The Bell Curve – Inequality by design

IQ und Soziales

Von Kritische Psychologie Marburg

Seit Mitte der 1970er Jahre bis mindestens in die Mitte der 1990er Jahre hinein ist in den USA folgendes Phänomen zu beobachten gewesen: Die 20 % Bestverdienenden erfreuten sich eines kontinuierlich steigenden durchschnittlichen Jahreseinkommens, während die unteren 20 % der Einkommensverteilung einem beginnenden Einbruch des Durchschnittseinkommens entgegensahen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der Mittelklasse stagnierte während dieses Zeitraums.

Eine „wissenschaftliche“ Erklärung dieser zunehmenden ökonomischen Ungleichheit der Einkommensklassen wurde von Richard Herrnstein und Charles Murray in ihrem 1994 veröffentlichten und intensiv diskutierten Buch „The Bell Curve“ vorgeschlagen. Sie analysierten die Daten einer umfassenden Längsschnittstudie zu den Lebensverläufen amerikanischer Jugendlicher im Zeitraum von 1979 bis 1990 (der „National Longitudinal Survey of Youth“, kurz NLSY) und kamen zu einem interessanten Ergebnis: Kontrastierte man den soziökonomischen Status (SES) des Elternhauses der Teilnehmer mit deren allgemeiner Intelligenz, erklärte letztere den größeren Varianzanteil in verschiedenen Indices des „Lebenserfolgs“ (z. B. in der im Skript erwähnten Wahrscheinlichkeit, unterhalb der Armutsgrenze zu leben). Die Intelligenz sagte also den späteren „Lebenserfolg“ besser vorher als die familiäre Umwelt der Teilnehmer (operationalisiert durch SES).

Herrnstein & Murray argumentierten nun, dass die zunehmende Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen in erster Linie eine Manifestation von Intelligenzunterschieden sei. In einer freien Marktwirtschaft träten diese offen zutage, da Leistung belohnt werde, welche wiederum hauptsächlich durch „a persons capacity for complex mental work“ (Herrnstein & Murray, zit. nach Fischer et al., 1996) – also ihre Intelligenz – bestimmt sei. Da nun Intelligenz aber erblich sein soll, nahmen Herrnstein & Murray an, dass sich Intelligenzunterschiede zwischen Gruppen und damit Klassenunterschiede durch sog. selektive Partnerwahl (also Partnerwahl bevorzugt auf vergleichbarem Intelligenzniveau) weiter verschärfen würden und schließlich durch die selektive Häufung „guter“ Gene eine „kognitive Elite“ entstehen müsse. Die Beobachtung, dass die Schere zwischen verschiedenen Einkommensklassen in den USA immer weiter aufklaffe, sei letztlich nichts anderes als der sichtbare Effekt der zunehmenden „kognitiven Schichtung“ der Gesellschaft und somit naturgegeben.

Über diese Erklärung hinaus entwarfen Herrnstein & Murray ein konkretes politisches Programm zum Umgang mit zunehmender Ungleichheit. Alle Versuche, die zunehmenden Klassenunterschiede durch politisches Handeln (wie z. B. Schulreformen) zu bekämpfen seien zum Scheitern verurteilt, da diesen Unterschieden eben Fähigkeitsunterschiede zugrunde lägen, die aufgrund ihrer genetischen Determiniertheit nicht zu beseitigen seien. Stattdessen schlugen die Autoren eine Politik vor, die die naturgegebenen Unterschiede nicht zu beseitigen versucht, sondern sich mit dieser „wissenschaftlich erwiesenen“ Realität abfindet. Sie forderten eine Politik, in der Förderung den Begabten zukommt und nicht an diejenigen verschwendet wird, deren genetische Ausstattung einen Erfolg von vornherein ausschließt (wobei sie stillschweigend Erblichkeit mit Unveränderbarkeit gleichsetzten, zum Denkfehler in dieser Argumentation vgl. z. B. Lewontin et al., 1988). Außerdem plädierten sie für vereinfachten Zugang zu Verhütungsmitteln, ein Strafrecht, in dem Vergehen und Strafe erkennbarer aufeinander bezogen sind, für ein Familienrecht, in dem die Ehe eine Voraussetzung für den Anspruch auf elterliche Rechte ist und dergleichen mehr.
<h2Methodisches

Fischer et al. (1996) unterzogen die Daten von Herrnstein & Murray einer Reanalyse. Hierbei bemerkten sie substantielle Fehler. Erstens wurde die Umwelt der Teilnehmer unzureichend operationalisiert: Herrnstein & Murray verwendeten lediglich das Durchschnittseinkommen der Eltern über zwei Jahre, den Beruf des „Haushaltsvorstands“ sowie das Ausbildungsniveau beider Elternteile. Letzteres wurde denkbar grob über die Ausbildungsdauer in Jahren erfasst. Diese vier Variablen wurden unnötigerweise zu einem Index des SES zusammengefasst und dabei vermeintlich gleich gewichtet. Bei separater Analyse der vier Variablen zeigte sich, dass das elterliche Einkommen (trotz der Tatsache, dass es nur über zwei Jahre erfasst worden war) einen starken Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hatte unterhalb der Armutsgrenze zu leben, während das elterliche Ausbildungsniveau kaum eine Rolle spielte. Durch die Zusammenfassung einer erklärungsmächtigen mit fast bedeutungslosen Variablen geht im Endergebnis der Beitrag der ersteren unter.

Darüber hinaus wurden die vier Variablen durch einen methodischen Fehler eben nicht gleich gewichtet. Bei vielen Teilnehmern fehlten nämlich die Angaben zum elterlichen Einkommen. Herrnstein & Murray setzten in solchen Fällen einfach den aus den vorhandenen Daten errechneten Mittelwert ein. Durch dieses Vorgehen ergibt sich jedoch eine Einschränkung der Varianz, die umso stärker ausfällt, je mehr Daten dem Mittelwert gleichgesetzt werden. Eine Variable, die kaum mehr Varianz aufweist, kann nicht mit anderen Variablen korrelieren, wie sich aus der Formel r = s xy/s x * s y ergibt. Die Angaben zum elterlichen Ausbildungsniveau wiesen deutlich weniger Lücken auf, wodurch die Varianzeinschränkung hier geringer ausfiel. Dadurch wurde das elterliche Einkommen im Index des SES geringer gewichtet als das elterliche Ausbildungsniveau, obwohl es einen deutlich stärkeren Erklärungswert besitzt.

Des Weiteren wurden wichtige Umweltvariablen nicht in die Analyse aufgenommen, obwohl sie Herrnstein & Murray vorlagen. So wurden beispielsweise Charakteristika der von den Teilnehmern besuchten Schulen außer Acht gelassen. Betrachtet man die beschriebenen methodischen Probleme, wird klar, dass ein derart schlecht operationalisiertes Umweltmaß keinen nennenswerten Erklärungswert haben kann. Folgerichtig ergab die Reanalyse nach Korrektur dieser Fehler ein ganz anderes Bild: Der berichtigte und komplettierte Umweltindex erklärte nicht weniger, sondern mehr Varianz auf als die Intelligenz der Teilnehmer (in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, unterhalb der Armutsgrenze zu leben).

Der wirklich gravierende Kritikpunkt an „The Bell Curve“ liegt jedoch in der Operationalisierung der allgemeinen Intelligenz. Den Teilnehmern der NLSY wurde der „Armed Forces Qualifying Test“ (AFQT) vorgelegt, also ein Test zur Feststellung der Eignung für die Tätigkeit in der Armee. Dieser Test sollte in erster Linie die mathematischen und Lesefertigkeiten erfassen. Aus diesem Test griffen sich Herrnstein & Murray die vier Subskalen „Mathematisches Schätzen“, „Wortkenntnis“, „Textverständnis“ und „Mathematisches Wissen“ heraus. Schon aus den Bezeichnungen dieser Skalen geht hervor, dass der AFQT Fertigkeiten erfasst, die in der Schule gelehrt werden. Dieser Eindruck verstärkt sich durch Betrachtung von Itembeispielen, die in „The Bell Curve“ selber auffälligerweise nicht zu finden sind. Des Weiteren steigert in der NLSY-Stichprobe jedes absolvierte Schuljahr den AFQT-Score um ca. 3,5 IQ-Punkte (Neal & Johnson, 1994, zit. nach Fischer et al., 1996; vgl. auch Folie 78 im Skript).

Nun kann man zwar die Ansicht vertreten, dass es eine Art „Denkfähigkeit“ gibt und dass diese neben anderen Faktoren wie der Qualität des Unterrichts eine Rolle dabei spielt, ob eine Person die ihr in der Schule vermittelten Inhalte versteht und verinnerlicht. Aber Herrnstein & Murray tun mehr, indem sie eine Abfrage von Schulwissen als Intelligenztest deklarieren: Sie behaupten, dass die vermeintliche Folge der Intelligenz (das Ausmaß der in der Schule gelernten Inhalte) identisch mit der Eigenschaft selber sei.

Die Messung von Schulbildung und gleichzeitige Behauptung, eine genetisch determinierte Persönlichkeitseigenschaft zu erfassen, stellt den zentralen Denkfehler in der Argumentation von „The Bell Curve“ dar. Im Begehen dieses Fehlers unterscheiden sich Herrnstein & Murray nicht von anderen Vertretern der psychometrischen Intelligenzkonzeption. Während Alfred Binet, der Begründer der Intelligenztestung, davon ausging, dass seine Tests eine durch Förderung veränderbare Größe messen, die eng mit Schulbildung zusammenhängt, postulieren seine Nachfolger Intelligenz als eine genetisch determinierte und damit unveränderbare Persönlichkeitseigenschaft. Zur Messung dieser Eigenschaft verwenden sie jedoch annähernd identische Aufgaben wie Binet und schreiben diesen Aufgaben damit eine Bedeutung zu, die sie ursprünglich nicht im Geringsten besaßen. Somit definieren die Vertreter dieses Ansatzes eine Eigenschaft durch die Methode, die sie vermeintlich misst. Nirgendwo wird dieser Zirkelschluss deutlicher als in der immer noch gebräuchlichen und erstaunlich ehrlichen Intelligenzdefinition von E. G. Boring: „Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.“ Den ernsthaften Versuch, Intelligenz unabhängig von ihrer Messung zu definieren hat bisher unseres Wissens noch kein Psychometriker gemacht.

Objektiv?

So stellt sich die Frage, warum die Vertreter der klassischen Intelligenzforschung seit über einhundert Jahren auf ein unzureichend definiertes Konstrukt zugreifen. In Test-Kriteriums-Korrelationen, die sich in einem Bereich von ca. r = 0,4 – r = 0,7 bewegen (das entspricht einer erklärten Varianz von 20 – 49 %) kann die Antwort wohl kaum zu finden sein. Dies gilt umso mehr, als eine derartige Korrelation natürlich keinerlei Aussage über den Faktor zulässt, der sie verursacht. Der immer wieder als Validitätsbeweis herangezogene Zusammenhang zwischen Intelligenztests und Schulleistung besagt lediglich, dass die Tests irgend etwas messen, das mit der Schulleistung in Verbindung steht. Ob das nun tatsächlich eine Art mentaler Kapazität ist, ob es sich um Konzentration oder auch einfach nur um Fügsamkeit handelt bleibt völlig offen, solange keine theoretisch fundierte, methodenunabhängige Intelligenzkonzeption und die entsprechenden Tests vorliegen.

Will man den entsprechenden Wissenschaftlern keine Dummheit unterstellen, muss man schließen, dass die Auswahl eines derartig windschiefen Paradigmas nicht aus rein wissenschaftlichen Gründen erfolgen kann. Bücher wie „The Bell Curve“ mit seinem expliziten politischen Bezug deuten vielmehr darauf hin, dass es in Wirklichkeit darum geht, bestimmte Ideologien mittels „objektiver“ naturwissenschaftlicher Ergebnisse zu rechtfertigen. Der Begriff „Objektivität“ bezieht sich hierbei bestenfalls auf ergebnisoffenes Arbeiten und die richtige Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden. Vor diesem technischen Umsetzen steht im Forschungsprozess jedoch eine gravierende Entscheidung, nämlich die Entscheidung darüber, welchem Paradigma man sich anschließt. Diese Entscheidung und damit die Entscheidung, welche Fragen man sich stellt, kann in einer Wissenschaft vom Menschen wie der Psychologie nicht unabhängig von bestimmten Menschenbildern getroffen werden. Damit ist eine tiefer gehende Objektivität in der Psychologie insofern unmöglich, als dass die untersuchten Inhalte es geradezu erzwingen, von bestimmten Vorannahmen auszugehen und damit die untersuchten Fragen von vornherein zu beschränken.

Wenn Forscher wie Herrnstein & Murray sich für die psychometrische Intelligenzkonzeption entscheiden, dann tun sie das wie andere Psychometriker, um ihre politischen Ansichten und Vorschläge mit „wissenschaftlichen“ und daher über jeden Zweifel erhabenen Ergebnissen unterfüttern zu können. Ihre Argumentation wäre nicht möglich, wenn sie sich für ein Modell menschlicher Denkfähigkeit entschieden hätten, in dem Flexibilität und Veränderbarkeit nicht von Anfang an ausgeschlossen sind. Da Erkenntnisgewinn in „The Bell Curve“ aber lediglich die Tarnung für einen Versuch darstellt, die öffentliche Meinung mit Hilfe „objektiver“ Ergebnisse im Sinne einer bestimmten politischen Richtung zu beeinflussen, haben Herrnstein & Murray bewusst einen Forschungsansatz ausgewählt, der die von ihnen beabsichtigten Schlussfolgerungen erst möglich macht.

Die Ideologie, die in Herrnsteins & Murrays politischen Handlungsvorschlägen zu Tage tritt, ist nicht nur extrem konservativ: Ihre Forderung nach dem vereinfachten Zugang zu Verhütungsmitteln, um die Ausbreitung „schlechter“ Gene einzudämmen, ist schlicht und einfach eine eugenische. Die Verbindungen zum rechten Rand des politischen Spektrums sind auch an den Quellen erkennbar, aus denen sich Charles Murrays Forschung speist. So wird er unter anderem vom American Enterprise Institute finanziert, das sich z. B. für eine Begrenzung der Marktregulierung und eine starke Außenpolitik (z. B. in Form einer Befürwortung des zweiten Irakkriegs) einsetzt. Kürzlich wurden vom American Enterprise Institute laut Wikipedia 10.000 Dollar Preisgeld für eine wissenschaftliche Widerlegung des UN-Klimaberichts ausgelobt. Es handelt sich also um eine Stiftung, die ganz klar neoliberale Positionen vertritt und explizit nach Wissenschaftlern sucht, die „linientreue“ Ergebnisse produzieren.

Dass Ergebnisse derartiger Forschung in einer Vorlesung völlig ohne Bezug auf ihre ideologischen Hintergründe gelehrt werden, lässt sich unseres Erachtens nicht mit dem Verweis auf ihre methodische Qualität rechtfertigen (zumal selbst diese fragwürdig ist, wie der oben dargestellte winzige Auszug aus der Menge an methodenkritischen Einwänden gegen „The Bell Curve“ deutlich machen sollte). Und die Behauptung, dass politische Einwände in der Psychologie keine Berechtigung hätten, da es sich schließlich um eine objektive Naturwissenschaft handele, ist schlicht und einfach falsch (s. o.). Psychologie findet nicht im luftleeren Raum der Empirie statt, sondern ist in ihrem Ursprung ideologisch geprägt. Diese Tatsache zu ignorieren bedeutet nichts anderes als ein indirektes Bekenntnis zu den politischen Inhalten, die hinter den harten Zahlen versteckt sind.

Links:

http://www.eugenics.net/
Eine Seite von heutigen Eugenikern mit Texten von Richard Lynn. Philipp Rushton, Charles Murray, Linda Gottfredson, Roger Pearson etc.

Literatur:

Fischer, C. S., Hout, M., Jankowski, M. S., Lucas, S. R., Swidler, A., & Voss, K. (1996). Inequality by Design. Princeton: Princeton University Press.

Herrnstein, R. J., & Murray, C. (1994). The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life. New York: The Free Press. (zit. nach: Fischer, C. S., Hout, M., Jankowski, M. S., Lucas, S. R., Swidler, A., & Voss, K. (1996). Inequality by Design. Princeton: Princeton University Press.).

Lewontin, R. C., Rose, S., & Kamin, L. J. (1988). Die Gene sind es nicht…Biologie, Ideologie und menschliche Natur. München: BeltzPVU.

Neal, D. A., & Johnson, W. R. (1994). “The Role of Pre-Market Factors in Black-White Wage Differences.” Seminar on Meritocracy and Equality, University of Chicago. (zit. nach: Fischer, C. S., Hout, M., Jankowski, M. S., Lucas, S. R., Swidler, A., & Voss, K. (1996). Inequality by Design. Princeton: Princeton University Press.).

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