Kritische Psychologie: Get ready for the floor

Wie man mit Psychologie die Verhältnisse zum Tanzen bringt

Veröffentlicht in: AStA der Freien Universität, Referentinnenrat der Humboldt-Universität & AStA der Alice Salomon Hochschule (Hrsg.). Stud_kal 2010 2011, 188-193.

Ellen Reitnauer und Christian Küpper

Die Bereiche der Gesellschaft, in die Psychologie heute hineinwirkt (und umgekehrt) sind vielfältig. Es lassen sich über die therapeutische Couch und Experimente an Ratten und Tauben hinaus viele Beispiele anführen, die größere Bekanntheit erlangt haben. Neben den Feldern, in denen Psychologie meist als irgendwie „neutrale“ Wissenschaft gedacht wird (wie z.B. bei den Forschungen zur Funktionsweise des Gehirns oder zu Evolutionsprozessen, dem intensiv betriebenen Einsatz von Fragebögen, Assessment Centern o.ä.) gibt es das Bild der Psychologie als „helfender“ Wissenschaft, die sich etwa der Behandlung von Depressionen, AD(H)S, Stress und Burnout annimmt. Andererseits prägen Negativschlagzeilen wie die Beteiligung von Psycholog_innen an der Entwicklung von Methoden psychischer Folter das Bild der heutigen Psychologie als einer Art „Geheimwissen“ zur Manipulation von Menschen, vor dessen Anwendung im alltäglichen Zusammentreffen mit Psycholog_innen sich viele zu fürchten scheinen („Du bist Psychologiestudentin? Oje – Jetzt muss ich  aufpassen, was ich sage…“).

Diese Unklarheit über die Rolle und Reichweite psychologischer Wissenschaft ist nicht neu. Ähnlich sahen sich bereits im Zuge der „Studentenbewegung“[1] viele Studierende, Praktiker_innen und Forschende vor die drängende Frage gestellt, welche Funktion die Psychologie denn gesellschaftlich bediene. Sie kamen zu dem ernüchternden Schluss, dass die Psychologie die als kapitalistisch analysierten Verhältnisse befestige und somit zur permanenten Erzeugung von Repression, Ausschluss, Armut und Leid beitrage.

Einige radikalisierten diese Vorstellung dahingehend, dass die Psychologie als Ganzes nichts anderes als Ideologie kapitalistischer Verhältnisse und lediglich „Instrument der Herrschenden“ sein könne. Diese Überzeugung mündete folgerichtig in die Forderung nach der „Zerschlagung“ der Psychologie.[2]

Andere bemühten sich demgegenüber um eine Entwicklung des Faches in psychologie- und gesellschaftskritischer Perspektive. Aus diesen Zusammenhängen bildete sich an der FU Berlin um Klaus Holzkamp und Ute Osterkamp eine Arbeitsgruppe, die den Grundstein für die Kritische Psychologie legte. In dem Bewusstsein, dass es keine neutrale Wissenschaft geben könne, da jede Wissenschaft ihre Erkenntnisse interessengeleitet produziere, machte die Kritische Psychologie bereits während ihrer Anfänge den eigenen parteilichen Anspruch deutlich: „Emanzipatorisch relevant wäre psychologische Forschung, sofern sie zur Selbstaufklärung des Menschen über seine gesellschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten beiträgt und so die Voraussetzungen dafür schaffen hilft, dass der Mensch durch Lösung von diesen Abhängigkeiten seine Lage verbessern kann“ (Holzkamp). Hinzu kam die Orientierung an der Marxschen Erkenntnis, dass Menschen nicht nur Produkte sondern auch  Produzent_innen ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in die sie stets eingebunden bleiben. Die Kritische Psychologie hat eben diese Erkenntnis sozusagen „psychologisch ausbuchstabiert“ und dabei die Frage gestellt, wie sich diese Eingebundenheit der Menschen in die Gesellschaft gestaltet und vor allem: jeweils gestalten lässt. Im Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit den vorfindlichen psychologischen Konzepten und Methoden entstand schließlich ein begriffliches und methodologisches Instrumentarium als paradigmatische Grundlage für eine Psychologie, deren zentrales Anliegen es ist, Beiträge zur Verbesserung der gegenwärtigen Lebensverhältnisse zu liefern.

In der Kritischen Psychologie nimmt der Mensch als Subjekt dabei eine zentrale Stelle ein. Sie versteht sich deshalb auch als marxistische Subjektwissenschaft. Beforscht wird hierbei (anders als in gängigen psychologischen Ansätzen) allerdings nicht das Subjekt selbst, sondern „die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt“ (Markard). Die Kritische Psychologie geht davon aus, dass die individuelle Existenz gesellschaftlich vermittelt ist und hat sich genauer damit befasst, wie die unmittelbare Erfahrung vom Standpunkt des Subjekts auf ihren gesellschaftlichen Gehalt hin durchdrungen werden kann. Um dies im Einzelfall genauer untersuchen zu können, wurde ein Analyseschema entwickelt. Darin sind mehrere Ebenen benannt, entlang derer sich diese wechselseitige Verwobenheit systematisch aufschlüsseln lässt. Im Zentrum der Betrachtung steht die Ebene der subjektiven Handlungsgründe. Indem Menschen ihr Fühlen, Denken und Handeln in ihren Lebensverhältnissen gründen, ist hier ein direktes Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft angesprochen: Die eigenen Lebensverhältnisse mit all den Gegenständen des täglichen Gebrauchs sind wiederum nur ein Ausschnitt aus der Gesamtheit gesellschaftlicher Bedingungen, die für das Subjekt die Bedeutungen von Denk- und Handlungsmöglichkeiten annehmen. Dabei stehen den Möglichkeiten gesellschaftliche Behinderungen gegenüber, d.h. Denk- und Handlungsbehinderungen aufgrund von Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen, die den jeweiligen Möglichkeitsraum zum Teil weit reichend einschränken. Einige der Möglichkeiten und Behinderungen bleiben jedoch zunächst unerkannt. Diese so gefassten Lebensbedingungen (Ebene der Bedingungen und Bedeutungen) macht das Subjekt zu den Prämissen des eigenen Fühlens, Denkens und Handelns. Die „Entscheidung“, worauf der Akzent bei der Prämissenwahl gelegt wird, orientiert sich an den eigenen Lebensinteressen und ist dabei oft nicht bewusst, d.h. die Gründe für das eigene Fühlen, Denken und Handeln sind nicht immer offensichtlich und müssen im Forschungsprozess erst herausgearbeitet werden (die bereits genannte Ebene der subjektiven Handlungsgründe bzw. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge). Ziel der Forschung ist es, mit der Frage nach Handlungsfähigkeit die eventuell verloren gegangenen gesellschaftlichen Bezüge individuellen Handelns wieder sichtbar zu machen sowie die individuellen und kollektiven Handlungsspielräume auszuloten – es geht um die Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten, die ein Subjekt in einer bestimmten Situation nutzbar machen kann, um die Verfügungsmöglichkeiten über die je relevanten Lebensbedingungen für sich und andere zu erweitern. Da individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Strukturen, wie angedeutet, eng verzahnt sind, bedarf es immer auch der Bezugnahme auf gesellschaftstheoretische Analysen.

Die akademische Situation der Kritischen Psychologie ist prekär. Infolge der politisch motivierten Verdrängung verschiedener Spielarten kritischer Wissenschaften und des damit einhergehenden Stellenabbaus sowie der Umstellung des Diplomstudienganges auf das Bachelor-Master-System ist von der früheren Verankerung an der FU leider nicht mehr viel geblieben. Gegenwärtig wird die Kritische Psychologie hier vom größtenteils unbezahlten Engagement von Prof. Morus Markard und Dr. Gisela Ulmann getragen. Daneben organisierten in den vergangenen Jahren interessierte Studierende autonome Seminare zu Fragen und Problemen der Kritischen Psychologie. Die Versuche, der Kritischen Psychologie eine neue (institutionelle) Heimat zu geben, führten zur Gründung der Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis (GSFP) und neuerdings zur Assoziation Kritische Psychologie.

Einführende und vertiefende Texte zur Kritischen Psychologie finden sich auf den Seiten der GSFP: www.kritische-psychologie.de

Wichtige Werke sind neben der „Grundlegung der Psychologie“ (Klaus Holzkamp) unter anderem die „Einführung in die Kritische Psychologie“ (Morus Markard) und „Über den Umgang mit Kindern“ (Gisela Ulmann).

[1] Wir sehen das Wort „Studentenbewegung“ als historisch geprägten Begriff und verzichten daher auf die Schreibweise mit Unterstrich. Durch die Kennzeichnung als Zitat distanzieren wir uns von dem vermännlichenden Blick auf die 1968er-Bewegung.

[2] So geschehen zum Beispiel auf einem „Kongress kritischer und oppositioneller Psychologen“ in Hannover 1969.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Online-Publikationen und getaggt als , . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.