„Lernen“ – erklärungsmächtiges Konzept oder leeres Versprechen der Psychologie?

Artikel von Wolfgang Maiers in Forum Kritische Psychologie 57 (2013).

Download: FKP_57_Wolfgang_Maiers

Zusammenfassung

Obwohl die Lernpsychologie für Jahrzehnte die psychologische Forschung dominierte, steht ein tieferes Verständnis dessen, wie Menschen in den unterschiedlichsten Bezügen ihres praktischen Verhältnisses zur gesellschaftlichen und natürlichen Wirklichkeit lernen, aus. Ungeachtet aller Grundsatzkritiken präsentieren aktuelle Lehrbücher der (Allgemeinen) Psychologie die immergleichen lerntheoretischen Paradigmen: Klassisches und Operantes Konditionieren einschließlich geläufiger „kognitiver Erweiterungen“ sowie Beobachtungslernen (Modellernen). An einer fehlenden Bedeutung des Lernbegriffs kann diese Indifferenz nicht liegen, da die Psychologie ihn weiterhin als zentrales explikatives Konstrukt heranzieht. Dies ist indes problematisch, solange die stillschweigende Voraussetzung, dass wenige universelle Lernprinzipien phänomenübergreifend wirksam sind, nicht begründet wird. Eine Durchsicht einschlägiger Entwicklungspsychologie-Lehrbücher zeigt nun, dass abgesehen von einer globalen Verweisung auf die o.g. lerntheoretischen Ansätze, sich in der Darstellung von Entwicklungen sowohl in einzelnen Lebensabschnitten als auch in speziellen psychischen Funktionsbereichen tatsächlich keine spezifizierten lerntheoretischen Erklärungsversuche finden. Demgegenüber demonstriert Sprachentwicklung exemplarisch einen vielstufigen Veränderungsprozess, der thematisch unterschiedliche Lernproblematiken aufwirft, bei deren Bewältigung verschiedenartige, in den herkömmlichen Ansätzen nicht oder nur partiell abgebildete, operative Lernprinzipien ins Spiel kommen. Nur vereinzelt wird hierin ein Forschungsdesiderat erkannt. Die fatale Konsequenz für die Praxis lässt sich z.B. bei der frühkindlichen Bildung zeigen: Alle für die Curricula der neuen akademischen ErzieherInnenausbildung in Deutschland maßgeblichen Bildungsprogramme zeigen einen Paradigmenwechsel an, indem sie in Absage an klassische Instruktionsparadigmen und deren Lehr-Lern-Kurzschluss kindliche Entwicklung als „Selbst-Bildungs-“ bzw. „Ko-Konstruktionsprozess“ beschreiben und damit auf eine „Akteursperspektive“ vom Standpunkt des Kindes fokussieren. Dieser Standpunktwechsel verbleibt aber auf der Ebene einer vagen Programmatik, weil das konzeptionelle Pendant der Psychologie – „Lernen“ – nirgends konkretisiert wird. Der neue Orientierungsrahmen büßt damit erheblich in seiner Leitfunktion für praktische Innovationen ein.

Sumary: “Learning” – powerful explanatory concept or empty promise of psychology?

Although learning psychology has long formed a central research domain, a deeper understanding of learning in our manifold life practice is still missing. Current handbooks of psychology keep presenting the everlasting store of learning theoretical paradigms despite abundant criticism of their validity: “classical” and “operant conditioning” (admittedly with some “cognitivist” amendments) plus “observational learning”. Such indifference does not follow a loss of significance of “learning” since psychology continues to draw on the explanatory power of this concept. This recourse is doubtful however if the tacit presupposition that universal laws of learning cover the heterogeneity of developmental phenomena is not explicitly justified. On checking relevant publications of developmental psychology both conditions can be shown as given: Beyond a general reference to the above-mentioned theoretical approaches, no specified learning theoretical explanations are found in the representation of the ontogenesis of particular mental functions. This is exemplified by the multi-layered transition processes of language acquisition: Coping with the various thematic learning problems that are raised in this connection, involves different kinds of operative learning principles, which are, at best, partially matched in traditional approaches. This is rarely noticed as a research requirement. The fatal practical consequence can be demonstrated in early childhood education: Recent German curricula for the academic professionalisation indicate a paradigmatic shift in their rejection of an “instructionist short circuit” between learning and teaching, which has hitherto informed customary professional practice in this field. In contrast to this, child development is described as a “co-constructive” process of “self-education”, thus focusing on the child’s own “actor perspective”. The programmatic level is, however, not really exceeded, since the psychological conceptual counterpart – viz. “learning” – is nowhere put in concrete terms. The new frame consequently loses much of its power as a guideline for practical innovation.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Online-Publikationen und getaggt als , . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.