Bericht über die Konferenz „Praxis der Kritischen Psychologie in Deutschland und der Türkei“, 23.-25. März 2018, Berlin

Veröffentlicht in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis (VPP), Jg. 50 (2015), Heft 2.

Michael Zander

Internationaler Austausch ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von Wissenschaften; dies gilt umso mehr, wenn wissenschaftliche Betätigung durch politische Umstände beeinträchtigt wird. Die zunehmend autoritären und antidemokratischen Tendenzen in der Türkei, aber auch die sich verschärfende deutsche Abschottungspolitik zeitigten zum Teil negative Folgen für den Verlauf der Konferenz „Praxis der Kritischen Psychologie in Deutschland und der Türkei“, die vom 23. bis 25. März 2018 in den Räumen der Rosa-Luxemburg Stiftung in Berlin stattfand. Eingeladen hatten die Organisationen die Association of Psychologists for Social Solidarity (TODAP) aus der Türkei und die Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis (GSFP) aus der Bundesrepublik. Politisch beeinträchtigt wurde die Konferenz durch das Agieren der türkischen und der deutschen Behörden, die einigen Kolleginnen und Kollegen die Ausreise respektive die Einreise verweigerten.

Die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung der in türkischer, englischer und deutscher Sprache abgehaltenen Konferenz war geprägt durch gemeinsame Ansichten und Ziele von TODAP und der GSFP. TODAP versteht „social solidarity as indispensable for a world livable for everyone and for an integrated occupational knowledge and practice. While engaging in solidarity with the oppressed people in the society, the psychologists do not only narrowly aim social solidarity but they also strive to generate an evolving and transforming profession.“[1]  Die GSFP kritisiert jede Psychologie, sofern sie„zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Weltanschauung führt.“ In diesem Sinne analysiert die GSFP die „praktische Arbeit in der psychosozialen Versorgung“ und entwickelt „Konzepte für eine Arbeit im Interesse der Betroffenen“.[2]

Der erste Tag der Konferenz war als interner Workshop konzipiert, zu dem die etwa 80 teilnehmenden Mitglieder von TODAP und GSFP eingeladen waren. Der relativ kleine Rahmen sollte das Kennenlernen erleichtern und gemeinsame Praxisanalysen ermöglichen. Zunächst stellten Ebru Ergün aus der Türkei und Christian Küpper ihre jeweiligen Organisationen vor. Während es sich bei TODAP um einen Berufsverband handelt, der wissenschaftlich eine Bandbreite von Ansätzen und Positionen vertreten, die international unter dem Sammelbegriff „critical psychology“ bekannt sind, versteht sich die GSFP als Fachgesellschaft der Kritischen Psychologie, wie sie ab den 1970er Jahren, beeinflusst durch die Studierendenbewegung, vor allem von einer Arbeitsgruppe um Klaus Holzkamp (1927-1995), Professor für Psychologie an der FU Berlin, entwickelt wurde.

Auf die Einführungsvorträge folgten parallel ein deutsch-türkischer und ein englischsprachiger Strang von Veranstaltungen. Michael Zander stellte Theorie und Methode kritisch-psychologischer Praxisforschung im Sinne kollegialer Beratung vor. Katrin Reimer-Gordinskaya berichtete über ihr aktuelles Forschungsprojekt zum Umgang mit Machtverhältnissen in Kindertagesstätten. Selim Cillov, Can Önalan und Axel Gehring analysierten in ihren Beiträgen die aktuelle politische Situation in der Türkei und deren Folgen für die psychologische Praxis.

Der Nachmittag war den gemeinsamen Praxisanalysen gewidmet. Diese bestanden im Wesentlichen darin, dass Projekte vorgestellt, zentrale Probleme der Praxis herausgearbeitet und gemeinsam Lösungsvorschläge generiert wurden. Gegenstand der Analysen waren das Psychosoziale Solidaritätsnetzwerk Ankara (Banu Bülbül), das psychiatriekritische „Weglaufhaus“ in Berlin (Christian Küpper), das antirassistische und gegen Diskriminierung gerichtete Erziehungsprojekt „Me and others“ (Ayten Deniz Tepeli, Can Önalan) und Jugendarbeit in Berlin und Wien (Sertan Batur, Grete Erckmann). Die Abendvorträge des Round Table von Aysel Gürel, Sertan Batur und Athanasios Marvakis widmeten sich der sozialen Stellung von Psychologinnen und Psychologen sowie der in der Türkei relativ jungen Disziplin Psychologie vor dem Hintergrund einer zunehmend neoliberalen Entwicklung.

Am folgenden Tag wurde die Konferenz für ein größeres Publikum geöffnet. Das Interesse im Vorfeld war groß, allerdings musste die Zahl der Teilnehmenden auf die für den Veranstaltungsort – den „Münzenbergsaal“ im „ND-Gebäude“, maximal vorgesehene Zahl von 250 Personen begrenzt werden. Morgens sprach Melek Göregenli über „Psychologische Forschung und Praxis aus einer kritischen Perspektive“. Die Wissenschaftlerin konnte nicht persönlich teilnehmen, sondern musste per Videokonferenz zugeschaltet werden ihr war von den türkischen Behörden der Pass entzogen worden Als eine der Erstunterzeichnerinnen der Friedenspetition im Januar 2016, hat sie ihre Stelle an der Universität in Izmir verloren und darf die Türkei nicht mehr verlassen. Umut ?ah zeichnete die historische Genese der Psychologie in der Türkei nach und betonte hierbei insbesondere die Beiträge deutscher Psychologen. Morus Markard sprach über das Verhältnis von Theorie und Praxis, wie es in der Kritischen Psychologie diskutiert wird.

Ein anschließender Veranstaltungsstrang galt dem erstarkenden Rechtstrend in beiden Ländern. Es ging um ein qualitativ-partizipatives Forschungsprojekt zu den Motiven der Wahl der AfD (Katrin Reimer-Gordinskaya), Hasskommentare in rechten Medien (Olga Hünler), die Gewalterfahrungen der Opfer rechter Übergriffe (Gesa Köbberling) und psychosoziale Unterstützung für Überlebende der Bombenanschläge von Suruc und Ankara (Özgür Yurtsever). Ipek Depirok berichtete von ihrer Befragung der Witwen von Opfern der Katastrophe, die sich in einer privatisierten Mine in Soma ereignet hatte. Die Referentin schilderte die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Verlust des Partners, etwa die Zuflucht zu dem in der Türkei verbreiteten Schicksalsglauben; andere Hinterbliebene würden aktiv, machten die Regierung und die Eigentümer verantwortlich für Sicherheitsmängel im Bergbau und sprächen nicht von einem „Arbeitsunfall“, sondern von einem „Arbeitsmord“. Maria Hummel stellte die Arbeit der sogenannten Medibüros vor, die medizinische Hilfe für undokumentierte Immigrantinnen und Immigranten organisieren. Hummel erläuterte die Notwendigkeit und Dringlichkeit solcher Hilfen. Für Berlin hob sie hervor, dass die Politik die Arbeit toleriert und teilweise sogar gutheißt, aber wenig bis nichts dazu beiträgt, dass anstelle der ehrenamtlichen Medibüros eine nachhaltige Lösung für das Problem zugunsten der Betroffenen gefunden wird. Buket Kara sprach über Forschungen in Kriegsgebieten, die, ungeachtet aller Widersprüche und Probleme, notwendig sein kann, um die psychischen Folgen kriegerischer Gewalt zu zeigen. Öznur Acicbe berichtete von einem Forschungsprojekt in den palästinensischen Gebieten. Anlass waren Messerangriffe gegen israelische Soldaten, bei dem zahlreiche palästinensische Jugendliche erschossen und verletzt wurden. Was vordergründig wie eine Suizidwelle unter der Jugend aussah, konnte auch als der problematische und verzweifelte Versuch gewertet werden, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen unter den äußerst repressiven und wirtschaftlich hoffnungslosen Bedingungen der israelischen Besatzung und Blockade.

Aylin Ülkümen referierte die Ergebnisse ihrer Untersuchungen; sie hatte Frauen interviewt, die von ihren Partnern misshandelt worden waren und einen widersprüchlichen Prozess der Trennung und des Empowerments durchmachten. Ariane Brenssell und Luise Meier erläuterten ihre bundesweite partizipative Forschung mit den Nutzerinnen von Beratungsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt. Während die Befragten Diagnosen eher als etikettierend ablehnten, betonte Boris Friele die Notwendigkeit einer umsichtigen Diagnosestellung in seiner Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten, nicht zuletzt, da die Diagnostik über den weiteren Lebensweg der Betroffenen entscheidet. Um die Erfahrungen traumatisierter Geflüchteter in beiden Ländern ging es in den Referaten von Anna-Maria Thöle, Yusuf Öntas und Silvia Schriefers. Thöle legte den Fokus auf rassistische Denkweisen über traumatisierte Geflüchtete als „problematische Andere“. Öntas berichtete über Probleme und Grenzen der psychosozialen Unterstützung für syrischer Flüchtlinge internationaler NGOs in der Türkei und Schriefers stellte die Konzepte der kontextualisierten Traumaarbeit in den bundesweiten psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer vor.

Im Rahmen einer Abendvorlesung sprach der Philosoph Wolfgang Fritz Haug über die Feuerbach-Thesen von Karl Marx, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Eindrucksvoll erläuterte Haug den Inhalt der Thesen und zeichnete die Rezeption der Thesen durch Antonio Labriola, Antonio Gramsci und Ernst Bloch nach. Die Verbindung zur Kritischen Psychologie Klaus Holzkamps konnte wegen Zeitknappheit nur angerissen werden.

Den folgenden Tag eröffnete Baran Gürsel mit einem Grundsatzreferat über das Verhältnis von Psychoanalyse und Marxismus. Es folgte ein Panel zur sogenannten kurdischen Frage. Deniz Akyil erläuterte die psychischen Folgen des Verbots der kurdischen Sprache insbesondere für kurdische Kinder und verdeutlichte die daraus entstehende Benachteiligung am Beispiel von Intelligenzdiagnostik. Melis Ulu? war aus den USA zugeschaltet. Sie erläuterte ihre Befragung verschiedener Bevölkerungsgruppen und von Mitgliedern diverser Parteien zur Einschätzung und möglichen Lösungen des türkisch-kurdischen Konflikts. Ilham Yilmaz, ein Psychotherapeut, dessen Visum abgelehnt wurde, schilderte in einer Videobotschaft die tendenzielle Unmöglichkeit von Traumatherapie in einer Situation, in der die türkische Armee seine kurdische Heimatstadt angreift, und machte dennoch Vorschläge für eine politische und historische Zusammenhänge einbeziehende Trauerarbeit. Eine Referentin kritisierte die Veranstalterinnen, die einen anderen Referenten nicht eingeladen hatten bzw. wieder ausgeladen hatten, weil sie die Anwesenheit des Aktivisten als potenzielles Risiko für andere Teilnehmende eingeschätzt hatten; im Zuge der Diskussion wurden auf dem Podium und im Publikum unterschiedliche Positionen deutlich. Mitglieder der Vorbereitungsgruppe entschuldigten sich für ihr Vorgehen, machten aber auch ihr Dilemma und ihre Verantwortung für die Sicherheit aller Teilnehmenden deutlich.

Eser Sandikci sprach auf dem letzten Panel – unter anderem mit Bezug auf Arbeiten des Soziologen Richard Sennett – über Begriff und Praxis der Arbeit in der Psychologie. Leonie Knebel legte ihre Konzeption einer Psychotherapie mit emanzipatorischem Anspruch dar, zu der insbesondere die angemessene Berücksichtigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen gehören. Knebel erörterte die Schwächen, aber auch die Vorzüge der integrativen Verhaltenstherapie für ein solches Projekt.

Im Rahmen der Abschlussveranstaltung reflektierten die Teilnehmenden über die Erträge der Konferenz, die einhellig als Erfolg eingeschätzt wurde. Während es vor allem in theoretischen Fragen weiteren Diskussionsbedarf gab, wurden in den praktischen und empirischen Projekten gemeinsame Perspektiven und künftige Kooperationsmöglichkeiten deutlich. Vereinbart wurde die Teilnahme von GSFP-Delegierten an dem TODAP-Symposium, die für Oktober 2018 in Izmir geplant ist; umgekehrt werden TODAP-Kolleginnen an der Ferienuni Kritische Psychologie im September 2018 in Berlin teilnehmen. Geplant ist ferner die wechselseitige Übersetzung und Publikation von Fachartikeln für die jeweilige verbandsnahe Zeitschrift, um einen inhaltlichen Austausch auch langfristig vertiefen zu können.

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