Eine kritisch-psychologische Reinterpretation des »falschen Selbst« nach Winnicott
Artikel von Amal Sarhan in Forum Kritische Psychologie Neue Folge 5 (2023).
Verfügbar über: https://doi.org/10.58123/aliceopen-695-7
Zusammenfassung
Das psychoanalytische Konzept des »falschen Selbst« nach Winnicott (1960/2002a) verweist auf Tendenzen der Anpassung und Gefügigkeit, die ab dem Säuglingsalter bestehen können und mit einem Mangel an Spontaneität einhergehen. Zwar betont Winnicott die Bedeutung eines empathischen Beziehungsaufbaus zwischen Eltern und Kind, doch durch seinen primären Fokus auf die Verantwortung von Müttern vernachlässigt er gesellschaftliche Bedingungen und deren Relevanz für subjektive Prozesse. Unter Rückgriff auf die kritisch-psychologischen Kategorien der (kindlichen) Handlungsfähigkeit und der subjektiven Funktionalität werden im vorliegenden Aufsatz alternative Möglichkeiten der Interpretation von Anpassungstendenzen erarbeitet. Die Analyse von historisch überlieferten Sichtweisen auf Mütter in Psychoanalyse und Gesellschaft offenbart, dass der Geltungsbereich von Winnicotts Konzept auf Verhältnisse einzugrenzen ist, in denen traditionell-bürgerliche Norm- und Wertvorstellungen vorherrschen. Die Untersuchung zeigt, dass die Förderung von kindlicher Spontaneität nicht allein über nahestehende Bezugspersonen gelingen kann, sondern ebenfalls gesellschaftspolitische Veränderungen erfordert.
Abstract
Winnicott’s (1960/2002a) psychoanalytic concept of the false self refers to tendencies of conformity and compliance that potentially exist from early infancy onward and are associated with a lack of spontaneity. While Winnicott does point to the importance of empathic involvement with the child, the primary focus on maternal responsibility ignores societal conditions and their relevance for subjective processes. With recourse to the critical-psychological categories of (child) agency and subjective functionality, alternative interpretations of adaptation tendencies are elaborated. The analysis of historically transmitted views of mothers in psychoanalysis and society reveals that the scope of application of Winnicott’s concept is to be limited to conditions in which traditional-bourgeois notions of norms and values prevail. The study shows that the promotion of infantile spontaneity cannot be achieved solely through close caregivers, but it also needs socio-political changes.