Erkenntnis, Emotionalität, Handlungsfähigkeit

Artikel von Ute Osterkamp in Forum Kritische Psychologie 3 (1978).

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Nachfolgend Auszüge (Kap. 8-10., S. 58-87 – ist im obigen PDF enthalten), in denen es spezieller um psychische Störungen und Ansätze zu einer kritisch-psychologischen Therapiekonzeption geht. Download (PDF, 483 KB): uo1978b.pdf


Ute Holzkamp-Osterkamp

8. Das „Menschenbild“ der bürgerlichen Theorien: Sich-Einrichten in unbeeinflußbaren Lebensbedingungen als „Normalverhalten“. Die „Normalität“ der Anpassung als Vorform psychischer Störungen

Das früher herausgehobene Desinteresse aller geschilderten Versionen funktionalistischer Theorien an der Entwicklung und dem Wohlergehen des Subjekts läßt sich noch schärfer aufweisen, wenn man sich klar macht, daß die in diesen Theorien implizit vorausgesetzte oder explizit geforderte Anpassung der Individuen an von ihnen unbeeinflußbare Lebensbedingungen und dahinterstehende Machtverhältnisse eigentlich eine Vorform psychischer Gestörtheit darstellt, was jetzt näher ausgeführt werden soll.

Die mangelnde Einflußmöglichkeit auf die relevanten Lebensbedingungen und damit die allgemeine Rückbezogenheit des individuellen Strebens auf die private Existenzsicherung über die Erhaltung „guter Beziehungen“ zu den relevanten Kräften und Instanzen als Ausdruck der Fremdbestimmtheit bei Verschleierung der objektiven Interessengegensätze bilden wie schon angedeutet – die objektive und subjektive Voraussetzung des opportunistischen, d.h. zur Sicherung des kurzfristig-individuellen Vorteils an den jeweils aktuellen Gegebenheiten ausgerichteten Verhaltens.

Der Opportunismus als politische Kategorie ist in besonderem Maße kennzeichnend für das zwischen den großen Klassen Lohnarbeit und Kapital stehende Kleinbürgertum bzw. eine der kleinbürgerlichen Existenz entsprechende Bewußtseinsform. Die Situation der Kleinbürger, durch welche sich diese spezifischen Lebensbedingungen unmittelbar realisieren, ist dadurch charakterisiert, daß sie, wie Engels schreibt, „hoffen, in das Großbürgertum sich emporzuschwingen“ und „fürchten, ins Proletariat hinabgestoßen zu werden“. „Zwischen Furcht und Hoffnung werden sie während des Kampfes ihre werte Haut salvieren und nach dem Kampf sich dem Sieger anschließen. Das ist ihre Natur“ (MEW 16, 398).

„In einer fortgeschrittenen Gesellschaft und durch den Zwang seiner Lage wird der Kleinbürger“, wie Marx ausführt, „einerseits Sozialist, andernteils Ökonom, d.h. er ist geblendet von der Herrlichkeit der großen Bourgeoisie und hat Mitgefühl für das Leiden des Volkes. Er ist Bourgeois und Volk zugleich. Im innersten seines Gewissens schmeichelt er sich, unparteiisch zu sein … Ein solcher Kleinbürger vergöttlicht den Widerspruch, weil der Widerspruch der Kein seines Wesens ist. Er selbst ist bloß der soziale Widerspruch in Aktion. Er muß durch seine Theorie rechtfertigen, was er in Praxis ist“ (16, 30/31).

Der Kleinbürger wird nach Marx „beständig zwischen dem Kapital und der Arbeit, zwischen der politischen Ökonomie und dem Kommunismus hin- und hergeworfen“(MEW 16, 29). Er ist „zusammengesetzt aus einerseits und andrerseits. So in seinen ökonomischen Interessen und in seiner Politik, seinen religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Anschauungen. So in seiner Moral, so in everything. Er ist der lebendige Widerspruch … Wissenschaftlicher Scharlatanismus und politische Akkomodation sind von solchem Standpunkt unzertrennlich“ (MEW 16, 31/32).

„Kleinbürgerliches“ Bewußtsein ist dabei nicht beschränkt auf Individuen in der ökonomischen Situation des eigentlichen Kleinbürgers als „Selbständigem“, sondern tritt in der einen oder anderen Form auch überall dort als blinde Reproduktion der Klassenlage im Bewußtsein auf, wo Individuen einerseits abhängig von der Kapitalmacht sind, andererseits aber durch eine bevorzugte, besonders privilegierte, „leitende“, scheinhaft am „Gemeinwohl“ orientierte Stellung etc. sich von den Interessen des Kapitals wie denen des Proletariats in gewisser Hinsicht „distanzieren“ zu können meinen und durch Lavieren zwischen den Klassen ihre Absicherung und ihren Vorteil suchen (ich kann hier nicht näher darauf eingehen).

Der politische Opportunismus ist abhängig vom Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Widersprüche im Zusammenhang mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und dem Organisationsgrad sowie den Kampfbedingungen der Arbeiterschaft. Ein davon zu unterscheidendes, wenn auch nicht zu trennendes Problem ist die Frage, unter welchen Bedingungen beim jeweils einzelnen opportunistische Haltungen entstehen und welche Konsequenzen sie für die individuelle Lebenserfahrung haben. Die speziellen subjektiven Voraussetzungen bzw. Charakteristika eines solchen opportunistischen Verhaltens auf individueller Ebene bestehen wesentlich darin – immer vor dem Hintergrund der prinzipiellen Ausgeliefertheit an die Verhältnisse und der damit verbundenen existentiellen Verunsicherung -, rechtzeitig auf die Ereignisse eingestellt zu sein, um sich durch diese nicht überrumpeln, aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, zugleich aber relativ offen, d.h. – auch emotional – ungebunden, distanziert zu sein, „genau zu beobachten, nüchtern zu kalkulieren …. schlau und taktisch zu reagieren“ (Redeker, 1963), um – zwischen den verschiedenen Fronten und Parteien lavierend – sich eventuell bietende Möglichkeiten zum eigenen Vorteil voll nutzen zu können. Zentrale Verhaltensmaxime des „angepaßten“ Individuums muß somit sein, sich nicht eindeutig festlegen zu lassen, Stellung- und Parteinahmen, Auseinandersetzungen und Konflikte zu vermeiden bzw. herabzuspielen und aus der Not, in die Rolle des Beobachters gedrängt worden zu sein, eine Tugend zu machen, d.h. aus der Tatsache, die eigenen Ansprüche auf die aktive Mitgestaltung der relevanten Lebensbedingungen weitgehend aufgegeben zu haben und somit in keinen prinzipiellen Gegensatz zu den Vorstellungen und Zielen anderer geraten zu können, einen Standpunkt „über“ den jeweiligen Interessengegensätzen und Auseinandersetzungen, eine allgemeine „Überlegenheit“ abzuleiten. Dies kann dann in verschiedenen Formen der Distanziertheit – als Toleranz, Abgeklärtheit, Weisheit, Individualismus, Ironie, Zynismus etc. – den einen oder anderen modischen Ausdruck finden und muß, da Neutralität, d.h. Interessenlosigkeit immer eine Fiktion, in der einen oder anderen Form in seiner Scheinhaftigkeit für das Individuum problematisch werden.

Der Versuch, innerhalb gegebener Abhängigkeitsbeziehungen, d.h. der Beschränkung der individuellen Entwicklung durch die Interessen anderer, zu einer konfliktfreien Anpassung zu kommen, muß notwendig scheitern, und zwar sowohl hinsichtlich der Beziehung zu denen, die prinzipiell in gleicher Situation stehen, wie auch zu den „Mächtigen“, von denen man sich einseitig abhängig sieht: einerseits, weil die relative Bevorzugung der einen zwangsläufig die relative Benachteiligung der anderen impliziert und – unter kräftepolitischem Aspekt – das „Aufsteigen“ der Begünstigten zur Schwächung der „Zurückgebliebenen“ und zu entsprechendem Widerstand bei diesen führt; zum anderen, weil der Verzicht auf die aktive Einflußnahme auf die relevanten Lebensbedingungen, d.h. die Zurücknahme der individuellen Bedürfnisse zur Vermeidung der bei ihrer Artikulation zu erwartenden Konflikte, nichts anderes bedeutet, als in die Auseinandersetzungen fremder Interessen hineingezogen zu werden. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des Konflikts unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft besteht also darin, daß in dem einen Fall die Konflikte immer zu einem individuell-privaten und damit zugleich fremden Problem werden. Das isoliert-ohmnächtige Individuum wird in seinem Bemühen um die unmittelbare Existenzsicherung bzw. individuelle Lebensverbesserung in die Auseinandersetzung fremder Interessen hineingezogen, ohne genau zu wissen, worum es geht und damit bewußt Stellung nehmen zu können und inhaltlich engagiert zu sein. In dem anderen Falle aber tritt an die Stelle mehr oder weniger blinden Involviertseins in fremde Interessenkonflikte die bewußte Auseinandersetzung um die langfristige Sicherung und Entwicklung der eigenen Bedürfnisse und wird auf dieser Basis überhaupt erst die Solidarisierung mit anderen, die prinzipiell die gleichen Interessen haben, und gegen jene, die zur Erhaltung der Funktionalität und Verwertbarkeit der Individuen für ihre privaten Zwecke diese im Zustand relativer Entwicklungslosigkeit halten müssen, möglich. Das kurzfristige Ausweichen vor Entscheidungen und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Konflikten, das immer das mehr oder weniger deutliche Wissen um die prinzipielle Ungelöstheit der individuellen Probleme einschließt, kann zu einer generellen Hemmung des auf die Zukunft gerichteten Denkens und Handelns führen, so daß das unmittelbare In-den-Tag-Hineinleben, das Festhalten an dem Gegebenen, nicht nur Ausdruck äußerer Unterdrückung ist, sondern zugleich zu einem individuellen Bedürfnis sich verfestigen kann, in welchem sich die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit spiegelt.

Diese Tendenz, an einmal vertrauten Gegebenheiten festzuhalten, das Gewohnte jeder Veränderung vorzuziehen, als allgemeine Verhaltenstendenz in der Situation der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, der mangelnden Kontrolle über sie, kann sich dann unter Bedingungen aktueller Existenzangst bzw. der mangelnden sozialen Integration zu einem völlig unangepaßten Verhalten verfestigen, das als psychische Störung auffällig wird.

Das Bestreben, „richtig“ zu handeln, den Erwartungen der anderen unmittelbar zu entsprechen, und die Tatsache, gleichzeitig über diese Erwartungen nicht hinreichend oder widersprüchlich informiert zu sein und um die Labilität dieser Beziehung – mehr oder weniger deutlich – zu wissen, führt in solchen Fällen – noch über die objektiven Beschränkungen hinaus – zu einer allgemeinen Entscheidungsunfähigkeit, d.h. zu der Tendenz, erst zu handeln, wenn der Ausgang dieses Handelns absolut sicher ist und damit zu einem Verhalten, das objektive Gelegenheiten, umfangreichere Erfahrungen über die bestehenden Handlungsmöglichkeiten und -grenzen und die Art und Weise der sozialen Beziehungen zu gewinnen und damit zu einem verläßlichen Realitätsbezug als Basis individueller Handlungsfähigkeit zu kommen, von vornherein reduziert. Die bestehenden oder angebotenen Orientierungsstrukturen werden dann nicht mehr aus objektiven, d.h. inhaltlichen Gründen, sondern zur individuellen Stabilisierung angenommen und umso intensiver verteidigt, je mehr über die Verinnerlichung bestimmter Haltungen, Einstellungen etc. die Beziehungen zu den anderen unmittelbar zu festigen sind. Die psychische Verunsicherung ist somit eine zentrale Voraussetzung der Möglichkeit, das individuelle Denken und Handeln zu manipulieren und damit das Individuum zum Mitverantwortlichen seiner eigenen Unterwerfung zu machen. Dieses Bestreben, Risiken zu vermeiden als Ausdruck der Tatsache und der Reaktion auf sie, keinen Einfluß auf die relevanten Lebensbedingungen zu haben, wird somit umso stärker sein, je labiler die Beziehungen zur Gemeinschaft sind, je mehr die Notwendigkeit, diese Beziehungen zu festigen, damit zentrale Bestimmung des Denkens und Handelns des Individuums wird.

Der Unterschied zwischen angepaßtem opportunistischem, d.h. dem Normalverhalten, innerhalb dessen es gelingt, im Rahmen der vorgegebenen Lebensbedingungen durch geschicktes Umgehen mit den jeweils herrschenden Kräften den eigenen Vorteil zu wahren und auszubauen und damit der Umwelt gegenüber aktuell handlungsfähig zu bleiben, und den psychischen Störungen ist dabei im wesentlichen eine Frage des Auffälligwerdens, der bloß graduellen Abstufungen. Die Ursachen für die Auslösung konkreter psychischer Schwierigkeiten über das „Normalmaß“ hinaus, d.h. bis zur Beeinträchtigung der unmittelbaren Handlungsfähigkeit, sind außerordentlich komplex und vielfältig und in jedem Einzelfall genau zu analysieren. Ein zentraler Faktor bei der Auslösung manifester psychischer Störungen wird jedoch immer der Verzicht auf Realisierung an sich gegebener Lebensmöglichkeiten, d.h. der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, auf die Befreiung aus der unmittelbaren Abhängigkeit aus Angst vor den Sanktionen bzw. Auseinandersetzungen mit den machthabenden Instanzen sein, auf deren Zuwendung man zugleich angewiesen ist. Dabei wird die subjektive Notwendigkeit, sich den Erwartungen anderer zu fügen, die eigene Ziellosigkeit und das mangelnde Aufgehobensein der eigenen Interessen und Bedürfnisse in dem Handeln der anderen und damit die allgemeine innere und äußere Haltlosigkeit der Existenz, also gerade das Streben nach Sicherheit, die Ungesichertheit der eigenen Existenz verdeutlichen und zu einem traumatischen Effekt dann führen, wenn die allgemeine, d.h. auch kurzfristige Erfolg- und Nutzlosigkeit der Unterwerfung, des selbsttätigen Verrats an den eigenen Interessen, unmittelbar erfahren wird. So scheint es besonders häufig in solchen Situationen zu psychischen Zusammenbrüchen zu kommen, in denen das Individuum von der Richtigkeit, d.h. Angemessenheit seines Verhaltens entsprechend den Vorstellungen anderer, überzeugt und auf Bestätigung und Zuwendungen eingestellt war und dann völlig unvorbereitet entgegengesetzte Erfahrungen machen mußte, damit quasi den Boden unter den Füßen, d.h. in zweifacher Weise die Orientierung, an den eigenen Interessen und an den Vorstellungen anderer, verlor und damit völlig handlungsunfähig wurde. Diese Erfahrung wird umso schmerzhafter sein, je schwieriger die Verleugnung der eigenen Interessen, je größer also das „Opfer“ war, um das Wohlwollen der anderen zu erringen.

Psychische Störungen setzen somit einerseits eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Widersprüchlichkeiten der objektiven Verhältnisse und des eigenen Verhaltens wie andererseits die individuelle Unfähigkeit voraus, sich gegen diese Verhältnisse aktiv zur Wehr zu setzen und damit auch das eigene Verhalten zu bestimmen. Sie umfassen immer zugleich Auflehnung und Zurücknahme der Auflehnung, d.h. das Erkennen der Notwendigkeit und Möglichkeit der Veränderung der bestehenden Umweltbeziehungen, der objektiven Lebensbedingungen und somit auch des eigenen Verhaltens ihnen gegenüber, und die Verdrängung dieser Erkenntnis aus Angst vor den Folgen ihrer Umsetzung.

Der damit angedeutete Zusammenhang zwischen aus der Ausgeliefertheit an objektive Lebensbedingungen resultierenden quasi „opportunistischen“ Formen der Daseinsbewältigung als einzigem subjektiven Ausweg und der Begünstigung des Entstehens psychischer Störungen läßt sich aus den einschlägigen Ansätzen und Untersuchungen der bürgerlichen Psychologie durch Reinterpretation von den gewonnenen kritisch-psychologischen Positionen aus veranschaulichen und konkretisieren. Dazu greife ich auf früher schon dargestellte Arbeiten zurück und beziehe darüber hinaus weitere Theorien und Untersuchungen in die Analysen ein.

Es kommt, wie in neuerer Literatur (siehe z.B. Beech 1974, Davids 1974 etc.) immer wieder hervorgehoben, zu psychischen Krisen in der Situation der Ohnmacht und Ausgeliefertheit, die sich im vollen Maße nur dann zeigen, wenn das Individuum mit Anforderungen konfrontiert ist, denen es sich nicht gewachsen fühlt, einerseits bestimmte Erwartungen, Forderungen, Hoffnungen, Möglichkeiten sich abzeichnen und die Entscheidung von zentraler Bedeutung, z.T. zumindest partiell auch von der eigenen Person abhängig scheint, andererseits aber eine völlige Desorientierung darüber, was zu tun und ein tiefes Mißtrauen in die eigenen Möglichkeiten, d.h. aber auch immer in die Beziehungen zu den anderen, besteht.

Eine solche Situation der Überforderung, d.h. der allgemeinen Desorientierung bei gleichzeitigem Handlungsdruck, äußert sich i.d.R. u.a. in einer erhöhten allgemeinen physiologischen Erregung, einer „inneren Unruhe‘, die nach unmittelbarer Beseitigung verlangt, wobei für diese von der aktiven Umweltauseinandersetzung losgelöste Bewältigung der inneren Unruhe offensichtlich verschiedene Verhaltensmöglichkeiten bestehen: Es kann zu einer direkten Reduzierung der inneren Erregung, der Ansprechbarkeit durch die aktuellen Umweltbedingungen oder zu einer Lenkung bzw. Abreaktion der Unruhe auf bestimmte Ersatzhandlungen kommen, und die Reduzierung der Sensibilität für äußere Reize kann sich wiederum, wie dargestellt (siehe z.B. Delius) automatisch ergeben oder aber auch, etwa über Alkohol, Drogen etc. (siehe z.B. Solomon 1977) bewußt herbeigeführt werden. Zwischen allgemeiner Reduzierung und Ableitung der Erregung auf bestimmte Ersatzhandlungen bestehen bestehen wiederum vielfältige Beziehungen: Ersatzhandlungen, wie etwa das Laufen oder Essen, können zur Herabsetzung der allgemeinen Erregung, zur Milderung der Unruhe über die Herbeiführung einer allgemeinen Müdigkeit führen, und über die generelle Reduzierung der Informationsaufnahme kann es wiederum, wie in den von Delius dargestellten Untersuchungen gezeigt, zu weiteren Ersatzhandlungen kommen, die dann ihrerseits den Zustand der allgemeinen Schläfrigkeit, d.h. der relativen Gleichgültigkeit gegenüber den Umweltgeschehnissen, den passiven Rückzug aus der konkreten Situation der Überforderung, unterstützen, also den Zustand der subjektiven Entscheidungsunfähigkeit durch die Herstellung einer relativ eindeutigen Handlungsunfähigkeit und damit verminderten Verantwortlichkeit quasi „lösen“. Ursprüngliche Mittel zur „Betäubung“ der individuellen Ansprechbarkeit durch Umweltanforderungen können sich dann wiederum unter bestimmten Umständen zur Sucht und damit zu einem eindeutigen Problem verselbständigen, vor welchem die primären, mehr oder weniger diffusen und Ängste an Bedeutung verlieren, im größeren Leiden „aufgehoben“, d.h. relativiert sind.

Leiden, das die eigene Handlungsfähigkeit radikal unterminiert, kann durchaus den Zweck“ haben, von dem Leiden, das aus der subjektiv erfahrenen, jedoch nicht konkretisierbaren Handlungsnotwendigkeit erwächst, abzulenken, so daß therapeutische Bemühungen, die nur an den Folgen psychischer Störungen ansetzen, ohne auf deren Ursachen einzugehen, diesem Verdrängungsprozeß Vorschub leisten können. Ebenso wie die allgemeine Reduzierung individueller Ansprechbarkeit eine Vereindeutigung der Situation der Handlungsunfähigkeit und damit der verminderten Verantwortlichkeit bedeutet, kann auch „Überbeschäftigung“, das Abgelenktsein durch bestimmte Umweltreize oder auch das Ausgelastetsein mit bestimmten Aufgaben und Aktivitäten, einen Schutzmechanismus gegenüber der subjektiven Überforderung darstellen, d.h. eine mehr oder weniger automatische, allgemeine oder partielle Abschirmung gegenüber neuen Anforderungen implizieren oder aber auch eine solche Abwehr rechtfertigen. Dabei werden offensichtlich für diese Abwehrtechniken wiederum Aktivitäten bevorzugt, in welchen die aggressiven Reaktionen auf die Situation der Überforderung und der mangelnden Unterstützung durch andere ihren Ausdruck finden. Die zwanghafte Tendenz des „Saubermachens“ hat so z.B. den Vorteil, die allgemeine Erregung und damit verbundene Angst aktuell abzuleiten und zugleich die Aggressionen gegenüber den anderen, durch die man sich eingeschränkt oder im Stich gelassen fühlt, in einer „unangreifbaren“ Weise, d.h. in kulturell hochgeschätzten Aktivitäten, zu äußern (siehe z.B. Davids 1974).

Wie die Motivation immer von den konkreten Handlungsmöglichkeiten abhängt, so kann über die systematische Verhinderung bzw. Ausblendung der an sich gegebenen Handlungsmöglichkeiten der Zustand der allgemeinen Demotivation, d.h. der mangelnden Betroffenheit und damit Gleichgültigkeit erhalten bleiben, der in der Situation der generellen Ausgeliefertheit an die Umweltbedingungen der zuverlässigste Schutz gegen Leiden ist. Die Abtötung individueller Hoffnungen bzw. Erlebnismöglichkeiten macht gegenüber der äußeren Unterdrückung weniger empfindlich und damit „frei“, verleiht dem Individuum eine pervertierte Autonomie, d.h. „Unabhängigkeit“ auf dem Wege der individuellen Bedürfnislosigkeit. An die Stelle der Freiheit der Entwicklung personaler Bedürfnisse und Fähigkeiten, die allein über die aktive Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen gewährleistet ist, tritt die „Freiheit“ des „Verzichts“, der „Selbstgenügsamkeit“, der „Bescheidung“ innerhalb der vorgegebenen Lebensverhältnisse, womit die subjektiven Voraussetzungen für die von Maslow verherrlichte bürgerliche Gesellschaft, in welcher keiner über den ihm zugewiesenen Platz hinausstrebt, geschaffen wären.

Die Befunde über Mechanismen der psychischen Reaktionen auf die Situation der subjektiven Überforderung sind vielfältig und müssen im jeweils einzelnen Fall in ihrem Aussagewert genau analysiert werden, wobei es zwischen dem Bemühen, der Umwelt in irgendeiner Weise Widerpart zu leisten und den Prozeß der Handlung, in welch reduzierter Form auch immer, in der Hand zu behalten, und der allgemeinen Resignation und Selbstaufgabe die kompliziertesten Interferenzen gibt.

Das allgemeine Bemühen um Orientierung, um die Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit unter den gegebenen Lebensbedingungen, kann in der Situation des Zurückgeworfenseins auf die isolierte Privatexistenz gerade in der extensiven Suche nach Gewißheit als Voraussetzung der individuellen Handlungsfähigkeit zu einer immer stärkeren Einschränkung des relevanten Handlungsraumes und damit aber zur Situation des völligen Verlustes der Handlungsfähigkeit und der Ohnmacht und Ausgeliefertheit fuhren, wodurch es dann zu einem absoluten Rückzugsverhalten kommt, wie andererseits diese Selbstaufgabe wiederum zum Mittel der Erreichung der Unterstützung und Zuwendung eingesetzt werden, zugleich aber auch eine bestimmte „Handlungsfreiheit“, in Form der Verweigerung eine gewisse Selbstbestimmung beinhalten kann etc.

Die Tendenz, Gewißheit zu haben, bevor man Entscheidungen trifft und damit handlungsfähig ist, fährt z. B., wie etwa Kelly (1955), Bannister .(1960), Reed (1968, 1969) u.a. ausführlich darstellen, zu einer spezifischen Denkeigentümlichkeit: der infolge der Überstrukturierung des Inputs oder der Überdefinition der Kategorien entstandenen Unfähigkeit, Erfahrungen zu organisieren und zu integrieren, miteinander in Beziehung zu setzen und damit Voraussagen über die kommenden Ereignisse zu treffen, was dann wiederum zu einer verstärkten Tendenz nach noch genauerer und detaillierterer Informationsaufnahme etc. führt. Es kommt somit auch bei der kognitiven Verarbeitung der Umweltgegebenheiten zu einem Prozeß der relativen Verselbständigung der Verursachung psychischer Störungen: sofern das Individuum keine übergeordneten Ziele bzw. keine Vorstellungen darüber hat, was es erreichen will und worauf es demzufolge zu achten hat, d.h. nicht weiß, was relevant ist und was nicht, also keine Kriterien für die Auslese der wesentlichen aus den unwesentlichen Informationen, zugleich aber das Bestreben hat, möglichst sicher zu gehen, resultiert ein kaleidoskopartiger Zerfall der Welt in immer kleinere, unzusammenhängende Einzelteile, wie er typisch für das Denken der Zwangsneurotiker, aber auch der Schizophrenen ist.

So spricht Kelly, natürlich ohne auf die Bedingungen, unter denen es zu dieser Reaktion kommt, einzugehen, z.B. von der minutiösen pseudomathematischen Genauigkeit, mit der der Zwangsneurotiker die Ereignisse zu antizipieren sucht, um entsprechend auf sie eingestellt zu sein, wobei er alle Informationen, die seinen Erwartungen nicht entsprechen, entweder umzudeuten oder aber ihnen aus dem Wege zu gehen versucht, indem er sich nur noch in solche Situationen begibt, denen er sich 100%ig gewappnet fühlt, d.h. auf die er sich bis ins kleinste Detail eingestellt hat. Kelly gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff „Constriction“. Der Zwangsneurotiker muß, wie Kelly schreibt, Kontrolle auf alle Kosten behalten; er zerlegt in seiner Suche nach absoluter Sicherheit seine Umwelt bzw. alltäglichen Verrichtungen in immer kleinere Teile, die unbedingt konstant bleiben müssen, um keine Beunruhigung und damit „constriction“, d.h. den weiteren Rückzug aus der Realität auszulösen. Wenn dann irgend etwas diesen noch verbleibenden Rest der arbeitsfähigen „Konstruktionen“, d.h. der zusammenhängenden Verhaltensanforderungen bzw. Verhaltensentwürfe unterläuft, hat er nichts mehr, worauf er zurückgreifen kann, ist er mit der Desintegration seines gesamten Systems konfrontiert, kommt es also zwangsläufig zu einem psychischen Zusammenbruch. Die Nichtentsprechung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit führt den Zwangsneurotiker also nicht zur Erweiterung seines Bezugssystems durch Verarbeitung der Informationen über die Entwicklung entsprechender Fähigkeiten und Kenntnisse bzw. zur aktiven Einflußnahme auf die Lebensverhältnisse zur bewußten Herstellung dieser Entsprechung, wie das bei einer sozial abgesicherten und nicht durch Existenzängste gebrochenen Entwicklung möglich ist, sondern, eben aufgrund der allgemeinen Verunsicherung und der Zurückgeworfenheit auf die unmittelbar-individuelle Existenzsicherung, wie sie für psychische Störungen charakteristisch ist, zur Abkehr von dem betreffenden Realitätsbereich und so zu einer Verstärkung der Isolation und der damit verbundenen Ängste.

Wenn das Individuum in der beschriebenen Fragmentierung seines Systems in bestimmter Richtung noch weiter geht, führt das, wie z.B. Bannister (1960) hervorhebt, zu Denkstörungen, wie sie charakteristisch für Schizophrene sind, für die, wie Searles (1961) betont, jede Veränderung, auch der unwichtigsten Details, als Metamorphose erlebt wird, durch welche die Kontinuität zwischen der aktuellen und der unmittelbar folgenden Wahrnehmung aufgehoben ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen zwanghaftem und schizophrenem Verhalten besteht offensichtlich darin, daß der Zwanghafte in gewisser Weise noch bemüht ist, sich einen Rest von Orientierung und damit seiner Kommunikations- und Handlungsfähigkeit zu erhalten, d.h. der Umwelt seine eigenen „Pläne“ und Vorstellungen entgegenzusetzen, Klarheit zu gewinnen, wenn sich auch diese Anstrengungen der Selbstbehauptung auf immer kleinere Bereiche reduzieren und der Zwangskranke in seinem Bemühen nach Sicherheit und Kontrolle immer mehr unter die Kontrolle seines Sicherheitssystems gerät. Der Schizophrene hingegen scheint diesen Anspruch der Kontrolle seiner Umweltbeziehungen völlig aufgegeben zu haben; die Schranken zwischen ihm und der Außenwelt sind quasi – zumindest im fortgeschritteneren Stadium – aufgehoben; er tritt der Welt kaum mehr als ein „bewußt“ Handelnder, mit eigenen Zielen und Bedürfnissen, entgegen, sondern ist mit ihr quasi wiederum zu einer Einheit verschmolzen, d.h. er kann zwischen sich und der Außenwelt nicht mehr trennen, was dann zu den typischen Symptomen führt, in welchen er seine eigenen Impulse als Fremdeinflüsse, sexuelle Regungen z.B. als von außen zugeführte elektrische Schocks erfährt etc. Searles (1961) vermutet in dieser Entdifferenzierung des schizophrenen Denkens, der Fragmentierung seiner Erfahrungen, zugleich eine defensive Funktion, d.h. die Verhinderung negativer Emotionen durch mögliche Assoziationen der gegenwärtigen Erfahrungen mit unbewältigten vergangenen Erlebnissen.

Diese sehr skizzenhaften Ausführungen müssen hier genügen, um den behaupteten Zusammenhang zwischen der Situation des „normalangepaßten“ individuell-opportunistischen Verhaltens und den sog. psychischen Störungen in der bürgerlichen Gesellschaft zu veranschaulichen. Die subjektiven Ursachen der Störungen liegen in der mangelnden Möglichkeit der Einflußnahme auf die relevanten Lebensbedingungen, dem Zustand der Ausgeliefertheit an die Willkür anderer und des isoliert-unbewußten, halbherzig-zurückgenommenen Protestes gegen ihn, der aus der unmittelbar erfahrenen, dabei immer auch als ungerechtfertigt erlebten Beschränkung individueller Entwicklungstendenzen und Lebensmöglichkeiten und der mangelnden Fähigkeit erwachst, die eigenen Interessen und Bedürfnisse gegenüber der einschränkenden Umwelt, von der man sich zugleich existentiell abhängig fühlt, zu artikulieren und zu vertreten. Wie einerseits die mangelnde Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu vertreten und somit die bestehenden Interessengegensätze zu erfahren und zu strukturierten Umweltbeziehungen zu kommen, Folge der individuellen Verunsicherung ist und zugleich einen Abwehrmechanismus gegenüber möglichem Leiden darstellt, so können andererseits die unbewußten Proteste als Ergebnis der subjektiven Bewertung der erfahrenen Entwicklungsmöglichkeiten und ihrer äußeren Beschränkung und der fehlenden Widerstandskraft des Individuums – infolge der mangelnden Durchdringung des Problems und der reduzierten Risikobereitschaft zugleich sich in einer Form ausdrucken, die die Bevormundung durch die Umwelt aufgrund der relativen Handlungsunfähigkeit des Subjekts als gerechtfertigt erscheinen lassen. So ist das Individuum über die „freiwillige“ Unterwerfung unter die vorgegebenen Verhältnisse zugleich immer auch mitverantwortlich an der eigenen Ohnmacht und Ausgeliefertheit. Diese Verhältnisse werden umso komplizierter und undurchschaubarer, je weniger eindeutig die äußeren Beschränkungen objektivierbar sind, d.h. je mehr sie zugleich als Schutz erlebt werden bzw. durch die eigene Unselbständigkeit und Hilflosigkeit ihre Berechtigung zu haben scheinen.

Die scheinhafte Trennung der Emotionen von den objektiven Lebensverhältnissen, deren Bewertung sie darstellen, kann aber unter bestimmten Umständen – offensichtlich dann, wenn alle Entwicklungsmöglichkeiten unabhängig vom individuellen Verhalten von vornherein ausgeschlossen scheinen – auch zu einer Verselbständigung der „inneren“ gegenüber der „äußeren“ Realität führen, etwa dadurch, daß das Individuum die äußeren Lebensbedingungen entsprechend seinen Wünschen und Bedürfnissen entstellt bzw. sich gegenüber den Folgen seines Handelns verschließt, die jeweils aktuellen Bedürfnisse zum Maßstab seines Handelns werden läßt, sich mehr oder weniger außerhalb der Gesellschaft stellt, indem es sich individuell über die äußeren Beschränkungen, ohne diese aufzuheben oder in ihrer Berechtigung zu hinterfragen, hinwegsetzt.

Die aus der Reinterpretation einschlägiger bürgerlicher Theorien und Befunde gewonnenen Konzeptionen zur Konkretisierung kritisch-psychologischer Auffassungen über psychische Störungen müssen natürlich noch weiter differenziert und abgesichert werden, wobei speziell auch die Bedingungen herauszuarbeiten sind, unter denen aus dem „normalen“ Opportunismus eine allgemeine Disposition zu manifesten psychischen Störungen und daraus wiederum umschriebene Symptomatiken, wie „Zwangsneurosen“, „Schizophrenie“ etc. werden. Um hier weiterzukommen, muß von der bloßen Reinterpretation immer mehr zu neuen Fragestellungen und Untersuchungen von der Position der Kritischen Psychologie übergegangen werden, wobei die Analyse von therapeutischen Prozessen als Grundlage immer differenzierterer und gesicherterer Erfahrungen sowohl über die psychischen Störungen wie über die Perspektiven und Möglichkeiten ihrer Überwindung dienen muß. Nachdem wir in einem ersten Ansatz solche Analysen in der nachträglichen Aufarbeitung eines Therapieverlaufs vorgelegt haben (vgl. Holzkamp und H.-Osterkamp 1977); liegen jetzt mehrere Diplomarbeiten vor, in denen therapeutische Aktivitäten, die von vornherein unter den Prämissen einer kritisch-psychologischen Therapiekonzeption unternommen wurden, geschildert und ausgewertet werden (vgl. Fanter 1978; Boetel, Gerhardt, Scheffler 1978; Groß, Harbach 1978). Ich kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen.

Jedoch lassen sich bereits auf dem hier entwickelten Stand der Analysen aus den vorherigen Ausführungen gewisse Konkretisierungen unserer Vorstellungen über die Grundrichtung der weiteren Ausarbeitung eines kritisch-psychologischen Therapie-Ansatzes herleiten, aus denen das hier anzustrebende, gegenüber den traditionellen Ansätzen prinzipiell neue Niveau der Konzeption und Vorgehensweise deutlich wird.

9. Konsequenzen aus der Analyse des Zusammenhangs zwischen dem „angepaßt-opportunistischen“ Sich-Einrichten in der Abhängigkeit und psychischen Störungen für eine Konkretisierung der kritisch-psychologischen Therapiekonzeption

Die zentrale Besonderheit des Therapie-Konzeptes, wie es sich aus der kritisch-psychologischen Aufarbeitung der traditionellen Emotionstheorien etc. verdeutlicht, gegenüber den bürgerlichen Ansätzen besteht darin, daß hier die emotionale Befindlichkeit nicht als Mittel der Kontrolle über das Individuum benutzt, sondern als Ausdruck der subjektiven Notwendigkeit zur Verbesserung der relevanten Lebensverhältnisse bzw. Umweltbeziehungen des Individuums ernstgenommen und zur Leitlinie therapeutischen Handelns gemacht wird. Eine solche psychologische Therapie kann nicht in einer Regulierung der emotionalen Erregung unter Beibehaltung oder Verstärkung der Verdrängung ihrer Bedingtheit durch die objektiven Lebensverhältnisse des Individuums bestehen. Hier muß vielmehr der reale Zusammenhang zwischen Kognitionen, ihrer emotionalen Wertung und den daraus entstehenden subjektiven Handlungsnotwendigkeiten in Abhängigkeit von der spezifischen Art der sozialen Beziehungen bewußt erfaßt und handlungsbestimmend werden. Das Individuum muß lernen, seine Emotionalität auf ihren objektiven Erkenntnisgehalt zu entschlüsseln und für sein Handeln richtungsweisend werden zu lassen.

Eine wesentliche Funktion der Therapie wird somit sein, die Isolation des Individuums zu durchbrechen, d.h. diesem zu ermöglichen, seine Bedürfnisse sich und anderen rückhaltlos einzugestehen und sich durch diese verpflichtet zu fühlen, d.h. sie aktiv zu vertreten und umsetzen zu lernen und somit sich zwangsläufig in einem erhöhten Maße der Umwelt zuzuwenden. Insofern die bestehenden Abhängigkeitsbeziehungen jedoch nicht zufällig oder vorübergehend sind, sondern die Funktion der Stabilisierung der Position auch des jeweils „dominanten“ Teils dieser Beziehung haben, werden alle Bemühungen um Erweiterung des individuellen Handlungsraumes, der Lösung aus der direkten Abhängigkeit, d.h. aber der Veränderung der Beziehungen zu den anderen, bei diesen unmittelbar Gegenreaktionen, Angst und Aggressionen auslösen, die, sofern das Individuum nicht darauf vorbereitet ist, zu einer existentiellen Bedrohung führen können, aus der heraus es zur unmittelbaren Rückanpassung, d.h. zu einem Aufgeben personaler Lebensansprüche kommt.

Ein zentraler Bestandteil der therapeutischen Arbeit muß es somit sein, den einzelnen auf den bei der Durchbrechung bestehender Abhängigkeitsbeziehungen zu erwartenden Widerstand vorzubereiten, diesen auf die objektiven Bedingungen zurückzuführen, zu versachlichen und damit gezielt angehbar zu machen, die durch die Selbstaufgabe erreichte Scheinharmonie aufzubrechen und auf der Basis klarer Interessenartikulation zu einer fundierten Neudefinition der Beziehungen und entsprechender Handlungsausrichtung zu kommen.

Infolge des engen Zusammenhangs zwischen Handlungs- und Erkenntnismöglichkeit wird der einzelne zur aktiven Vertretung seiner Interessen im allgemeinen nur in dem Maße fähig sein, wie die zu erwartenden Schwierigkeiten objektiviert werden können und prinzipiell bewältigbar scheinen bzw. das Indidivuum in der Lage ist, die aus der aktiven Umweltauseinandersetzung zu erwartende objektive und subjektive Verunsicherung aufzufangen und durchzustehen. Diese Fähigkeit zum Erkennen und Durchstehen von Konflikten im Kampf um die Erweiterung individueller Lebensmöglichkeiten als wesentliche Gegenmaßnahme auch gegen die spontanen Unterwerfungstendenzen gilt es im therapeutischen Prozeß zu entwickeln. Das heißt nicht, wie mitunter mißverstanden wird, daß die Kritische Psychologie eine allgemeine „Konfliktstrategie“ vertritt, daß Konflikte unserer Auffassung nach willkürlich provoziert, ein allgemeines „Durchsetzungsvermögen“ etc. auf Kosten anderer trainiert werden soll. Vielmehr sind Konflikte objektiv vorhanden, und eine wesentliche Voraussetzung ihrer Bewältigung ist, daß man sich diese bewußt macht und entsprechend auf sie einstellt, um nicht völlig unvorbereitet durch sie überrollt zu werden und in der unmittelbaren Existenzangst infolge mangelnder Verhaltensstrategien auf das bloße Anpassungsverhalten zurückzuverfallen und jeden Entwicklungsanspruch aufzugeben., Die Entwicklung der Lebens- und Erlebnismöglichkeiten des Individuums steht also absolut im Vordergrund, und die Konfliktproblematik spielt nur insofern hinein, als das Individuum lernen muß, sich für diese seine eigene Angelegenheiten aktiv einzusetzen, gegen Entwicklungsbehinderungen anzugehen, diese nicht infolge seiner allgemeinen Konfliktscheu zu akzeptieren, d.h. zu resignieren und somit selbst zur Beeinträchtigung der eigenen Lebensmöglichkeiten beizutragen und somit sich selbst zu betrügen.

Damit verdeutlicht sich in diesem Zusammenhang, daß es nicht Aufgabe des Therapeuten sein kann, die Bedürfnisse des Klienten unmittelbar zu befriedigen. Es gilt vielmehr, in der Therapie die Bedingungen zu fördern, unter welchen es dem Klienten selbst möglich wird, sich für seine Angelegenheiten, d.h. Bedürfnisse und Interessen, einzusetzen und somit über den eigenen Lebensprozeß wieder zu verfügen. Ganz abgesehen davon, daß der Versuch des Therapeuten, die Bedürfnisse der Klienten weitgehend durch seine eigene Person abzudecken, notwendig durch die individuellen Möglichkeiten des Therapeuten selbst beschränkt ist, wobei der Therapeut im allgemeinen wiederum auf die Erfahrung seiner eigenen Begrenzung defensiv, d.h. emotional-aggressiv reagieren wird (s.u.), bedeutet die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung durch andere keineswegs die Aufhebung, sondern vielmehr die Verschleierung und damit aber gerade die Verfestigung der allgemeinen Abhängigkeit und Ausgeliefertheit und der daraus resultierenden Angst.

Die therapeutische Unterstützung der aktiven Vertretung der eigenen Interessen bedeutet dabei, wie aus unseren obigen Ausführungen hervorgeht, keineswegs die Förderung eines individuellen Durchboxens des eigenen Vorteils gegenüber anderen, sondern schließt als Basis der eigenen Handlungsmöglichkeiten die Berücksichtigung der Interessen derer, mit denen man sich grundsätzlich verbunden weiß, ein, wie andererseits „Bescheidenheit“, das Zurückstecken der eigenen Bedürfnisse hinter den Interessen und Vorstellungen anderer nicht von sich aus schon soziales Verhalten bedeutet, sondern viel eher Ausdruck der Hilflosigkeit und Ohnmacht und damit aber gerade des Zurückgeworfenseins auf die unmittelbare Bedürftigkeit ist, die immer eine gewisse Egozentrik und eine allgemein feindselige Haltung gegenüber der Umwelt bzw. die Umweltzuwendung nur unter dem Gesichtspunkt der unmittelbar eigenen Existenzsicherung einschließt. Die Orientierung an dem unmittelbaren, kurzfristig individuellen Nutzen ist somit, wie ausgeführt, gerade Ausdruck der allgemeinen Ausgeliefertheit an die Umweltverhältnisse. Nur auf der Grundlage existentieller Sicherheit, der Kontrolle über die relevanten Lebensbedingungen, d.h. immer auch der geklärten Beziehungen zu den Mitmenschen wird dagegen das Individuum in der Lage sein, über die unmittelbare Ichbezogenheit hinauszuwachsen und auf der Grundlage und in den Grenzen seiner spezifischen Einflußmöglichkeiten Interesse an der Umwelt und seiner Mitmenschen als Teil seiner eigenen Lebens- und Erlebnismöglichkeiten zu entwickeln.

Die Erweiterung und Verbesserung sozialer Beziehungen als Grundvoraussetzung individueller Handlungsmöglichkeiten ist somit keineswegs direkt, über das Üben „sozialer Fähigkeiten“, des „Einfühlungsvermögens“ etc., sondern nur über die Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit, d.h. der Fähigkeit des Individuums zur bewußten Vertretung seiner Interessen und Bedürfnisse therapeutisch zu entwickeln, wobei sich zugleich in der konkret erfahrenen Unterstützung oder auch Behinderung der eigenen Entwicklungsbemühungen durch die Mitmenschen die objektive Qualität der sozialen Beziehungen erweist und somit unmittelbarer Kritik, aber auch Entwicklung zugänglich wird. An die Stelle der oberflächlichen Harmonie, der unmittelbaren Orientierung an den Erwartungen der jeweils anderen, der prinzipiellen Konflikt- und Entwicklungslosigkeit auf der Grundlage allgemeiner Gleichgültigkeit und Resignation muß (sofern keine antagonistischen Interessen bestehen, die klare Frontenstellung erforderlich machen), die echte, d.h. die gegenseitige Entwicklung fördernde und damit allein zuverlässige und andauernde Verbundenheit treten, die sich nur über die Klärung der jeweiligen Interessen und die volle Berücksichtigung der Bedürfnisse und Probleme des jeweils anderen in den gemeinsamen Zielen ergeben kann. Das Wort von Karl Liebknecht gilt auch in diesem Zusammenhang: „Nicht ‚Einheit‘, sondern Klarheit über alles …. durch unerbittliche Aufdeckung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit, so geht der Weg“ (Spartakusbriefe, S.112).

Die Klarheit der Zielvorstellungen als Grundlage und Bedingung persönlicher Stabilität und des allgemeinen Engagements, die sich nur über die aktive Vertretung der Bedürfnisse in der Erweiterung der individuellen Handlungsmöglichkeiten herausbilden kann, ist somit zugleich die zentrale Voraus für die Offenheit der Mitmenschen untereinander und damit eindeutiger und zuverlässiger Beziehungen als Grundlage der vollen Realisierung menschlicher Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten.

Aus diesen Darstellungen folgt, daß Therapie nicht vorwiegend in der „Therapiestunde“ über Gespräche etc, bzw. als“ Behandlung“ des Klienten verlaufen kann, sondern in der Erweiterung der individuellen Handlungsräume im Kampf gegen die objektiven und subjektiven Entwicklungsbehinderungen bzw. in dem Schaffen der sachlichen und personalen Voraussetzungen besteht, diesen Kampf um die Durchbrechung der individuellen Isolation in Vertretung der subjektiven Lebensansprüche und um die Offenheit und Zuverlässigkeit der sozialen Beziehungen führen zu können.

Dieses Ziel der Erweiterung der Umweltbeziehungen, der Durchbrechung der individuellen Isolation und der Intensivierung der zwischenmenschlichen Beziehungen ist auch nicht über sogenannte gruppendynamische Therapieformen etc. zu erreichen, sondern steht in gewisser Weise in direktem Gegensatz zu diesen. „Gruppentherapie“ in dem üblichen Sinne kann zwar insoweit durchaus eine therapeutische Funktion haben, als der Klient in der unmittelbaren Erfahrung der Probleme der anderen dazu gebracht wird, seine eigenen Schwierigkeiten zu erkennen und zu verallgemeinern und diese nicht mehr als individuelles Schicksal zu erleben; sie führt aber zu nichts anderem als zu einem unverbindlichen Abreagieren individueller Frustration, einem gegenseitigem Bestätigen im Zustand der allgemeinen Entwicklungslosigkeit und zu einem kurzfristigen Erholen vom Zwang des Alltags, um sich diesem umso besser einfügen zu können, wenn sich die Erkenntnis der überindividuellen, d.h. der objektiven Bedingtheit, des subjektiven Leidens nicht in gezieltes Handeln zur Verbesserung der konkreten Lebensbedingungen umsetzt: Das eigentliche Therapieziel muß somit sein, über die relativ zufällige Gruppierung der Individuen unter dem gemeinsamen Leiden, die immer eine gewisse Abstraktion von den besonderen Bedingungen, damit aber die Unzugänglichkeit dieses Leidens impliziert, hinaus so schnell wie möglich die sozialen Beziehungen des Klienten in den je spezifischen Lebens- und Arbeitszusammenhängen und unter Berücksichtigung der realen Interessengemeinsamkeiten und -differenzen und in Realisierung der unter den besonderen Verhältnissen gegebenen objektiven Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, d.h. aber nicht lediglich die aktuelle Erleichterung vom Leiden, sondern langfristig die objektiven und subjektiven Voraussetzungen zu schaffen, um die Ursachen dieses Leidens zielbewußt, d.h. nicht im Rückzug von der konkreten Umwelt, sondern in aktiver Auseinandersetzung mit dieser, angehen zu können

Die eigenen Interessen zu erkennen und ihnen entsprechend handeln zu lernen, ist ein komplizierter Prozeß, in dem es in dem Bemühen um das Erfassen und die Artikulation der Bedürfnisse und der Überwindung der dieser Artikulation entgegenstehenden objektiven und subjektiven Barrieren zu „Übertreibungen“ emotioneller Reaktionen kommen wird und – da häufig nur in Zuspitzung der eigenen Emotionalität, d.h. der aktuellen Verdeutlichung des subjektiven Leidens an den gegebenen Verhältnissen, bestehende Denkbarrieren zu überwinden sind – auch kommen muß. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt, d.h. eine Konzentration auf die subjektive Befindlichkeit, ohne diese schon wieder auf ihre „Akzeptierbarkeit“ zu hinterfragen, ein volles Ausspielen der emotionalen Reaktionen ist somit eine wesentliche Zwischenstufe der Erkenntnisgewinnung. Zu dieser Hingabe an die Emotionalität, der Intensivierung der erlebten Umweltbeziehungen, wird es jedoch im allgemeinen nur dann kommen, wenn die damit verbundenen Risiken auf der Basis subjektiver Abgesichertheit, der prinzipiellen Handlungsfähigkeit gegenüber den zu erwartenden Gegenreaktionen aufgefangen und kompensiert werden können.

Die Zuspitzung der Emotionalität, d.h. die emotionale Verdeutlichung des Ungenügens der bestehenden Umweltbeziehungen ist also wesentliche Voraussetzung der Erkenntnisgewinnung, wie zugleich die Intensivierung des Erlebens ein Aufgeben der Unverbindlichkeit des Verhaltens, die Aktualisierung konkreter Handlungsimpulse und somit zugleich eine Verpflichtung zum Handeln bedeutet. Die mit der Realisierung des Leidens verbundene Auflehnung gegen die einschränkenden und das Leiden verursachenden Umweltbedingungen, d.h. die konkrete Vergegenwärtigung der allgemeinen Unterdrückung individueller Interessen und Bedürfnisse kann darüberhinaus zu einer generellen Auflehnung, zu einer bewußten Abschirmung gegenüber allen von den jeweiligen Autoritäten gestellten Anforderungen führen, die vorübergehend durchaus „über das Ziel hinausschießen“ und „unnötige“ Schwierigkeiten verursachen kann. Zu dieser allgemeinen Auflehnung bzw. Abschirmung gegenüber der Umwelt wird es solange kommen, wie der Klient noch nicht genügend Sicherheit und „Abstand“ gewonnen hat, die eigenen Bedürfnisse gegenüber anderen zu vertreten und deren Verhalten und die sich darin äußernden Interessen wiederum auf die objektiven Bedingungen ihrer Existenz zurückzuführen und damit in ihrer prinzipiellen Veränderbarkeit zu erkennen. Diese allgemeine Auflehnung wird der gezielten Interessenvertretung aber in dem Maße weichen, wie der Klient – auf der Basis der unmittelbaren Erfahrung seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten und der sich abzeichnenden Zielperspektive – soviel „innere Freiheit“ gewonnen hat, um auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der anderen eingehen bzw. an diesen ansetzen zu können, ohne Angst haben zu müssen, „aufgesogen“, von der eigenen Linie abgebracht zu werden und damit seine eigenen Bedürfnisse und Ziele, also sich selbst zu verraten.

Diese vorübergehende Abschirmen gegenüber den Anforderungen und Vorstellungen anderer ist in dem Maße objektiv notwendig, wie die Umwelt bzw. die Mitmenschen zur Stabilisierung ihres eigenen psychischen Gleichgewichts im allgemeinen darauf aus sein werden, den anderen so schnell wie möglich wieder „in Reih und Glied“ zu bringen, ihn in seinem Verhalten „vorhersehbar“ zu machen, d.h. festzulegen und damit an dem Herausfinden seiner spezifischen Interessen aktiv zu behindern, wobei sich das Individuum zugleich gegen die eigenen Tendenzen zum Nachgeben diesen Erwartungen gegenüber, zur Beendigung der Phase des Suchens, die immer mit einer allgemeinen Verunsicherung verbunden ist, aktiv zur Wehr setzen muß.

Wenn man also in der therapeutischen Aktivität die Austragung von Konflikten im vorgeblich wohlverstandenen Interesse des Individuums vermeiden will, so hindert man es in Wirklichkeit daran, in der Erkenntnis und Erweiterung seiner Interessen zur realistischen Einschätzung seiner Lebenslage zu kommen und dabei zu erkennen, wo die tatsächlichen Interessengegensätze liegen und auf welcher Seite es selbst steht. Damit erschwert man aber für die Individuen die Möglichkeit eines eindeutigen emotionalen Engagements im Bündnis mit jenen, die objektiv die gleichen Interessen haben und damit also auch die Gewinnung einer gesicherten und geklärten Basis der individuellen Entwicklung und Daseinserfüllung.

Die Gefahr, daß es über die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der die Interessengegensätze zunächst in aller Schärfe aufbrechen und aufeinanderprallen, eine subjektive Überforderung und somit statt eines Entwicklungsfortschritts ein Entwicklungsrückschlag erfolgt, ist zwar zu berücksichtigen, aber nicht durch das Zurückstecken individueller Lebensansprüche bzw. die Negation oder Abschwächung der subjektiven Befindlichkeit, sondern nur dadurch anzugehen, daß man den Klienten auf die Schärfe und Form und die Ursachen der Konflikte vorbereitet und die objektiven und subjektiven Bedingungen mit schaffen hilft, daß er die eigenen Anforderungen gegenüber den anderen zu vertreten und diesen gegenüber verständlich zu machen, u.U. aber auch gegen den äußeren Widerstand durchzusetzen lernt.

Da das Eingeständnis der Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und der mangelnden Möglichkeit ihrer Befriedigung immer die Erkenntnis der eigenen Schwäche und der Ungesichertheit der individuellen Existenz einschließt und diese Erkenntnis zugleich subjektiv belastend ist und die eingestandene Schwäche zudem unmittelbar gegen einen ausgespielt werden kann, besteht im allgemeinen nicht so sehr die Gefahr, daß sich der Klient blindlings in das „Kampfgetümmel“ stürzen wird. Weit eher wird er aufgrund seiner besonderen Konfliktscheu, die er nicht von heute auf morgen überwinden kann, die Tendenz haben, sich die eigenen Bedürfnisse nur insoweit einzugestehen, wie mit ihrer Realisierung keine Anforderungen verbunden sind und die Aggressionen nur in einer solchen Weise bzw. in solchen Situationen äußern, die die Umgehung der konkreten Auseinandersetzung erlauben. Die Aufgabe des Therapeuten wird somit im allgemeinen weit eher darin bestehen, den Klienten zur Auseinandersetzung mit der Umwelt in der aktiven Vertretung seiner Interessen zu ermutigen, als ihn vor „Übertreibungen“ bei dem Versuch der Ausweitung seiner Handlungsmöglichkeiten zurückzuhalten. Zur Verselbständigung einer allgemeinen Aggressivität wird es im wesentlichen nur dann kommen, wenn das Individuum nicht lernt, über die gezielte Auseinandersetzung mit der Umwelt sich für die Verbesserung seiner konkreten Lebensbedingungen einzusetzen und über deren Ursachen auch die eigene Aggressivität „abzubauen“.

So plausibel also die Politik des „maßvollen“ Vorgehens, der „bescheidenen, aber realistischen Ziele“ etc. – häufig als Bestreben definiert, den Klienten vor negativen Erfahrungen, bei denen er doch nur den kürzeren ziehen wurde, zu bewahren – auch klingen mag, so stellt sich dieses Problem überhaupt erst auf dem Boden einer prinzipiell falschen, d.h. nicht an der Entwicklung des Klienten orientierten Vorgehensweise, indem man quasi für diesen entscheidet, was sein Interesse ist. Diese Art der Vertretung der Interessen und Ziele des Klienten durch den Therapeuten ist immer auch eine Bewertung und Vorgabe der Interessen und Ziele des Klienten durch den Therapeuten, die gewöhnlich an dessen eigenem, mitunter recht beschränktem Entwicklungsstand ihre Begrenzung findet und dem hier aufgewiesenen Therapieziel der allgemeinen Erhöhung der Handlungs- und damit Erkenntnismöglichkeiten als prinzipieller Voraussetzung der selbständigen Interessenvertretung anstelle der Realisierung von außen herangetragener Vorstellungen und Anforderungen durch den Klienten diametral entgegensieht. Diese Art der Interessenvertretung läuft weit eher als auf die Verhinderung der Überforderung des Klienten auf die Verhinderung der Überforderung des Therapeuten durch den Klienten bzw. auf eine aktive Hemmung der Entwicklungsanstrengungen des Klienten durch den Therapeuten hinaus (s.u.).

Inwieweit eine Überforderung des Klienten tatsächlich eintritt, hängt aber zu einem nicht geringen Teil gerade von der Fähigkeit und Bereitschaft des Therapeuten ab, diesen im Kampf um die Erweiterung seiner Lebensbedingungen aktiv zu unterstützen, d.h. ihn auf die zu erwartenden Konflikte vorzubereiten und in aktuellen Schwierigkeiten seine Partei zu ergreifen, ihm „den Rücken zu stärken“, statt „um des Friedens willen“ und unter dem Druck der aktuellen Gegenreaktionen von als durchsetzbar erkannten Zielvorstellungen abzurücken, die Interessen des Klienten angesichts der diesen entgegenstehenden Gewalten zu verleugnen und aufzugeben.

Ganz generell werden aktuelle „Überforderungen“ sowohl des Klienten selbst als auch seiner sozialen Umwelt (einschließlich des Therapeuten) nicht vermeidbar, in gewisser Weise sogar notwendig sein, um einerseits die eigenen reaktiven, d.h. die weiteren Ziele beeinträchtigenden Verhaltensweisen der unmittelbaren Anpassung und Unterwerfung erkennen und damit im künftigen Handeln besser berücksichtigen zu können und zum anderen, um die ideologischen Verbrämungen der jeweiligen Anforderungen und Verhaltensweisen der anderen zu durchbrechen, hinter den vorgegebenen Gründen ihres Verhaltens die objektiven und subjektiven Barrieren ihrer Existenz erkennbar werden zu lassen und damit der Situation besser gerecht zu werden. Dabei wird jedoch im allgemeinen nicht so sehr die konkrete Überforderung, sondern vielmehr die Frage von Bedeutung sein, inwieweit man aus dieser Situation der Überforderung die Konsequenzen zu ziehen vermag, d.h. die Situation der Ausgeliefertheit und der eigenen Hilflosigkeit für die Zukunft vermeidbar bzw. überwindbar zu sein scheint. Zum „Trauma“ wird die Situation der Überforderung im allgemeinen nur dann, wenn der Klient keine Möglichkeiten hat, diese Situation auf ihre Bedingungsmomente hin zu analysieren und damit prinzipiell angehbar zu machen.

Dem Klienten die Ziele seines Handelns nicht vorzugeben, heißt somit nicht, ihm keine Wege und Handlungsmöglichkeiten zu weisen, Anregungen zu geben, Interpretationen etc. anzubieten bzw. keine Anstrengungen zu machen, die Bedingungen, die die Eigeninitiative des Klienten anregen und weiterbringen, zu systematisieren und in die Therapie einzubringen. Wesentlich ist nur, daß dem Klienten die Überprüfung der Ziele und Anforderungen, die unmittelbare Erfahrung ihres subjektiven Werts als Grundlage weiterreichender Entscheidungen überlassen bleiben muß, er nicht im angeblich eigenen Interesse auf konkrete Ziele festgelegt wird und aus dieser Erfahrung heraus mehr und mehr auf das Einbringen seiner Bedürfnisse und Interessen verzichtet und damit der Therapiefortschritt unmöglich wird.

Die „Erfolgschancen“ der Therapie stehen dabei immer im unmittelbaren Zusammenhang mit den objektiven Entwicklungsbedingungen und sind entsprechend gering, wenn die dem Klienten zur Verfügung stehenden Alternativen zum Zustand der konkreten Krankheit noch trostloser als dieser selbst sind. Allerdings kann schon die Analyse der Situation vom Standpunkt des Klienten aus, indem er sich – mit Hilfe des Therapeuten – bewußt zu diesen objektiven Entwicklungsbehinderungen in ihrer Auswirkung auf seine subjektive Situation zu verhalten lernt, insofern für ihn bereits zu einer prinzipiell veränderten Situation fuhren, als er sich in der emotionalen Einschätzung seiner Lebensbedingungen unmittelbar ernstgenommen sieht und nicht zusätzlich für sein Leiden an ihnen verantwortlich gemacht wird und aus dieser Erfahrung heraus u.U. sogar ein erneuter subjektiver Entwicklungsansporn gesetzt ist.

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig hervorzuheben, daß wir nicht, wie mitunter mißverstanden wird, der Auffassung sind, in der unmittelbaren Erfahrung der Widerständigkeit und Widersprüchlichkeit der konkreten Realität entstehe schon Klassenbewußtsein. „Klassenbewußtsein“ ist eine den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungs- und Erkenntnisstand widerspiegelnde objektive Kategorie, d.h. entspringt nicht den einzelnen Subjekten, sondern ist diesen auf einem bestimmten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung als Erkenntnismöglichkeit, als Teil des gesellschaftlichen Wissens, vorgegeben, zu welchen sich die Individuen, in Abhängigkeit von ihrer konkreten objektiven und subjektiven Situation, wiederum mehr oder weniger bewußt verhalten können. Im Mittelpunkt unserer Ausführungen steht somit nicht die Entwicklung des Klassenbewußtsein und auch nicht primär die Frage nach der Aneignung des Klassenbewußtseins durch das Subjekt, sondern viel allgemeiner die Frage der Art und Weise und der Bedingungen der Realisierung oder auch Verdrängung und Entstellung objektiver Erkenntnismöglichkeiten durch das Subjekt in Abhängigkeit von den antizipierten Handlungsfolgen und den objektiven und subjektiven Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Dabei kann allerdings auch „Klassenbewußtsein“, indem man es von der Umsetzung in die konkrete Praxis fernhält, durchaus entschärft, zu einem fortschrittlichen Umhängeschild bei reaktionären Praxis werden.

10. Zur Problematik der Funktionalität traditioneller psychologisch-therapeutischer Konzeptionen zur Absicherung der Existenz des Therapeuten, damit der „therapeutischen“ Entwicklungsbehinderung des Klienten

Eine wesentliche Bedingung für die Fähigkeit des Individuums, im therapeutischen Prozeß seine Abschirmung und Verkrustung, d.h. sein Mißtrauen gegenüber der Umwelt aufzubrechen und seine Bedürfnisse zu artikulieren, womit es sich zugleich immer angreifbar und verwundbar macht, ist die absolute Zuverlässigkeit, d.h. Offenheit und damit Vertrauenswürdigkeit des Therapeuten, die sich in dessen Bereitschaft zeigt, seinen Klienten im Kampf um die Erweiterung seiner Lebensmöglichkeiten unmittelbar zu unterstützen, d.h. dessen Probleme emstzunehmen, sie keiner oberflächlichen, für diesen uneinsichtigen oder an zufälligen Erwartungen anderer ausgerichteten Zensur zu unterwerfen, sondern die Bedingungen und Konsequenzen ihrer Umsetzung als einzig zuverlässige Basis der Beurteilbarkeit ihres Befriedigungswertes durch den Klienten selbst mit schaffen zu helfen. Wie auf der Grundlage ungeklärter Emotionen keine bewußte Stellungnahme, damit kein eindeutiges Handeln möglich ist, so gewinnt die Analyse der Emotionen andererseits nur einen Sinn, sofern die dabei gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt und an dieser erprobt werden können. Gerade in der Unterstützung dieser Praxis des Klienten muß somit, wie dargestellt, eine wesentliche Funktion des Therapeuten bestehen.

Wenn psychische Störungen die Konsequenz einer besonderen Zuspitzung negativer Faktoren darstellen, die allgemein kennzeichnend sind für die Situation großer Teile der Bevölkerung unter bürgerlichen Verhältnissen und die ihre gemeinsame Ursache in der individuellen Ohnmacht und Ausgeliefertheit an die relevanten Lebensbedingungen haben, so muß man annehmen, daß die Therapeuten in der Regel, da sie sich ja (unabhängig davon, wie sie sich selbst sehen) von anderen Menschen nicht prinzipiell unterscheiden, der gleichen Situation der Ohnmacht und Ausgeliefertheit (wenn auch vielleicht nicht in ihrer „pathogenen“ Zuspitzung) sein werden wie ihre Patienten. Dies bedeutet, daß unter solchen Umständen die „durchschnittlichen“ Therapeuten genau so wenig Einfluß und Durchblick haben wie andere Menschen und somit darauf aus sein müssen, sich innerhalb der allgemein undurchschaubaren und der bewußten Einflußnahme entzogenen Verhältnisse einen kleinen Bereich der Handlungsfähigkeit als Voraussetzung der individuellen Existenzsicherung zu erhalten. Man wird sich somit überlegen müssen, inwieweit die Spezifik der Situation und Funktion des Therapeuten und die sich daraus ergebenden Konflikte sich in besonderem Maße auf sein Verhalten gegenüber dem Patienten und dessen Entwicklungsmöglichkeiten auswirken können.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Problematik des zwischen den großen Klassenauseinandersetzungen lavierenden kleinbürgerlichen Bewußtseins sich für den Psychologen/Therapeuten im allgemeinen noch dadurch besonders verschärfen muß, daß ihm unter kapitalistischen Verhältnissen diese lavierende Position nicht nur aufgrund seiner ökonomischen Lage – als Kleinunternehmer und Lohnabhängiger in einer Person oder aber auch als Lohnempfänger im besonderen Abhängigkeits- und Privilegiertheitsverhältnis -, sondern durch die gesellschaftliche Funktionsbestimmung seiner Tätigkeit quasi per Amt zukommt. Der psychologische Therapeut wird gewöhnlich zur Vermeidung und Lösung von Konflikten bzw. Schwierigkeiten, die in der Anpassung an die vorgegebenen Lebensbedingungen entstehen, herangezogen und von denen in den Dienst genommen, die an der Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit des Individuums unter den bestehenden Verhältnissen ein besonderes Interesse bzw. die Mittel für den Kauf dieser Dienste haben und für ihr Geld auch einen entsprechenden Nutzen, keinesfalls aber zusätzliche Schwierigkeiten haben wollen.

Der Psychologe/Therapeut, sofern er dieser ihm auferlegten Funktion gerecht werden will, muß also einerseits auf die psychischen Schwierigkeiten des Klienten eingehen, aber nur soweit, wie sie diesen bei der Erfüllung der ihm gestellten Erwartungen und Anforderungen behindern bzw. ein Kosten verursachender Faktor sind. Dies gilt auch da, wo der Patient selbst der Auftraggeber ist und die Therapie von ihm bezahlt wird. Seine Schwierigkeiten sind, wie dargestellt, ja gerade ein besonderer Ausprägungsgrad der „freiwilligen“ Unterwerfung unter fremde Interessen und der daraus entstehenden und verdrängten Konflikte, so daß er zunächst an die Therapie ebenfalls die Erwartung richten wird, ohne das Risiko des Widerspruchs zu den Mächtigen, also im Rahmen der bestehenden Abhängigkeit, wieder funktionstüchtig gemacht zu werden. Damit besteht für den Psychologen/Therapeuten immer die Gefahr, daß ihm bei Nichterfüllung derartiger Erwartungen der Klient unmittelbar entzogen wird bzw. sich ihm selbst entzieht und er somit nicht nur daran gehindert ist, dessen Interessen wahrzunehmen, sondern zugleich seine eigene ökonomische Grundlage bedroht sehen muß. Auch die allgemeine Charakteristik des Kleinbürgers als „Sozialist“ und „Ökonom“ zugleich, als eines Menschen, der innerhalb bestehender Machtverhältnisse „Gutes“ tut, findet somit in der spezifischen Position des Psychogen ihre besondere Zuspitzung.

Die in unseren früheren Darlegungen skizzierten Ziele der ungebrochenen Unterstützung des Klienten zur Entwicklung seiner praktischen Einsicht in die subjektive Notwendigkeit der Aufhebung des Zustandes der Ausgeliefertheit als Voraussetzung der wirklichen Überwindung seiner Schwierigkeiten werden unter bürgerlichen Verhältnissen infolge der dadurch ausgelösten Konflikte mit den Auftraggebern bzw. den verschiedenen die Entwicklung oder das Verhalten regulierenden Instanzen immer auch eine relative Verunsicherung der Existenz des Therapeuten beinhalten, auf welche dieser, wenn nicht entsprechend vorbereitet, mit Angst und Panik bzw. Abwehrmechanismen reagieren und damit die Entwicklungsanstrengungen des Klienten erheblich behindern oder auch im Keim ersticken kann.

Diese individuelle Abwehr gegenüber Konflikten ist nun im allgemeinen durch die „gesellschaftliche“ Verarbeitung der therapeutischen Situation in der jeweiligen Theorie oder Therapieform aufgehoben, so daß die Situation der Konfliktzuspitzung, d.h. der unmittelbaren Erfahrung der prinzipiellen Interessengegensätze und notwendig werdenden „Kämpfe“ bzw. Auseinandersetzungen und die damit verbundenen Risiken und Ängste von vornherein vermieden werden, der Psychologe/Therapeut auf relativ „unbelastete“, d. h. konfliktfreie Weise sein Brot verdienen kann. Da der Kleinbürger, wie es Marx auf den Begriff bringt, stets „durch die Theorie rechtfertigen (muß), was er in Praxis ist“ (MEW 16, 30/3 1), sind die jeweiligen psychologisch-therapeutischen Ansätze somit immer auch daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie wirklich an der Entwicklung des Klienten orientiert sind oder aber wesentlich auf eine allgemeine Absicherung und Erleichterung der Existenz des Therapeuten hinauslaufen bzw. inwieweit diese Möglichkeit zur Absicherung therapeutischer Existenz gerade ein wesentlicher Faktor bei der Durchsetzung und Verbreitung bestimmter Theorien und Techniken ist.

Die allgemeine Ausklammerung der objektiven gesellschaftlichen Lebenslage, die Rückführung aller Störungen auf frühkindliche Konflikte, der Rückzug der Therapie auf die Therapiestube und auf die bloß verbale Ebene, das Rollenspiel, der „freie“ Ausdruck der Emotionen unabhängig von der Auseinandersetzung mit den konkreten Umweltgegebenheiten und Entwicklungsbehinderungen, wie z.B. für die Psychoanalyse, Gesprächstherapie und ähnliche Konzepte typisch, oder auch die Festlegung des Klienten auf von außen gesetzte (und u.U. vom Klienten auf von außen gesetzte ( und u.U. vom Klienten übernommene) Ziele, die unmittelbare Aufhebung bzw. das Wegdressieren umrissener Symptome, die Beseitigung herausgehobener „Defizte“ zum Zwecke des besseren Funktionierens unter den gegebenen Verhältnissen, wie es für die Verhaltenstherapie o.ä. im allgemeinen charakteristisch ist, sind unter Aspekt der Absicherung der psychologisch-therapeutischen Existenz genau zu analysieren.

Auch die verschiedenen Diskussionen zum Therapeut-Patient-Verhältnis, zum Problem der wechselseitigen Beziehungswünsche, der Übertragung, der Angst vor Veränderungen beim Patienten und Therapeuten, der Ohnmacht des Therapeuten, die Bedürfnisse des Patienten zu befriedigen und die daraus entstehenden „Schuldgefühle“ (s. z.B. Searles 1961) etc. sind als abgeleitete Phänomene dieser allgemeinen Strategie der Konfliktvermeidung zu sehen, in der die mögliche Entwicklung des Klienten durch den Therapeuten infolge seiner eigenen Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, und der dadurch verursachten Angst behindert wird und die wesentlich die Funktion der Ablenkung von der realen Involviertheit des Therapeuten in die Problematik des Patienten durch Fixierung auf weniger brisante Nebeneffekte und Randerscheinungen hat. Es kann in diesem Zusammenhang nicht weiter auf diese These eingegangen werden; genauere Ausführungen hierzu werden in späteren Publikationen erfolgen.

Mag es für bestimmte Berufe durchaus möglich sein, sich innerhalb der konkreten berufsspezifischen Arbeit aus der aktiven Politik herauszuhalten, so gilt das mit Sicherheit nicht für den Psychologen, dessen „natürliche“ Funktion unter kapitalistischen Lebensbedingungen – wie gesagt – die Schlichtung von Konflikten, Behebung von Anpassungsschwierigkeiten, die Freisetzung von „human resources“ etc. ist und dessen Arbeit durch überlieferte Theorien und Methoden aktiv auf die Rechtfertigung und Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse ausgerichtet und somit immer auch unmittelbar politisch ist. Über diese objektive Funktion der allgemeinen Anpassung kann man sich keineswegs per gutem Willen oder Entscheidung für den Sozialismus oder ein Arbeiten „im Dienste der werktätigen Bevölkerung“ hinwegsetzen. Es gilt vielmehr, das allgemeine Bewußtsein über die gegebenen Entwicklungsbehinderungen und die daraus erwachsenden psychischen Schwierigkeiten für den Psychologen auch in seiner alltäglichen, konkret-psychologischen Praxis umzusetzen.

Die Alternative zum relativ beschwerlichen Weg der rückhaltlosen Unterstützung der Entwicklung des Klienten in der Erweiterung seiner objektiven Lebensbedingungen, die zunächst immer ein Durchbrechen bestehender Abhängigkeitsbeziehungen (die später, so weit wie möglich, in kooperative Beziehungen zu überführen sind) und deren ideologischer Verschleierung bedeutet und in dieser Phase der Konfliktzuspitzung sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten durchaus existentiell bedrohliche Folgen haben kann, ist es, innerhalb der bestehenden Verhältnisse auf der einen Seite der allgemeinen Versöhnung und Unterwerfung und auf der anderen Seite der allumfassenden Menschenliebe, der Großzügigkeit gegenüber den Unterworfenen, d.h. der Wohltätigkeit und Milderung der Abhängigkeit und Ausbeutung das Wort zu reden, wie dies z.B. bei Maslow als Vertreter der humanistischen Psychologie in besonders krasser Form deutlich wird, aber offensichtlich für Psychologen/Therapeuten als besonderer Ausprägung des von Marx und Engels analysierten Kleinbürgers ganz allgemein charakteristisch ist, die in ihrer für kapitalistische Verhältnisse typischen Funktion der allgemeinen Konfliktmanager und Priester der „Vernunft“ gerade in den bestehenden Konflikten ihre äußere materielle Existenzsicherung und „innere“ Daseinserfüllung finden.

Die Zuspitzung dieser allgemeinen Haltung, unter den gegebenen Bedingungen in einer Weise „Gutes zu tun“, die die Beziehungen zu den Mächtigen und damit die individuelle Existenz zunächst nicht bedroht, kommt zum Ausdruck in der in einer Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens vom 12.9.76 und 16.9.77 gemachten Aussage des Vaters eines KZ-Arztes zu der Frage, warum der Arzt sich zu dieser „Aufgabe“ überhaupt bereitfand: Er habe nirgends auf der Welt so viel Gutes wie gerade im KZ leisten können, da ihm hier die Möglichkeit gegeben war – natürlich innerhalb des vorgegebenen Rahmens – u.U. etwas „großzügiger“ als andere bei der Auslese der Häftlinge für medizinische Experimente zu verfahren. Daß damit gewöhnlich nichts weiter als eine grausame Verzögerung der Ermordung erreicht war, wurde offensichtlich aus dem Gedankengang ausgeblendet, zumindest nicht artikuliert. Stattdessen wurde quasi als Beweis seiner Menschlichkeit – auf die seelische Belastung des KZ-Arztes durch diese Aufgabe verwiesen, die es erforderlich machte, seine Familie vor Ort zu holen, um ihn für diese schwere Arbeit psychisch aufzurüsten. Dieses Beispiel mag übertrieben, in diesem Zusammenhang „unpassend“ etc. klingen. Doch die Frage ist, inwieweit nicht in so solchen Zusammenhängen die Angst vor „Übertreibungen“ generell die Angst vor dem Erkennen möglicher langfristiger Folgen der gegenwärtigen Verhältnisse bedeutet, über das eine mit persönlichen Risiken verbundene Änderung des jetzigen Verhaltens notwendig würde und ob nicht in der Haltung des Kopf-in-den-Sand-Steckens sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihrer Verbreitetheit das weit größere Problem liegt.

Die von Marx und Engels hervorgehobene, das kleinbürgerliche Bewußtsein kennzeichnende Angst vor Extremen, d.h. der Hang zur Mittelmäßigkeit bzw. Durchschnittlichkeit und zum Unauffälligbleiben – der bei bruchloser Übernahme der zwischen den verschiedenen Seiten des Konflikts vermittelnden allgemein schlichtenden Funktion des Psychologen/ Therapeuten jeder Emanzipationsbemühung, die unter den Verhältnissen allgemeiner Unterdrückung im gewissen Sinne immer eine Abkehr von den „normalen“ Verhaltensweisen impliziert, grundsätzlich im Wege stehen muß -, macht jedoch auch nicht vor demjenigen halt, der sich bewußt um die Unterstützung des Klienten bei der Erweiterung der objektiven Lebensbedingungen bemüht. Die durch die bürgerlichen Theorien und Therapieformen über die allgemeine Konfliktvermeidung kompensierte bzw. umgangene Angst wird vielmehr bei dem in materialistischen Therapiekonzeptionen fundierten Bemühen um die Erweiterung der Fähigkeiten des Klienten zum Annehmen und Durchstehen von Konflikten in Abhängigkeit von den antizipierten bzw. erfahrenen objektiven Schwierigkeiten – voll zur Auswirkung kommen und muß gezielt aufgefangen werden, um ein Zurückfallen des Therapeuten auf individuelle oder auch gesellschaftlich angebotene Abwehrmaßnahmen, die zur Barriere der Entwicklungsbemühungen des Klienten werden, bewußt zu verhindern. Die Gefahr besteht im allgemeinen darin, daß auch der politisch bewußte Psychologe/Therapeut, da die Bewußtheit nicht schon als solche über die objektiven Schwierigkeiten hinweghilft, in dem Maße wie sich die Entwicklung des Klienten seiner Kontrolle entzieht, nicht mehr ohne weiteres von ihm vorhersehbar und steuerbar ist und er selbst in die Auseinandersetzungen des Klienten unmittelbar hineingezogen zu werden droht, die „Therapie“ automatisch vorrangig durch die eigenen Interessen und Ängste bestimmen läßt, das eigene Sicherheits- und Erfolgsstreben dem Klienten überstülpt und zur prinzipiellen Konfliktvermeidung im scheinbaren Interesse des Klienten dessen Emanzipationsbestrebungen auf dem Boden der Realität bzw. des unmittelbar „Machbaren“ zurückhält, mithin an den vorgegebenen Entwicklungsmöglichkeiten bzw. -behinderungen orientiert. Über diesen Pragmatismus der kleinen, den subjektiven Möglichkeiten des Therapeuten selbst angemessenen Schritte bzw. der „Vernunft der Anpassung“ wird dann das zentrale Therapieziel der Entwicklung der Einflußmöglichkeiten, damit der bewußten Mitverantwortung des Klienten für die konkreten Lebensverhältnisse bzw. die Konkretisierung und Vertretung seiner eigenen Bedürfnisse und Interessen mehr und mehr aus dem Auge verloren.

Der Ausweg aus der Situation der möglichen Entwicklungsbehinderung des Klienten durch den Therapeuten kann jedoch nicht in dem allgemeinen Appell bestehen, weniger ängstlich zu sein. Die spezifischen Schwierigkeiten, Begrenzungen, Ängste der Therapeuten sind vielmehr als Realität voll in die Therapie einzubeziehen, aber nicht derart, daß man per allgemeiner Diskussion eine aktuelle Entlastung oder veränderte Einstellung ihnen gegenüber zu erreichen sucht, und auch nicht dadurch, daß man sie dem Klienten zusätzlich zu seinen eigenen Schwierigkeiten aufbürdet, sondern indem man sie über die Veränderung ihrer objektiven Ursachen selbst prinzipiell zu verändern sucht. Dabei kann der Therapeut in dem gezielten Angehen der objektiven Ursachen seiner subjektiven Schwierigkeiten u.U. durchaus Vorbild für seinen Klienten sein, auf jeden Fall aber wird er über die aktive Erweiterung seiner Handlungsräume seine therapeutische Qualifikation unmittelbar erweitern und sonst auch dem Klienten im erhöhten Maße hilfreich sein können.

Die Anstrengungen sind somit darauf zu richten, reale Bedingungen zu schaffen, unter welchen der Therapeut objektiv existentiell weniger abhängig ist, er seine Ängste durch den Ausbau seiner Handlungsmöglichkeiten und kooperativen Beziehungen auffangen und sich zu der Gefahr der Unterwerfung unter die vorgegebenen Lebensbedingungen und den daraus resultierenden Konsequenzen für seine Klienten bewußt verhalten kann. Im Wissen um diese hier dargestellten Zusammenhänge gilt es z.B., die therapeutische Einzelpraxis (einschließlich der üblichen „Gruppentherapie“) als Verfestigung individueller Ohnmacht und der damit verbundenen reaktiven Tendenzen aufzuheben und Gegenmodelle und Alternativen zu entwickeln, in welchen durch organisatorischen Zusanunenschluß, u.U. unter Einbeziehung von Sozialarbeitern, Juristen etc., Verlegung der Therapie aus der „Stube“ des Therapeuten in die reale familiale und berufliche Lebenssituation des Klienten, Bündnisse mit fortschrittlichen, etwa gewerkschaftlichen Kräften etc., die Möglichkeit der Veränderung der wirklichen Lage des Klienten als zentraler Bestandteil der Therapie verbessert wird (Ansätze dazu, etwa in den Projekten des Psychologischen Instituts der FUB, kann ich hier nicht diskutieren). Mit der Realisierung derartiger Modelle sind zwar die geschilderten Schwierigkeiten nicht aus der Welt zu schaffen und ist auch nicht die unbehinderte Entwicklung des Klienten bzw. Therapeuten zu garantieren, aber immerhin eine breitere und stabilere Basis der Umweltauseinandersetzung und damit die Voraussetzung für eine Erhöhung der Risikobereitschaft des Therapeuten und damit letztlich auch des Klienten zu schaffen.

Wir haben bisher die Problematik „theoretisch“ abgesicherter Konfliktvermeidungsstrategien der Therapeuten in ihrer Auswirkung auf die Therapie und damit den u.U. möglichen Therapieerfolg diskutiert. Eine scheinbar entgegengesetzte Lösung des Dilemmas des Psychologen/ Therapeuten in der bürgerlichen Gesellschaft, die besonders von bestimmten sich als politisch bewußt verstehenden Psychologen empfohlen wird, besteht in der systematischen Trennung von konkret psychologischer Theorie/Praxis und „fortschrittlicher“ bzw. „revolutionärer“ politischer Tätigkeit. Genauer besehen ist diese „Lösung“ (die mit der oben geschilderten Variante keineswegs in einem Ausschließungsverhältnis stehen muß) jedoch trotz ihres „radikalen“ Gewandes letztlich eine noch wesentlich konsequentere individuelle Konfliktvermeidungsstrategie als die vorher diskutierte.

Die Trennung von beruflicher und „politischer“ Arbeit des Psychologen führt nämlich zwangsläufig dazu, daß man unter dem Druck der unmittelbaren Anforderungen in der psychologischen Arbeit, u.U. mit „sozialistischer“ Gesinnung, dennoch zu den herkömmlichen Techniken der Anpassung greift, d.h., wie Marx es nennt, sich in der Praxis durch die unmittelbar ökonomischen Interessen bzw. die Interessen der Ökonomie bestimmen läßt, den Sozialismus nur noch im Herzen bzw. auf der Zunge trägt oder, wie für den Linksopportunismus typisch, gar zur Rechtfertigung der eigenen „kapitalistischen“, d.h. objektiv dem Kapital dienenden Praxis nimmt, indem man sich vor dem hohen Anspruch des Alles oder Nichts, der Scheinalternative zwischen Reform und Revolution in der unmittelbaren Praxis für das Nichts, also für das Bestehende und damit für den Kapitalismus entscheidet. Damit setzt man anstelle des konkreten Handelns, der gezielten Anstrengung zur Verbesserung auch der Situation des Klienten, nur das allgemeine Lamentieren und mißbraucht faktisch die Klienten materiell und ideell für die eigenen privaten Zwecke. Das Engels-Wort über die abstrakten Gegner der Philosophie, die sich über die Philosophie soweit erhaben dünken, daß sie es für überflüssig erachten, sich überhaupt noch mit ihr auseinandersetzen zu müssen, gilt auch hinsichtlich der Psychologie: „Und die, die am meisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven gerade der schlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophie“ (NMW 20, 480). Die Trennung von „höherem“ politischem Bewußtsein und spontaner, unreflektierter psychologischer Praxis führt hier zwangsläufig zur Hohlheit der politischen Phrase auf der einen und zu konservativer bis reaktionärer Praxis auf der anderen Seite und hat aufgrund der durch diese Trennung bedingten Perspektivlosigkeit und Ineffektivität des eigenen Handelns flaches und inkonsistentes Engagement sowohl in der psychologischen wie der politischen Tätigkeit zur Folge.

In dem Konflikt, nach Möglichkeit Gefährdungen der Existenz sowohl des Klienten als auch des Therapeuten zu vermeiden, zugleich aber nicht den kurzfristig bequemen Weg der Anpassung zu gehen, gibt es mit Sicherheit keine Patentlösung. Wesentlich ist nur, daß man sich dieses Problems bewußt wird, es überhaupt erst einmal zum Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Analysen macht, um das allgemeine Wissen um die Auswirkung kapitalistischer Klassenrealität auf die Persönlichkeitsentwicklung auch im alltäglichen Handeln in die richtige Praxis umsetzen zu können.

Die damit diskutierten beiden Varianten der Gefahr des Abgleitens in Konfliktvermeidungsstrategien für politisch bewußte Psychologen/Therapeuten lassen sich als Spezialfall der allgemeinen rechts- und linksopportunistischen Tendenzen in der politischen Bewegung verstehen.

So ist nach Engels das „Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über die augenblicklichen Interessen des Tages“ das Zentralproblem des Opportunismus, wobei, wie er darstellt, „dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, das Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen … ehrlich gemeint sein“ kann: „Aber Opportunismus ist und bleibt es, und ehrlicher Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen“ (MEW 22, 234). Andererseits hätten es aber die „wahren Sozialisten“, denen es im Kampf um den Sozialismus – schon aufgrund ihrer privilegierten Position, des fehlenden Existenzdruckes – „nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit“ gehe und denen zufolge jeder politische Fortschritt, weil er der Bourgeoisie nutzt, von Übel ist, „die revolutionärsten Sätze, die je aufgestellt wurden, zu einem Schutzwall für den Morast des deutschen Status quo“ zu machen verstanden und seien damit „durch und durch reaktionär“ (MEW 4, 41).

Das allgemeine Problem, daß unter kapitalistischen Bedingungen die Handlungsmöglichkeiten des Individuums „abstrakt“, dem Anspruch nach bestehen, real aber im allgemeinen außerordentlich beschränkt sind, eine fundierte Ausrichtung des individuellen Lebens an bewußt übernommenen Zielen auf der Grundlage der Erkenntnis auch ihres subjektiven Werts in der Realität radikal behindert ist (eine Situation, die unter Bedingungen der zunehmenden Arbeitslosigkeit, die sich bis in die frühesten Entwicklungsstadien hinein auswirkt, noch eine besondere Zuspitzung erfährt), kam nicht die allgemeine Resignation, sondern sinnvollerweise nur den Kampf um die Aufhebung der die Entwicklung behindernden Verhältnisse zur Folge haben. In diesem Kampf muß der Psychologe/Therapeut sein Spezialwissen um die zerstörenden Auswirkungen der allgemeinen Perspektivlosigkeit und Ausgeliefertheit an die vorgegebenen Lebensbedingungen für die davon betroffenen Menschen einbringen und in entsprechende politische Forderungen wie in unmittelbar politisches Engagement umsetzen. Dabei sind, wie oben angeführt, zum einen die auch unter den gegebenen Verhältnissen bestehenden Entwicklungsmöglichkeiten im Interesse des jeweiligen Individuums voll zu realisieren, erwachst zum anderen aber gerade aus der unmittelbaren Erfahrung der objektiven Beschränkung subjektiver Lebens- und Erlebnismöglichkeiten der spontane Ansporn zum politischen Kampf um Aufhebung dieser die allgemeine Entwicklung behindernden Verhältnisse und diesem Kampf die nötige Kraft und Ausdauer.

Es gilt hier somit, die objektiven Begrenzungen der individuellen Entwicklung und damit des therapeutischen Handelns immer auf zwei Ebenen zu bekämpfen: auf der Ebene der Erweiterung der Einflußmöglichkeiten und der Lebensansprüche des je individuellen Klienten, die eine kooperative Erweiterung des Einflußmöglichkeiten und der Existenzsicherung des Therapeuten zur Überwindung seiner eigenen Isolation und Ohnmacht und der daraus erwachsenden Unterwerfungstendenzen zur Voraussetzung hat; und auf der Ebene des in die allgemeine politische Bewegung und den ideologischen Kampf einzubringenden Wissens über die vielfältigen Formen der gesellschaftlich bedingten Unterdrückung individueller Entwicklungsmöglichkeiten in ihrer Auswirkung auf die Befindlichkeit und Persönlichkeit der Menschen.

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