diese Selbstbehinderungen auch noch zu erkennen — Verdrängung liegt nahe. Wenn ich Glück habe, befinde ich mich unter Menschen, mit denen wir gemeinsam über solche Erfahrungen sprechen können und unter denen es üblich ist, diese Probleme nicht in Form von »Schuldzuweisungen« zu diskutieren, sondern bei denen darüber nachgedacht wird, in welcher Lebenslage ich mich befinde und was für mich Prämissen sind, von denen ausgehend ich meine Entscheidungen getroffen habe. Vielleicht finden wir dann gemeinsam andere Möglichkeiten, das entsprechende Problem zu bewältigen.

»Es wird ein Lachen sein, das Euch besiegt…«

Die große Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen hat ihren Grund nicht primär im Bedürfnis nach einer »Wärmestube«, sondern sie will einen wichtigen Kraftquell für politische Kämpfe speisen. Subjektbeziehungen sind selbst »Kampfbeziehungen gegen Unterdrückung, damit für ihre volle Verallgemeinerbarkeit« (Holzkamp 1979: 14). Ohne Subjektbeziehungen wird das Ziel der Emanzipation in Frage gestellt. Neben der Strategie, Dämme zu bauen gegen die Angriffe und die Zumutungen gegen unsere Lebensinteressen, besteht der dynamischere Teil des Kampfs für neue gesellschaftliche Verhältnisse (oder auch das Erträglichhalten der alten, solange notwendig) darin, bereits im Vorhandenen neue Lebensprinzipien in die Welt zu setzen. Wir bauen damit Schiffe, die uns in eine neue Welt befördern, als Elemente der neuen Welt innerhalb der alten, wie es Marx forderte (Marx MEW 4/Man: 480). Weder beim Dämme- noch beim Schiffebauen kommen wir weit, wenn wir untereinander oder mit anderen Menschen so umgehen, wie es in der alten Welt gang und gäbe ist, nämlich instrumentalisierend und Schuldvorwürfe zuweisend.

Auch im Kampf ist das mitreißende Argument das Erleben einer anderen, befreienden Umgangsweise miteinander. Nicht umsonst bestehen die jahrzehntelangen Kämpfe gegen die Castor-Transporte im Wendland weder aus einer ewigen Trauerfeier noch einem Wutgeheul, sondern Witz und Bauernschläue vereinigen sich mit Emma Goldmanns Prinzip: »Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution«.

Literatur

Holzkamp, Klaus (1979): Zur kritisch-psychologischen Theorie der Subjektivität II: Das Verhältnis individueller Subjekte zu gesellschaftlichen Subjekten und die frühkindliche Genese der Subjektivität. In: Forum Kritische Psychologie 5 (1979): Argument Sonderband 41, Argument-Verlag. S. 7-46. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1979b.html.

Holzkamp, Klaus (1980): Individuum und Organisation. Vortrag, gehalten auf der »Volksuniversität«, West-Berlin, Pfingsten 1980. Veröffentlicht als »Werkstattpapier« in: Forum Kritische Psychologie 7 (1980): Probleme kritisch-psychologisch fundierter therapeutischer Arbeit, Argument Sonderband 59, Argument-Verlag, S. 208-225. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1980a.html.

Holzkamp, Klaus (1983a): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main, New York 1985

Holzkamp, Klaus (1983b): Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen? Oder: Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 136-155.

Kaindl, Christina (2009): Über die Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für Andere zu setzen. Anregung eines kritisch-psychologischen Lernbegriffs für linke Bildungsprozesse. In: Janne Mende, Stefan Müller (Hrsg.): Emanzipation in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2009, S. 135-154.

Osterkamp, Ute (2001): Lebensführung als Problematik von Subjektwissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 43, S. 4-35

Osterkamp, Ute (2003): Kritische Psychologie als Wissenschaft der Ent-Unterwerfung. Journal für Psychologie 11,2 (2003), 176-193.


Kasten: Begriff der Emanzipation

Ohne die Vielfalt der in CONTRASTE vertretenen Bewegungen und Gruppierungen zu schmälern, kann man ihr Anliegen wohl ganz allgemein als eines der Emanzipation von ausbeuterischen, unterdrückerischen und entmündigenden Verhältnissen und Beziehungen verstehen. Der Inhalt der Kategorie »Emanzipation« unterlag, wenn man Wikipedia folgt, einer Bedeutungsverschiebung. Ging es früher um eine Gewährung von Selbstständigkeit, so geht es heute um Selbstbefreiung. Dieser Wandel ist in der politischen Praxis oft noch nicht angekommen; wohlwollende Bevormundung oder auch abwertende Personalisierungen bestärken die häufig vorkommende Praxis von Entmündigung und Entsubjektivierung. Ein Konzept, das als Subjektwissenschaft entstanden ist, kann Aktiven im weiten Feld der Emanzipation hilfreiche Gedankenformen für die notwendige Umorientierung von der »Gewährung der Freiheit« zur »Selbstbefreiung« bieten.

 

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Online-Publikationen und getaggt als . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.