Zum Verhältnis zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und individuellem Lebensprozeß

Veröffentlicht in: Konsequent, Diskussions-Sonderband 6, Streitbarer Materialismus, Berlin (West), 29-40. Download (PDF, 422 KB): kh1984a.pdf


Klaus Holzkamp

I.

„Streitbarer Materialismus“, wie er im Motto dieses „Konsequent„-Bandes angesprochen ist, sieht sich bei seiner permanenten Anstrengung, den beschränkten Erkenntnisgehalt bürgerlicher Positionen und deren dadurch bedingte Verhaftetheit im kapitalistischen Klassenstandpunkt aufzuweisen, immer wieder Auffassungen gegenüber, durch welche er selbst in seine Schranken verwiesen werden soll: der Meinung nämlich, daß die marxistische Herangehensweise als essentiell ökonomische Analyse notwendig mindestens da ihre Grenzen findet, wo es nicht lediglich um die Lebensumstände des Menschen, sondern um ihn selbst, seine psychophysischen Dispositionen, seine biologische Ausstattung, seine vitalen Bedürfnisse, kurz seine „Natur“ geht. Derartige Ansichten sind nicht nur impliziert bei der Vielzahl alltagspsychologischer oder wissenschaftlich gemeinter Vorstellungen, in denen nicht einmal die Lebensbedingungen der Individuen als ökonomischer Analyse bedürftig, sondern als bloße „Reizwelt“, natürliche „Umwelt“ o. ä. verstanden werden, sondern auch in den vielfältig nuancierten Konzeptionen mit materialistischem Anspruch, die zwar die „Verhältnisse“ des Menschen marxistisch begreifen wollen, zur Erfassung seiner „Natur“ aber auf andere, speziell subjektwissenschaftliche Ansätze außerhalb des Marxismus, etwa die Psychoanalyse, zurückgreifen – ja selbst in der Praxis vieler Marxisten, sich gegenüber „psychologischen“ Fragen schlicht für unzuständig zu erklären und sie „den Psychologen“ zu überantworten.

Kann man sich als „streitbarer Materialist“ darauf einlassen, seine Streitbarkeit angesichts der „menschlichen Natur“ und ihrer wissenschaftlichen Erfassung zu suspendieren? Dies verbietet sich nicht nur angesichts der Perspektive des Marxismus, die gesamte menschliche Erkenntnis und dadurch angeleitete Praxis durch ihre Befreiung von den Fesseln der bürgerlichen Ideologie auf eine historisch neue Stufe zu heben, womit sich „Zuständigkeitsfragen“ hier prinzipiell nicht stellen können: Es wäre auch diesseits solcher grundsätzlicher Erwägungen eine merkwürdige „Bescheidenheit“, wenn einerseits für den Marxismus der Mensch im Mittelpunkt steht, aber andererseits Marxisten meinen, sie brauchten oder könnten über die Menschen in ihrer vollen, sinnlichen Wirklichkeit nichts Spezifisches aussagen.

Wenn also der dialektische Materialismus auch gegenüber allen Einlassungen über das Psychische oder die „Natur“ des Menschen potentiell „streitbar“ bleiben muß, so setzt dies voraus, daß in der marxistischen Theorie selbst dazu die Möglichkeiten bestehen oder aus ihr entwickelt werden können. Mehr noch: Da der Marxismus ja tatsächlich und unbezweifelbar eine Theorie ist, in der die Analyse ökonomischer Verhältnisse und Bewegungen einen zentralen und nicht relativierbaren Platz einnimmt, müßte hier die ökonomische Analyse so gefaßt und der Begriff der „Ökonomie“ dabei so bestimmt werden können, daß auch die Aussagen über die „menschliche Natur“ als Resultate (im weitesten Sinne) „ökonomischer“ Analyse begriffen und begründet werden können. Wie aber kann dies geschehen?

Man kommt, wie viele vergebliche Versuche gezeigt haben, in dieser Richtung nicht weiter, wenn man nur die Marxsche „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ zugrunde legt und versucht, in der Auseinandersetzung und Spezifizierung der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise bzw. der Struktur bestimmter kapitalistischer Gesellschaften bis zum Individuum vorzudringen: Wie präzise und differenziert derartige Analysen auch sein mögen, das „Individuum selbst“ bleibt hier irgendwie immer auf der „anderen Seite“, und es besteht genau besehen nur die Alternative, das Individuum entweder in dem Sinne zu „ökonomisieren“, daß man die gesellschaftlichen Verhältnisse an seine Stelle setzt und in falscher Zitierweise der 6. Feuerbach-These das „Individuum“ als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ betrachten will; oder eben, wenn auch noch so verschämt, Anleihen bei bürgerlichen Ansätzen macht, etwa der Psychoanalyse hier bestimmte Sonderrechte einräumt. An dieser Problematik ändert sich auch dann nichts Grundsätzliches, wenn man, wie Sève, zwar einerseits die „konkreten Individuen“ vom Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse als „menschlichem Wesen“ unterscheidet, aber andererseits das konkrete Individuum dann doch wieder nur mit Begriffen der Marxschen „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ faßt. Auch hier bleibt das Individuum eigentlich auf der „anderen Seite“, und die Kompromißbereitschaft Sèves gegenüber der Psychologie und Psychoanalyse, denen er „in ihren Grenzen“ eigenständige Bedeutung zugesteht, ist dann nur die logische Konsequenz.

Das damit angedeutete Dilemma der ökonomischen Analyse menschlicher Individualität löst sich mit einem Schlage auf, wenn man sich der Sentenz von Marx und Engels erinnert „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“ bzw. Lenins Wort von der materialistischen Dialektik als umfassendster und inhaltsreichster „Entwicklungslehre“ ernst nimmt. Das bedeutet in unserem Zusammenhang: wenn man der „ökonomischen“ Analyse ihre historische Dimension eröffnet. Sofern man sich nämlich deutlich macht, daß „ökonomische“ Lebensverhältnisse nicht einfach „da“ sind, sondern als spezifisch menschliche Lebensgewinnungsformen aus anderen, vormenschlichen Lebensgewinnungsweisen entstanden, so wird der Schein des äußerlichen Sich-Gegenüberstehens von „ökonomischen Verhältnissen“ auf der einen Seite und Individuen in ihrer „inneren Natur“ auf der anderen Seite als „Schein“ durchdringbar. Es kann dann nämlich begriffen werden, daß mit der historischen Herausbildung der gesellschaftlich-ökonomischen Lebensgewinnungsform sich notwendig auch die „Natur“ der Lebewesen so entwickelt haben muß, daß sie zur Teilnahme und Teilhabe an dem neuen „ökonomischen“ Prozeß der gesellschaftlichen Produktion von Lebensmitteln und Lebensbedingungen fähig wurden. Dieser zentrale Umstand wird noch deutlicher, wenn man sich den trivialen Sachverhalt vergegenwärtigt, daß kein nicht-menschliches Lebewesen, und sei es noch so hoch entwickelt, und welche Mühe man sich mit ihm immer geben mag, in der Lage ist, den Prozeß der ökonomisch-gesellschaftlichen Lebensgewinnung individuell mitzutragen. Bekannt ist ja das kuriose Unternehmen des Ehepaares Kellog, die ihr eigenes Baby unter gleichen Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen zusammen mit einem kleinen Schimpansen aufzogen, wobei sie zu dem nicht unerwarteten Befund kamen, daß der Schimpanse (nach Anfangserfolgen, wo er gegenüber dem Baby bestimmte Vorteile hatte) dem Baby auf seinem Weg in die Vergesellschaftung nicht folgen konnte, sondern in der Beschränktheit seiner „artspezifisch“-biologischen Möglichkeiten zurückblieb. Auch die in die gleiche Richtung gehenden modernen Versuche, Schimpansen das Sprechen zu lehren, werden – auch wenn es gelungen ist, den Tieren in monatelanger systematischer Dressur eine Reihe von Zeichen der Taubstummensprache beizubringen – selbst von den größten Optimisten nicht so interpretiert, daß die Schimpansen nun im menschlichen Sinne „sprechen“ können: Es ist zu offensichtlich, daß es der Mensch mit seinen Dressur-Aktivitäten war, der hier „Sarah“ oder „Washoe“ (dies die Namen von betroffenen Schimpansen) dazu brachte, sich in einem beschränkten Ausschnitt äußerlich „menschenähnlich“ zu benehmen, daß aber die Schimpansen unter sich zu einem solchen Lernprozeß niemals fähig gewesen wären. Zusammengefaßt: Der Mensch verfügt offenbar über eine „Natur“, durch welche er als einziges unter allen Lebewesen fähig ist, sich aufgrund seiner „natürlichen“ Entwicklungspotenzen individuell zu vergesellschaften.

In dem damit eingeführten Konzept der „gesellschaftlichen Natur“ ist einerseits die Gegenüberstellung von „Natur“ und „Gesellschaftlichkeit“ des Individuums aufgehoben, indem hier gesetzt ist, daß die „Gesellschaftlichkeit“ des Menschen bereits in seiner „Natur“ liegt. Andererseits aber schlägt dieses Konzept traditionellen Vorstellungen und der vorgegebenen Disziplinenteilung der Wissenschaft geradezu ins Gesicht. Natur, so wird man hier einwenden, ist etwas, was von Naturwissenschaften untersucht wird, wobei für die „innere Natur“ des Menschen die Biologie bzw. eine sich „naturwissenschaftlich“ verstehende Psychologie zuständig ist, während die gesellschaftlichen Verhältnisse von Sozialwissenschaften wie der Soziologie und Ökonomie untersucht werden. Mit der Rede von der „gesellschaftlichen Natur“ werde diese gewachsene Arbeitsteilung einfach negiert, wobei Nicht-Zusammengehöriges und Gegensätzliches lediglich durch ein Wortspiel in Verbindung gebracht würden. Mit der bloßen paradoxen Rede von einer gesellschaftlichen Natur des Menschen sei die reale Vermittlung zwischen innerer Natur und Gesellschaft aber nicht auch schon aufgewiesen, viel weniger etwas darüber gesagt, wie denn diese „gesellschaftliche Natur“ inhaltlich charakterisierbar sein soll.

Dieser mögliche Einwand ist natürlich ernst zu nehmen: Wenn wir sagen, der Mensch muß seiner inneren Natur nach im Unterschied zu allen anderen Lebewesen „vergesellschaftungsfähig“ sein, sonst könnte er nicht als einziger in den gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozeß sich hineinentwickeln, demnach muß sich mit der historischen Entstehung der gesellschaftlich-ökonomischen Lebensgewinnungsform auch seine „gesellschaftliche Natur“ sozusagen als „subjektive“ Seite der Ökonomie herausgebildet haben, so ist dies zunächst lediglich ein Postulat, wenn auch ein begründetes. Offen bleibt dabei indessen, wie denn ein solcher historischer Prozeß, in welchem sich mit der Herausbildung der ökonomisch-gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform gleichzeitig die „innere Natur“ der Individuen „vergesellschaftet“, beschaffen sein soll, wie man mit wissenschaftlichen Mitteln ausweisen kann, daß so etwas überhaupt möglich ist und was für eine „Natur“ dabei herauskommt.

II.

Klar ist, daß man im Prozeß der Menschwerdung in Richtung auf das Erreichen der gesellschaftlich-ökonomischen Stufe zunächst nur die Wirksamkeit der biologischen Evolutionsgesetze, insbesondere des Gesetzes der Entwicklung durch Mutation und Selektion, annehmen darf. Dies bedeutet aber, daß die Evolutionsgesetze durch ihre eigene Wirksamkeit eine stammesgeschichtliche Entwicklungsstufe hervorgebracht haben müssen, in welcher nicht mehr Mutation und Selektion, sondern die „ökonomische“ Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen aufgrund der „gesellschaftlichen“ Natur des Menschen bestimmend sind. Dies würde jedoch heißen, daß sich mit der Hervorbringung der Gesellschaftlichkeit und der gesellschaftlichen Natur des Menschen die biologischen Evolutionsgesetze als bestimmende Entwicklungsfaktoren selbst außer Kraft gesetzt haben müssen. Das wäre die evolutionstheoretische Fassung des genannten scheinbaren Paradoxons von der „gesellschaftlichen Natur“ des Menschen. Mit derartigen „Paradoxien“ ist hier indessen der wissenschaftliche Klärungsprozeß keineswegs abgeschnitten. Man kann vielmehr zeigen“ daß die Annahme eines solchen anthropogenetischen Prozesses der evolutionsgesetzlichen Vergesellschaftung der menschlichen Natur nicht nur eine mögliche, sondern die gegenwärtig wissenschaftlich adäquateste Interpretation des Menschwerdungsprozesses ist. Um dieses zu verdeutlichen, referiere ich kurz einige einschlägige Forschungsresultate der Kritischen Psychologie.

Es geht darum, den Übergang von der bloß evolutionsgesetzlich-phylogenetischen Entwicklung zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung als großen Umschlag von Quantität in Qualität dialektisch-materialistisch herauszuarbeiten. Um dies zu bewerkstelligen, muß dieser qualitative Umschlag analytisch in einzelne empirisch ausweisbare Schritte zerlegt werden. Dabei lassen sich als Vorlauf der Entwicklung, in welcher die Voraussetzungen für den qualitativen Umschlag entstanden, sich aber noch nicht dieser selbst vollzog, zwei Entwicklungszüge herausheben: einmal die Entwicklung der gelernten sozialen Beziehungen der Lebewesen bis zu einer überindividuell-kollektiven Koordination der Lebensgewinnung, in welcher die Einzelnen Teilfunktionen unter einem allgemeinen Ziel übernehmen (klassisches Beispiel: Leontjews „Jäger-Treiber“-Koordination, in welcher der Treiber das Wild hochscheucht, das der Jäger erlegt, wobei später die Beute geteilt wird). Zum anderen die Entwicklung des Gebrauchs und der Herrichtung von Hilfsmitteln, etwa Stöcken zum Schlagen, und zum Erreichen von Bedarfszielen, „Angeln“ zum Herauspolken von Termiten aus Steinen etc. Aufgrund dieser beiden Voraussetzungen vollzieht sich nun, wie herausgearbeitet werden konnte, zunächst ein erster qualitativer Sprung zur Menschwerdung, indem bei der Herrichtung und dem Gebrauch von Hilfsmitteln sich Zweck und Mittel quasi „verkehren“: Während vorher die Hilfsmittel nur angesichts eines konkreten Bedarfsziels eingesetzt wurden, etwa der Stock zum Erreichen einer konkreten Banane diente und danach weggeworfen wurde, kommt es jetzt allmählich zu einem Funktionswechsel der Hilfsmittel; diese werden nämlich immer ausgeprägter nicht nur im aktuellen Aktivitätszusammenhang, sondern zu verallgemeinerten Zwecken, etwa dem der Früchtebeschaffung, hergestellt, also aufgehoben, verbessert etc. Die zentrale Bedeutung dieses Funktionswechsels liegt darin, daß hier ein Moment geplanter verallgemeinerter Vorsorge im Lebensgewinnungsprozeß sich durchsetzt: Die Hilfsmittel, die damit Frühformen von Werkzeugen sind, werden hergestellt für den Fall, daß sie gebraucht werden, daß sich also zukünftig eine Not- und Mangelsituation ergibt, zu deren Überwindung sie sich eignen. Diese neue, verallgemeinerte Form der Werkzeugherstellung und -benutzung entstand nun von vornherein im Zusammenhang der genannten überindividuellen Koordination von Aktivitäten, wobei durch die Herausbildung der Fähigkeit zur geplanten Herstellung von Werkzeugen für zukünftige verallgemeinerte Zwecke auch die soziale Koordination eine neue Qualität erreichte: Die neue Art von Werkzeugen stand hier nämlich für den kollektiven Gebrauch zur Verfügung, man konnte also in der funktionsteiligen Koordination sowohl Werkzeuge für andere herstellen und die von anderen hergestellten Werkzeuge benutzen, wie auch verschiedene Werkzeuge gemeinsam und arbeitsteilig einsetzen. Das Moment der verallgemeinerten Vorsorge durch den genannten Funktionswechsel der Hilfsmittel zu Werkzeugen im sozialen Lebensgewinnungsprozeß wurde so zur Frühform der verallgemeinerten gesellschaftlichen Vorsorge als zentraler Bestimmung des gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozesses.

Für unseren Argumentationszusammenhang wichtig ist nun der Umstand, daß die damit geschilderte neue gesellschaftliche Lebensgewinnungsform sich gemäß der Grundeigenart des Evolutionsprozesses nicht mit einem Schlage durchsetzte, sondern nur sehr allmählich, in langen Zeiträumen, innerhalb derer die biologische Form der Lebensgewinnung in einer natürlichen Umwelt noch bestimmend war. Die neue Lebensgewinnungsform ist also hier zwar bereits spezifisch für den Lebensprozeß, aber noch nicht dominant. Dies bedeutet jedoch, daß die Gesetze der Mutation und Selektion trotz der neuen gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform noch wirksam waren. Diese mußte sich also auf der Grundlage der biologisch-evolutionären Prozesse durchsetzen. Und sie konnte dies – das ist hier das Entscheidende – deswegen, weil die in dieser Lebensgewinnungsform mögliche verallgemeinerte Vorsorge durch soziale Werkzeugherstellung einen immensen „Selektionsvorteil“ darstellte. Damit haben wir den Prozeß der Entstehung der „gesellschaftlichen Natur“ des Menschen evolutionstheoretisch aufgeschlüsselt: Die „gesellschaftliche Natur“ entstand in einer Phase der Anthropogenese, in welcher die gesellschaftliche Lebensgewinnungsform durch die in ihr liegenden Selektionsvorteile noch auf die genomische Information, also die biologische Natur des Menschen, zurückwirkte. Auf diese Weise ist in dialektisch-materialistischer Analyse der Vermittlungsprozeß naturwissenschaftlich herausgehoben, durch welchen die biologischen Entwicklungsvoraussetzungen des Menschen sich in Richtung auf seine Potenz zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform entwickelten, also die „innere Natur“ der Lebewesen „gesellschaftlich“ wurde, womit das genannte scheinbare „Paradoxon“ sich hier zwanglos entschlüsselt.

Die Herausbildung der gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform und die Herausbildung der „gesellschaftlichen Natur“ des Menschen mußten sich in der genannten anthropogenetischen Phase nach dem „ersten qualitativen Sprung“ zur Menschwerdung wechselseitig immer mehr verstärken, da der Mensch aufgrund seiner entwickelten „gesellschaftlichen Natur“ in immer höherem Maße zur gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform fähig wurde, womit der dadurch bedingte, auf die „Natur“ des Individuums zurückwirkende Selektionsvorteil immer größer werden mußte, etc. Aufgrund dieser Wechselwirkung und einiger weiterer Bedingungen kam es, wie wir aufgewiesen haben, allmählich zu einem immer größeren Gewicht der gesellschaftlichen gegenüber der immer noch präsenten biologischen Lebensgewinnungsform. Der eigentliche Dominanzumschlag von der bloß phylogenetisch-evolutionären zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung als zweiter und endgültiger qualitativer Sprung zur Menschwerdung vollzog sich dabei auf folgende Weise: Durch die immer weitergehende soziale Werkzeugherstellung und -benutzung kam es an einem bestimmten Springpunkt der Entwicklung zum Dominanzumschlag von der Anpassung des Organismus an die Umwelt zur aktiven Anpassung der Umwelt an die Individuen durch deren vergegenständlichende Naturveränderung in verallgemeinerter gesellschaftlicher Vorsorge. So entwickelte sich die Lebensgewinnungsform gesellschaftlicher Arbeit als Prozeß der gesellschaftlich-geplanten Aneignung und Vergegenständlichung der Natur durch den Menschen. Dies schließt zweierlei ein: Die vom Menschen geschaffene gegenständliche Welt mit den dabei eingegangenen sozialen Verhältnissen wird zum selbständigen Träger der Entwicklung. Indem die natürliche „Ökologie“ zur gesellschaftlichen „Ökonomie“ wird, ist mithin der phylogenetische Prozeß durch einen gesellschaftlich-historischen Prozeß überlagert, in welchem der wechselseitige Anpassungsprozeß von Mensch und Welt durch die aktive kollektive Veränderung der Natur in einer neuen Größenordnung der Effektivität und des Fortschritts erfolgt (phylogenetische Entwicklung: Jahrhunderttausende, gesellschaftlich-historische Entwicklung: Jahrhunderte, Jahrzehnte, sich immer mehr kumulierend und beschleunigend). Damit sind aber gleichzeitig auch, durch ihre eigene vorgängige Wirksamkeit in der genannten Übergangsphase der Menschwerdung, die Evolutionsgesetze als bestimmende Entwicklungsfaktoren außer Kraft gesetzt; in der „ökonomisch“-gesellschaftlichen Lebensgewinnung ist nicht mehr die „natürliche Selektion“ bestimmend, sondern es wird im Gegenteil durch die kollektive verallgemeinerte Vorsorge für die Existenzerhaltung der Gesellungseinheiten und damit jedes einzelnen eine Strategie zur Einschränkung und Überwindung „natürlicher“ Selektionsprozesse prävalent. Hinzu kommt, daß der sich hier als dominant durchsetzende gesellschaftlich-historische Prozeß schon durch die genannte neue Größenordnung der Progression eine so schnelle Entwicklung der Lebensbedingungen der Individuen bewirkt, daß selektionsbedingte evolutionäre Änderungsprozesse bereits wegen ihrer vergleichsweise unendlichen Langsamkeit in ihrer Entwicklungsrelevanz gegen Null gehen und statt dessen eigene gesellschaftlich-historische Entwicklungsgesetze wirksam wurden, durch welche (gemäß der klassischen Grundformationslehre) aus der „Urgesellschaft“ sich die „Sklavenhaltergesellschaft“, der Feudalismus, der Kapitalismus und der Sozialismus als Stadien des gesellschaftlichen Prozesses entwickelten.

Wenn nun auf diese Weise also der gesellschaftlich-historische Prozeß dominant geworden ist, so bedeutet dies einerseits den Abschluß der Entwicklung der gesellschaftlichen Natur des Menschen durch selektionsbedingte Rückwirkung der gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform auf die genomische Information: Die natürliche Selektion, die diesen Entwicklungsprozeß bewirkte, ist ja jetzt durch die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze praktisch außer Kraft gesetzt. Andererseits aber konnte die natürliche Selektion nur deswegen durch den gesellschaftlichen Prozeß abgelöst werden, weil die individuelle Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß sich in der genannten Zwischenphase so verstärkt hatte, daß die Individuen jetzt aufgrund ihrer natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten dazu fähig wurden, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß individuell zu realisieren und mitzutragen. Die spezifisch menschliche Lern- und Entwicklungsfähigkeit findet damit nicht durch den jeweils persönlichen Lebenslauf ihre endgültigen Entfaltungsgrenzen, sondern ist darüber hinaus die Fähigkeit zur Aneignung und Vergegenständlichung immer neuer Leistungen und Bedürfnisse im Zusammenhang der im historischen Prozeß entstehenden immer neuen Anforderungen und Befriedigungsmöglichkeiten. Die „gesellschaftliche Natur“ des Menschen besteht also nicht aus irgendwelchen „anthropologischen Konstanten“, sondern ermöglicht es als Entwicklungspotenz von historischer Größenordnung den Individuen, auf jedem gesellschaftlich-historischen Entwicklungsstand mit der erweiterten gesellschaftlichen Aneignung der Natur (wie Marx es ausdrückt) auch seine eigene Natur zu verändern. Die „gesellschaftliche Natur“ als natürliche Entwicklungspotenz ist also gleichzeitig auch die Möglichkeitsbedingung für die konkrete Vergesellschaftung der individuellen Natur gemäß den formations-, klassen- und standortspezifischen Lebensverhältnissen.

III.

Wenn man sich nun die Frage stellt, welche Besonderheiten die innere Natur des Menschen im Übergang von der phylogenetisch dominierten zur gesellschaftlich-historisch dominierten Gesamtentwicklung durch die Rückwirkung der Anfänge gesellschaftlicher Produktion auf die genomische Information gewinnt, so wird deutlich, daß die Lebewesen in diesen Prozeß der Menschwerdung ja nicht als „tabula rasa“ hineingingen. Sie haben vielmehr hier bereits einen langen phylogenetischen Entwicklungsweg ihrer natürlichen Lebensmöglichkeiten hinter sich, der in einem bestimmten konkreten Entwicklungsstand resultiert. Offensichtlich muß man diesen Entwicklungsstand der Lebewesen beim Eintritt in den Menschwerdungsprozeß kennen, wenn man herausarbeiten will, welche diesen Entwicklungsstand in einer neuen Qualität aufhebenden Charakteristika denn nun die „menschliche“ Natur der Individuen ausmachen, also was hier eigentlich mit dem Umschlag zur ökonomischen Lebensgewinnungsform an der inneren Natur der Lebewesen durch die spezifisch menschliche Lern- und Entwicklungsfähigkeit sich vergesellschaftet.

Um dies Problem einer Klärung näherzubringen, ist die historische Dimension der Analyse mithin noch auszuweiten. Es reicht nicht, wenn man nur den Übergang von der bloß phylogenetischen zur gesellschaftlich-historisch dominierten Lebensgewinnungsform im Hinblick auf die Implikationen für die „innere Natur“ der Lebewesen erforscht. Man muß vielmehr den gesamten naturgeschichtlichen Prozeß rekonstruieren, innerhalb dessen sich diejenigen Potenzen der „Natur“ der Lebewesen ergeben haben, die dann beim Übergang zur gesellschaftlich-ökonomischen Stufe eine neue Qualität gewannen. Nur so kann man die inhaltlichen Differenzierungen, verschiedenen Funktionsebenen und -aspekte der individuellen Entwicklungsfähigkeit herausarbeiten.

Wir haben diese historische Rekonstruktion in der Kritischen Psychologie auf der Basis der objektiven Bestimmung des Psychischen durch Leontjew vollzogen. Ich kann dies hier nicht inhaltlich darstellen, sondern nur unsere einzelnen Vorgehensschritte benennen: Es wurde von uns zunächst der qualitative Umschlag des vorpsychischen Lebensprozesses zum psychischen Stadium des Lebens herausgehoben und so eine Präzisierung und Spezifizierung der Psychogenese innerhalb des phylogenetischen Gesamtprozesses erreicht. Damit wurde das „Psychische“ sowohl als genetische Grundform wie darauf basierend als allgemeinste Grundkategorie der Individualwissenschaft eingeführt. Weiterhin wurde der frühere Differenzierungsprozeß des so gefaßten Psychischen historisch nachvollzogen, wobei wir aus der Analyse von genetischen Ursprüngen und Differenzierungen zu begrifflichen Differenzierungen des Psychischen, etwa der Heraushebung des Orientierungsaspektes, des emotionalen Aspektes und des sozialen Aspektes der psychischen Lebensaktivität kamen. Auf diesem Wege konnten wir schon hier den traditionellen Begriffen einen neuen materialistischen Inhalt geben und von da aus die entsprechenden bürgerlich-psychologischen Bestimmungen kritisch zurückweisen. Darauf aufbauend wurde sodann eine neue qualitative Gesamtstufe, diesmal innerhalb der Psychogenese, nämlich die Entstehung individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit, rekonstruiert: Es galt aufzuweisen, welche neue Qualität die verschiedenen vorher in genetischer Differenzierungsanalyse herausgehobenen kognitiven, emotionalen und sozialen Dimensionen des Psychischen auf der neuen Stufe der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit gewannen. Anschließend wurde die Psychogenese auf der Stufe der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit bis an die Schwelle des Menschwerdungsprozesses verfolgt. Auf diese Weise kamen wir zu inhaltlich differenzierten, methodisch begründeten Vorstellungen darüber, wie die Natur der Lebewesen in ihren verschiedenen Ebenen und Aspekten beschaffen war, die in den geschilderten Prozeß der Herausbildung der neuen, ökonomisch-gesellschaftlichen Stufe eintraten und so zu einer „Vergesellschaftung“ ihrer Natur kamen. Die neue Qualität der „gesellschaftlichen“ Natur konnte damit im Hinblick auf die in den vorgängigen Ursprungs- und Differenzierungsanalysen gewonnenen verschiedenen Funktionsaspekte und -ebenen des Psychischen herausgearbeitet werden, als „gesellschaftliche“ Entwicklungsmöglichkeit der Orientierungstätigkeit, der emotional-motivationalen Prozesse, der Bedürfnisse, der sozialen Kommunikationsformen der Individuen, wie sie vorgängig abgeleitet und bestimmt worden waren. Dabei ergab sich aus der genetischen Analyse auch der innere Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Funktionsaspekten, womit durch ihre materialistische Definition gleichzeitig die traditionelle Zersplitterung des psychologischen Gegenstandes in verschiedene verselbständigte Ansätze und Disziplinen zur Behandlung des Denkens, der Wahrnehmung, der Emotionalität, des Handelns etc. überwunden werden konnte.

Da, wie in der historischen Entwicklung überhaupt, so auch in der Psychogenese, nicht alle Aspekte sich gleichermaßen entwickeln, sondern manche Momente gegenüber anderen bestimmend, andere sekundär sind oder sogar auf früheren Entwicklungsstufen verharren, ergab sich im Hinblick auf die menschliche Entwicklungsfähigkeit des Psychischen eine bestimmte genetische Differenzierung. Es konnten hier nämlich von den psychischen Aspekten, die für die Entwicklung der menschlichen, gesellschaftlich-ökonomischen Form der Lebensgewinnung spezifisch und bestimmend sind, solche unterschieden werden, die durch die bestimmenden Faktoren nur sekundär mitgezogen sind, und weiterhin solche, die zwar dem Menschen zukommen, aber für seine Art der Lebensgewinnung mehr oder weniger unspezifisch sind. Damit gewann die Konzeption der „inneren Natur“ des Menschen eine besondere genetische Tiefendimension: Man kann hier begründet zwischen spezifisch bestimmenden, spezifisch-sekundären und unspezifischen Charakteristika des Psychischen unterscheiden, und man kann diese verschiedenen spezifischen bzw. elementaren Momente auf ihr Verhältnis zueinander analysieren, etc.

IV.

Wie sind nun die Dimensionen und Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklungsfähigkeit der Individuen als psychische Potenzen ihrer gesellschaftlichen Natur inhaltlich zu charakterisieren? Das spezifische und bestimmende Moment dieser individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit ist – wie sich aus unseren umfangreichen Untersuchungen herausabstrahieren läßt – die individuelle Teilhabe an der bewußt vorsorgenden Bestimmung über gesellschaftliche Lebensbedingungen. Dies ergibt sich global daraus, daß der Mensch nicht, wie das Tier, sein Leben in einer bloß individuell-natürlichen Umwelt erhalten kann, sondern daß die individuelle Existenzerhaltung hier stets ein Teilaspekt der gesellschaftlichen Lebenserhaltung ist. Die individuellen Lebensbedingungen der Menschen sind mithin stets in irgendeiner Art und irgendeinem Grade individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen. Individuelle Existenzsicherung und -entfaltung ist also tendenziell das gleiche wie individuelle Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß (in seinen für das Individuum relevanten Aspekten).

Damit ist allgemein gesehen die Entwicklung menschlicher Subjektivität als Möglichkeit bewußter Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen stets notwendig die Überschreitung der Individualität in Richtung auf Teilhabe an der kollektiven Bestimmung des gesellschaftlichen Prozesses: Wenn die individuellen Lebensbedingungen individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen sind, dann hat das Individuum als einzelnes sozusagen gar nicht die Mächtigkeit, in bewußter Vorsorge darüber zu verfügen, sondern bleibt seinen Daseinsumständen notwendig mehr oder weniger ausgeliefert, kann nur auf aktuelle Gegebenheitszufälle reagieren, statt auf „menschliche“ Weise sein Dasein vorsorgend zu bestimmen. In dem Maße, wie die individuellen Lebensumstände tatsächlich relevant sind, damit auch deren gesellschaftliche Verflochtenheit und Determiniertheit wächst, kann der einzelne mithin nur im Zusammenschluß mit anderen, als Teilmoment eines gesellschaftlichen Subjekts seine eigenen Lebensumstände mitbestimmen, also zum individuellen Subjekt werden. Wir haben diese Überschreitung der Individualität im Zusammenschluß mit anderen unter dem allgemeinen Ziel der bewußt-vorsorgenden Verfügung über gesellschaftlich-individuelle Lebensbedingungen personale „Handlungsfähigkeit“ genannt.

Unter dem Gesichtspunkt der „Handlungsfähigkeit“ lassen sich nun die verschiedenen Funktionsaspekte des Psychischen in ihren bestimmenden, spezifischen, sekundären und unspezifischen Momenten genauer charakterisieren, indem sozusagen das „Schicksal“ dieser Funktionsaspekte beim Umschlag zum individualgeschichtlichen Entwicklungstyp, wie er als „Hineinentwicklung“ in die gesellschaftliche Lebensgewinnung spezifiziert ist, im einzelnen verfolgt wird. Im Hinblick auf den individuellen Erkenntnisprozeß konnten wir so herausarbeiten, daß das menschliche Denken in seinen spezifischen und bestimmenden Charakteristika nicht bloß als Analyse-Synthese individuell sich stellender Probleme, sondern als Aneignung gesellschaftlicher Denkformen gefaßt werden muß, womit das Individuum gesellschaftlich gewordene Formen der Analyse-Synthese in seinem individuellen Denken realisiert und erst so auch selbst einen Beitrag zur Entwicklung dieser Denkformen leisten kann.

Hinsichtlich des emotionalen Aspektes des Psychischen wurde in Abhebung von den tierischen Vorformen der Grundbegriff der „produktiven Bedürfnisse“ als spezifisches und bestimmendes Moment der menschlichen Emotionalität genetisch rekonstruiert: Mit der objektiven Notwendigkeit, zur Verfügung über die individuellen Lebensbedingungen sich am gesellschaftlichen Vorsorgeprozeß beteiligen zu müssen, ist gemäß dieser Rekonstruktion (in der genannten Übergangsphase der Entstehung der „menschlichen Natur“) auch die subjektive Notwendigkeit dazu entstanden. D. h., für den Menschen bedeutet die Ausgeliefertheit an aktuelle Gegebenheitszufälle und Unfähigkeit, an vorhandenen Möglichkeiten der kollektiven Verfügung über seine Lebensumstände teilzuhaben, subjektives Leiden, das wir als spezifisch menschliche „Angst“: Handlungsunfähigkeit durch Isolation von gesellschaftlich gegebenen Verfügungsmöglichkeiten spezifiziert haben. Die „produktiven Bedürfnisse“ sind nun kategoriale Bestimmungen zur Aufschlüsselung der unmittelbaren Erfahrung auf die darin liegende subjektive Notwendigkeit der Überwindung der Isolation und Ausgeliefertheit, damit Angstüberwindung, durch Teilhabe an gemeinschaftlicher Vorsorge über die eigenen Lebensbedingungen, also quasi die emotionale Seite der Handlungsfähigkeit. Der Charakter der subjektiven Notwendigkeit, also die „Bedürfnis“-Qualität der „produktiven“ Bedürfnisse, schließt ein, daß die Befriedigung der elementaren sinnlich-vitalen Bedürfnisse auf menschlichem Niveau eine besondere Qualität erhält: Der Mensch ist nicht „zufrieden“, wenn er bloß seine je aktuellen Bedürfnisspannungen, etwa Hunger oder Sexualität, reduzieren kann, sondern er erreicht ein erfülltes, befriedigtes Dasein nur, wenn er die Möglichkeit der Befriedigung seiner Bedürfnisse in der Perspektive eines vorsorgend abgesicherten individuellen Daseins antizipieren, d.h. aber im Prozeß der Beteiligung an der Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen seine Handlungsfähigkeit entfalten kann. Wir haben im einzelnen gezeigt, daß die „menschliche“ Befriedigungsqualität der sinnlich-vitalen Bedürfnisse so beschaffen ist, daß diese nur im Zusammenhang verallgemeinerter Vorsorge erreicht werden kann, und genereller, daß die Entfaltung von Sinnlichkeit gleichzeitig Angstfreiheit, d.h. Handlungsfähigkeit bedeutet.

Mit diesen wenigen Hinweisen konnte ich natürlich unsere inhaltlichen Resultate über die Eigenart menschlicher Lern- und Entwicklungsfähigkeit, zu deren Darstellung wir schließlich mehrere tausend Druckseiten benötigten, hier nicht wirklich verdeutlichen: Es sollte lediglich deutlich werden, daß hier differenzierte inhaltliche Resultate vorliegen. Für unseren gegenwärtigen Darstellungszusammenhang muß aber folgender Tatbestand auseinandergelegt werden: Mit dem Begriff der personalen „Handlungsfähigkeit“ samt der Heraushebung seiner verschiedenen Funktionsaspekte sollen die allgemeinsten Charakteristika des „menschlichen“ Typs der Individualentwicklung herausgehoben sein. Dies bedeutet aber nun nicht, daß diese Charakteristika voll realisiert sind und die Entwicklung jedes einzelnen hinreichend kennzeichnen. Es handelt sich hier vielmehr nur um generelle Richtungsbestimmungen, die zwar einerseits die menschliche gegenüber der vormenschlichen Individualentwicklung qualifizieren, sich aber andererseits im realen Entwicklungsprozeß unter historisch-konkreten Bedingungen jeweils immer nur mehr oder weniger begrenzt und widersprüchlich durchsetzen können. In dieser Hinsicht sind die allgemeinen Bestimmungen der Individualentwicklung also genau so zu fassen wie die der übergeordneten gesellschaftlich-historischen Entwicklung, deren Teilaspekt sie sind: Auch die gesellschaftlich-historische Gesamtentwicklung ist einerseits als Lebensgewinnung mittels kooperativer, bewußt vorsorgender Arbeit von tierischen Lebensgewinnungsformen abgehoben, wobei aber z. B. die Kooperation sich in den antagonistischen Klassengesellschaften immer nur reduziert und gebrochen, unter Ausschluß der Masse der Gesellschaftsmitglieder von der bewußten Verfügung über die gemeinsamen Angelegenheiten, durchsetzen kann. Erst im Sozialismus ist eine Stufe erreicht, in der die allgemeine Bestimmung der gesellschaftlichen Kooperation in qualitativ neuer Form für den gesamten Lebensgewinnungsprozeß charakteristisch wird etc.

Die Kennzeichen der „Handlungsfähigkeit“ und ihrer Funktionsaspekte kommen also als analytische Bestimmungen in beobachtbaren individuellen Entwicklungsabläufen so nicht unmittelbar vor, sondern stets gebrochen und mystifiziert durch je konkrete klassenspezifische Entwicklungsbehinderungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Es handelt sich hier mithin um eine analytische Kategorie, mit welcher erfaßt werden kann, wie sich die allgemeine Richtungsbestimmung der Tendenz zur erweiterten Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen durch Teilhabe an gesellschaftlicher Vorsorge unter den je konkreten gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen und -behinderungen – wie reduziert, pervertiert und mystifiziert auch immer – durchsetzt. Die vorfindlichen Oberflächenerscheinungen individueller Entwicklungsverläufe können so auf das in ihnen sich ausdrückende Verhältnis zwischen der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit und den Entwicklungsrestriktionen, durch welche diese kanalisiert und verformt wird, hin analysiert werden. Dabei gilt es nicht nur, die gesellschaftlichen Entwicklungsbehinderungen konkret zu erfassen, durch die die Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, sondern auch die subjektiven Vermittlungsebenen, Verarbeitungsweisen, Abwehrprozesse, durch welche die subjektive Notwendigkeit der Bedingungsverfügung gerade in dieser, möglicherweise unkenntlichen und pervertierten, Erscheinungsweise auftritt. Aus der vom Individuum bewußt erfaßten und emotional realisierten Isolation von der Verfügung über relevante Lebensbedingungen und individuellem Ausgeliefertsein entsteht gemäß der Spezifik menschlicher Bedürfnisse das Leiden der lndividuen, wobei sich aus den Aktivitäten, das Leiden zu überwinden, indem unter den jeweiligen einschränkenden und widersprüchlichen Bedingungen dennoch in bewußter Lebensführung eine Verfügung über die eigenen Daseinsumstände angestrebt wird, die jeweiligen Verformungen und Perversionen der Handlungsfähigkeit (als „restriktive Handlungsfähigkeit“) ergeben. Es wäre also jedesmal speziell herauszuarbeiten, in welcher Weise man die bei jedem von uns in der bürgerlichen Gesellschaft vorfindlichen reduzierten und „verkehrten“ Denkweisen, verkrüppelten, isolierten und als „privates“ Innenleben verkürzten Emotionen, als bloß individuelle Privatbeziehungen erscheinenden sozialen Beziehungen, dennoch durch die Berücksichtigung der jeweiligen beschränkten gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen und deren subjektiver Verarbeitungsweise durch die Individuen als besondere Ausdrucksformen unserer Gerichtetheit auf bewußte Verfügung über unsere eigenen Lebensbedingungen, also Handlungsfähigkeit begreifen kann.

Damit ist dann in jedem einzelnen Falle auch die Richtung wissenschaftlich erfaßbar, in welcher wir unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen kollektiv verändern müssen, damit die Handlungsfähigkeit immer mehr aus den beschränkten und mystifizierten Formen befreit wird, wir also in der Entfaltung der Möglichkeiten zur kooperativen Selbstbestimmung unserer eigenen Angelegenheiten auch zu einem befriedigenden, angstfreien und erfüllten subjektiven Dasein kommen können. Die Heraushebung der Beschränkungen und Pervertierungen individueller Lebensmöglichkeiten und subjektiver Befindlichkeiten und die praktische Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu führen, sind also hier nur zwei Seiten des gleichen subjektwissenschaftlichen Forschungsprozesses.

Damit ist auch eine neue Ebene der Kritik an der bürgerlichen Psychologie erreicht: Man kann nämlich zeigen, daß Vorstellungen, in denen die „innere Natur“ des Menschen von gesellschaftlichen Verhältnissen isoliert, das Psychische auf die bloße „Innerlichkeit“ des Menschen reduziert, der Mensch so gefaßt wird, als ob er sein Leben lediglich in einer naturhaft vorgegebenen Umwelt zu erhalten hat, etc., nicht einfach „falsch“ sind, sondern theoretische Verdoppelungen der genannten Verkürzungen und Verkehrungen der Gerichtetheit auf kollektive Selbstbestimmung unter bürgerlichen Lebensverhältnissen.

Diese allgemeine Herangehensweise an die bürgerliche Psychologie ist nun jeweils in Einzelanalysen durch das historische Material hindurch mit Bezug auf die unterschiedlichen theoretischen Ansätze zu konkretisieren und zu spezifizieren. Die Weise, in der dies geschehen kann, soll an zwei Beispielen wenigstens andeutend charakterisiert werden:

Ute Osterkamp hat in Durcharbeitung moderner „kognitiver Emotionstheorien“ aufgewiesen, daß für Individuen, die in der bürgerlichen Gesellschaft von der bewußten kooperativen Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß, damit ihren eigenen relevanten Lebensbedingungen, ausgeschlossen sind, als Alternative zum kollektiven Kampf nur die „Verinnerlichung“ und „Privatisierung“ der Emotionen, damit deren Abkoppelung von der Handlungsumsetzung übrigbleibt: Dies ist eine Form der Realitätsausklammerung, durch welche das für isolierte Individuen untragbare Risiko der Auseinandersetzung mit den Machtinstanzen durch Verleugnung der Handlungsnotwendigkeit und -möglichkeit erst gar nicht im Bewußtsein zugelassen ist. Gerade die „verinnerlichte“ und „privatisierte“ Emotionalität wird nun aber, wie Ute Osterkamp gezeigt hat, von den genannten bürgerlichen Theorien zur allgemein-menschlichen „Emotionalität überhaupt“ stilisiert, womit Bewußtseinsformen des Sich-Einrichtens in und Sich-Abfindens mit den bürgerlichen Klassenverhältnissen hier blind reproduziert und verfestigt werden.- Als weiteres Beispiel soll in diesem Zusammenhang die Analyse des sozialpsychologischen „Einstellungs“-Konzeptes von Morus Markard genannt werden. Hier wurde u. a. herausgearbeitet, daß durch die gängigen Einstellungsmessungen bzw. -skalierungen notwendig sowohl der inhaltliche Gegenstandsbezug der Einstellung wie die Möglichkeit des Subjekts, sich zu „Einstellungen“ und ihren Gegenständen bewußt zu „verhalten“, eliminiert sind. Übrig bleibt somit nur die „Einstellung“ als bloß individueller, „innerpsychischer“ Tatbestand, der mit der gesellschaftlichen Realität „außerhalb“ des Individuums selbst nichts zu tun hat. Dies wiederum ist die „theoretische“ Verdoppelung eines bestimmten Aspekts bürgerlich-ideologischer „Pluralismus“-Vorstellungen, denen gemäß jeder, der über gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur „bunte Meinungsvielfalt“, sondern begründbare Erkenntnisse für möglich hält, als dogmatisch (und quasi potentiell „verfassungsfeindlich“) eingestuft wird und die Kenntnis der Verbreitung sachentbundener „Meinungen“ wie der Versuch von deren Manipulation im Sinne der eigenen politischen Auffassungen (sprich Klasseninteressen) als zentrale Leitlinie demokratischer Politik erscheint.- Diese und viele andere einschlägige Untersuchungen erbringen nicht nur neue Einsichten in die vielfältigen Erscheinungsformen restriktiver Handlungsfähigkeit und die darin liegenden Formen der Realitätsausklammerung zur Leugnung/Vermeidung von Konflikten mit den Herrschenden: Sie geben den Betroffenen damit gleichzeitig die Erkenntnismöglichkeiten in die Hand, die ihnen bei der Überwindung solcher Restriktionen des Handelns und Bewußtseins in Richtung auf die Teilhabe an kollektiver Erweiterung der Verfügung über gesellschaftliche Lebensverhältnisse im Interesse der Erweiterung personaler Handlungsfähigkeit und Lebensqualität helfen können.

Wenn die bürgerlich-psychologischen Theorien, wie gesagt, nicht über die wissenschaftlich stilisierte „Verdoppelung“ der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft hinausgelangen, so ist die marxistisch begründete Subjektwissenschaft nicht nur zur Durchdringung der wissenschaftlich gemeinten Theorien, sondern auch der dabei verdoppelten „Alltagspsychologien“ selbst geeignet. Sie wird so zum Instrument im ideologischen Kampf. Mehr noch: Sie erlaubt den Marxisten, den ideologischen Kampf offensiv zu führen, auch da, wo von bürgerlich-ideologischer Seite – in welcher Weise auch immer – Subjektivität ins Spiel gebracht wird. So brauchen wir etwa überall da, wo (vornehmlich psychoanalytisch begründete) Vorstellungen der Verursachung gesellschaftlicher Konflikte/“Aggressionen“ durch unverarbeitete frühkindliche Triebversagungen etc. (bis in die Friedensbewegung hinein) Verbreitung finden, dem nicht nur die Notwendigkeit klassenbezogener marxistischer Gesellschaftsanalyse entgegenzuhalten: Wir können darüber hinaus den resignativen Verzicht auf subjektive Lebenserfüllung aufweisen, der darin liegt, sich selbst als bloßes Opfer verjährter Repressionen zu sehen und sich so von der gemeinsamen Aufgabe der Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen auf die eigene Kindheit als vermeintlich „eigentlicher“ Quelle subjektiven Leidens zurückzuwenden; damit ist gleichzeitig die Verbreitung solcher Sichtweisen aus ihrer Funktion als „Tröstungen“ für die vermeintlichen Opfer und als in der Rückführung von Klassenkonflikten auf frühkindliche Konflikte liegende Scheinrechtfertigung der eigenen Konfliktvermeidung durch Standpunktlosigkeit im (internationalen) Klassenkampf (als Erscheinungsform „restriktiver Handlungsfähigkeit“) zu begreifen und begreiflich zu machen. Ebenso müssen wir die vornehmlich in den neuen sozialen Bewegungen erhobenen Ansprüche auf vollen Daseinsgenuß jetzt und hier nicht mehr schon als Ansprüche asketistisch problematisieren und verdächtigen: Wir können den Betroffenen vielmehr selbst die Denkmittel in die Hand geben, mit denen sie in Durchdringung ihrer eigenen Erfahrungen erkennen können, daß unter den gegenwärtigen bürgerlichen Klassenverhältnissen der angestrebte Daseinsgenuß hinter dem Rücken notwendig immer wieder durch Konkurrenz, Schuldgefühle und untergründige Isolationsangst zersetzt und das unmittelbare Bemühen darum nicht nur letztlich vergeblich, sondern darin auch eine Anerkennung eigener individueller Ohnmacht gegenüber den Herrschenden ist; so ist es dann vielleicht nicht mehr weit zu unserer gemeinsamen Einsicht, daß es uns jetzt und hier immer noch „am besten geht“, wenn wir um die Überwindung jener gesellschaftlichen Verhältnisse kämpfen, unter denen wir mit uns selbst uneins sein müssen, da im Kampf selbst die Beziehungsformen und Befindlichkeiten der Verfügung über unsere Lebensbedingungen partiell schon vorweggenommen werden. Weiterhin müssen wir dem Anwurf menschlicher Vermassung und Einebnung durch den kommunistischen „Kollektivismus“ nicht mehr nur abstrakt die Tugenden des Kollektivs entgegenhalten: Wir können vielmehr den Wunsch, „für sich zu sein“, das „eigene Leben zu leben“ für uns und andere als voll legitim anerkennen, indem wir gleichzeitig verdeutlichen, daß Vereinzelung als bestimmende Lebensweise unter den gegenwärtigen Verhältnissen gleichbedeutend mit Ausgeliefertheit und Angst ist und daß gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen sich der Mensch auf der Grundlage gemeinsamer Verantwortlichkeit für das Ganze auch „in der Gesellschaft vereinzeln“ (Marx), angstfrei und vertrauensvoll „bei sich selbst zu Hause sein“ kann, erst noch in kollektiver Kraftentfaltung erkämpft sein wollen.

Aus diesen Beispielen sollte deutlich werden: Marxistisch fundierte Subjektwissenschaft ist nicht nur eine fachliche Angelegenheit für Psychologen, sondern darüber hinaus ein wichtiges Mittel der Erlangung wissenschaftlich begründeter ideologischer Klarheit in den Auseinandersetzungen „streitbarer Materialisten“ um die Behinderungen und Bedingungen der Entfaltung menschlicher Subjektivität und Lebensqualität.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Online-Publikationen und getaggt als . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.