Vom „Ego-Tunnel“ zur „Bewusstseinsrevolution“ – Über das „phänomenale Selbstmodell“ des neurowissenschaftlich inspirierten Philosophen Thomas Metzinger

Marxistische Blätter (2014), Ausgabe 4-14, 49-56, Thema: Bewusstsein. Ein unauflösliches Rätsel?

Michael Zander

Einleitung: „Homo cerebralis“ und Wissenschaft

Handelten die heutigen Neurowissenschaften lediglich von Nervenzellen, dann würden vermutlich nur Fachleute und ein kleiner Kreis interessierter Laien über sie diskutieren. Tatsächlich jedoch avancierten einige ihrer Vertreter zu prominenten Publizisten, die eine große Resonanz erfuhren. Diese erreichte 2004 einen vorläufigen Höhepunkt, als „elf führende Neurowissenschaftler“ ein „Manifest“ über „Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ veröffentlichten (Monyer et al. 2004). Herausgefordert durch die ihnen vor allem aus der Biologie erwachsenen Konkurrenz zogen bald „führende deutsche Psychologen“ nach. Sie schrieben über die „Psychologie des 21. Jahrhunderts“ (Fiedler et al. 2005). Einige der Protagonisten beteiligten sich seinerzeit an einer Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung um die sogenannte Willensfreiheit. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass es auch um gesellschaftliche und politische Fragen ging: Aus seiner Kritik an der Idee der Willensfreiheit folgerte etwa der Neurophysiologe Wolf Singer, dass es weder Schuld noch Verantwortung gebe und deshalb sich die Argumentation der Rechtsprechung ändern müsse. „Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten. Sie muss natürlich weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, dass unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden, sie muss Delinquenten die Chance einräumen, durch Lernen zu angepassteren Entscheidungen zu finden und – wenn all dies erfolglos bleibt –, sich durch Freiheitsentzug schützen.“ (Singer 2004) Die Motive, die der „Delinquent“ einem Gericht vortragen könnte, wären allerdings nur von beschränkter Relevanz, sind sie doch unabhängig von der Person bereits durch unbewusste Prozesse im Gehirn vorbereitet worden. Auch ist der Beklagte in dieser Konstellation offensichtlich nicht Teil „der Gesellschaft“, die über ihn richtet; dass er sich an einer Veränderung ihrer Vorstellungen von Recht und Unrecht beteiligen könnte, wird jedenfalls nicht mitgedacht. Immerhin stellt Singer in einem Interview klar, dass das Gehirn ein „soziales Organ“ ist, das man „nicht isoliert von der Umwelt verstehen“ könne (Schnabel 2008; kritische Untersuchungen zum Thema „Willensfreiheit“ finden sich z.B. bei Maiers 2008 und Laucken 2005).

Ein Jahrzehnt später sieht die Bilanz durchwachsen aus. Versprechungen der Manifest-Autoren hinsichtlich des vor der Tür stehenden Erkenntnisfortschritts haben sich weder erfüllt noch ist ihre Erfüllung absehbar (vgl. Tretter et al. 2014). Trotzdem sind die Neurowissenschaften nach wie vor einflussreich. Dies betrifft nicht nur die Publizistik, sondern auch die akademische Psychologie und ihre Studiengänge sowie die Verteilung von Forschungsmitteln. Zum gesellschaftlichen Phänomen des „Homo cerebralis“ bemerkt Dirk Baecker: „Es ist ja nicht so, als könne man Neuropublizistik, die aus fragwürdigen Forschungsergebnissen noch fragwürdigere Konsequenzen für den Reformbedarf von Schulen, Gerichten, Sendeanstalten und Internetdiensten ableiten, ungestraft aus den Augen lassen. (…) Das Gehirn ist jetzt die Instanz, die man anrufen können muss, wenn man die eigenen Aussagen mit hinreichender Autorität ausstatten möchte. (…) Allenfalls der Computer, die Datenspeicher und die Algorithmen des Internets können dem Gehirn diese Stellung noch streitig machen. Aber auch das ist Teil unseres neu erwachten Interesses am Gehirn: Irgendwie hoffen wir, dass es Fähigkeiten aufweist, die für die Informatik vielleicht maßgebend sein können, aber noch lange nicht verstanden, geschweige denn in Maschinencode umsetzbar sind.“ (Baecker 2014, S. 39)

Ungeachtet dieser Kritik bleibt allerdings festzuhalten, dass die Hirnforschung und die von ihr beeinflussten Disziplinen tatsächliche Erkenntnisse hervorbringen. Zudem vertreten ihre Protagonistinnen und Protagonisten in aller Regel dezidiert „materialistische“ Positionen, wobei allerdings zu klären ist, um welche Art von Materialismus es sich jeweils handelt. Einerseits muss man sich also mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit befassen, andererseits ist dabei zu berücksichtigen, dass man es dabei zugleich mit politischen Fragen zu tun bekommt, die in die Debatte eingeschleust werden. Diesem Widerspruch soll nun an einem Beispiel nachgegangen werden.

Störungsanfälliges Ich

Für die Psychologie und die breite Öffentlichkeit sind solche Ansätze besonders interessant, die sich mit den neuronalen bzw. elementaren Grundlagen menschlicher Subjektivität beschäftigen. Der Philosoph Thomas Metzinger hat sich darauf spezialisiert, ein „autonomes“ oder „phänomenales Selbstmodell“ auszuarbeiten, das sich auf Einsichten der modernen Neurowissenschaften stützt. In der BRD ist er einer der führenden Vertreter der „Philosophie des Geistes“. Diese „umfasst die philosophische Psychologie, die Psychologie der Philosophie sowie den Teil der Metaphysik, in dem es um die Frage nach der ontologischen Natur des Geistigen geht“ (Beckermann 1999). Im Zentrum stehen das sogenannte Leib-Seele-Problem, Willensfreiheit und das Phänomen der personalen Identität (vgl. ebd.).

Metzinger, Jahrgang 1958, lehrt Theoretische Philosophie an der Universität Mainz und ist Leiter des dortigen Arbeitsbereichs „Neuroethik“. In seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ (Metzinger 2009) hat er den Inhalt früherer Publikationen zusammengefasst und popularisiert (die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). Er hoffe, „dem interessierten Laien eine realistische Vorstellung vom neuen Bild des bewussten menschlichen Geistes“ (S. 11) zu vermitteln.

Die Neurowissenschaften inspirierten „Theorien über Emotionen und Empathie, über den Traum und die menschliche Rationalität, neueste Entdeckungen über die Willensfreiheit und die bewusste Steuerung unserer eigenen Handlungen und sogar über künstliches Bewusstsein“ (S. 13). Allerdings fehle es gegenwärtig an einem Gesamtbild und einem allgemeinen Bezugsrahmen für diese Ansätze. „Die neuen Naturwissenschaften vom Geist haben zwar eine Flut wichtiger Daten geliefert, aber keine theoretische Vision, kein generelles Modell, das (…) diese Daten (…) integrieren könnte.“ Vor diesem Hintergrund geht es Metzinger um nichts Geringeres als um ein empirisch fundiertes Modell vom Selbst, um ein autonomes oder phänomenales Selbstmodell. Er stellt sich die Frage, wieso wir uns als ein „Ich“ erleben, als Subjekt unserer Handlungen oder Träume. Dass dieses Erleben nicht selbstverständlich ist, zeigt er uns am Beispiel von neurologischen Syndromen und der subjektiven Erfahrung sogenannter psychischer Krankheiten (s.u.). Bewusstsein ist für Metzinger die Repräsentation oder das „Erscheinen einer Welt“, in der wir selbst vorkommen und von der wir wissen, dass wir sie wahrnehmen. Was wir dabei als Welt und als davon abgesondertes „Ich“ erleben, ist hochselektiv angesichts einer unendlichen Wirklichkeit. Metzinger spricht deshalb auch von einem „Ego-Tunnel“.

Das Selbstmodell charakterisiert er durch eine Reihe von Merkmalen, die hier nur ganz grob und ausschnitthaft skizziert werden können.

Die Welt, in der wir leben, erscheint uns normalerweise als einheitlich, also als eine einzige Welt. Die Wahrnehmung einer einheitlichen Realität ist eine komplexe und voraussetzungsvolle Leistung, die auch scheitern kann. Metzinger nennt als Beispiele psychische Ausnahmezustände, Erlebnisse unter dem Einfluss von Halluzinogenen oder auch Agnosien. Aufgrund von Hirnverletzungen kann man bei einer apperzeptiven Agnosie etwa Formen nicht mehr voneinander, Gegenstände nicht mehr durch Abtasten erkennen oder Teile des eigenen Körpers nicht mehr identifizieren (vgl. S. 48f.).

Dank des Ego-Tunnels verfügen wir über die Fähigkeit, eine subjektive Gegenwart zu erleben, obwohl die physikalische Zeit ein kontinuierlicher Strom ist. Sie ermöglicht uns Erinnerungen an Vergangenes und Entwürfe für eine mögliche Zukunft, die wir von einem Jetzt abgrenzen können. Außerdem nehmen wir die Welt als wirklich war und können sie von Unwirklichem unterscheiden. Metzinger nennt uns „naive Realisten“.  Unsere bewusste Wahrnehmung gilt dem Wahrgenommenen. Die Wahrnehmungsprozesse selbst bleiben uns weitgehend verborgen. Das phänomenale Selbstmodell muss unserer Art einen evolutionären Vorteil verschafft haben, lautet ein weiterer Gedanke. Summarisch nennt Metzinger hier mehrere mögliche Aspekte, darunter die Verbesserung der Sozialkoordination durch Erkennen von Gefühlen und Absichten anderer Menschen, Optimierung des Langzeitgedächtnisses oder der Entwurf von Handlungsplänen. Das Bewusstsein macht relevante Tatsachen für den Organismus global verfügbar, sagt Metzinger. „Höhere Intelligenz besteht (…) nicht nur darin, Offline-Zustände zu besitzen, mit deren Hilfe man potenzielle Bedrohungen oder wünschenswerte Endergebnisse simulieren kann, sondern auch darin, die wirkliche Situation mit einer ganzen Anzahl von möglichen Zielzuständen zu vergleichen. Nachdem man im eigenen Geist einen Pfad von der wirklichen Welt in die wünschenswerteste mögliche Welt gefunden hat, kann man beginnen zu handeln.“ (S. 93)

In der Regel verfügen wir über ein Ich-Bewusstsein. Unser Bewusstsein ist uns unmittelbar nur in der Perspektive der ersten Person zugänglich. Aber selbst diese elementare Erfahrung ist störungsanfällig. Bei dem in der Psychiatrie bekannten Cotard-Syndrom „hören die Patienten manchmal auf, das Pronomen der ersten Person zu verwenden und (…) behaupten, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existieren.“ (S. 99) Unser phänomenales Selbstmodell beinhaltet nicht nur sogenannte geistige Funktionen und Erfahrungen, vielmehr ist es auch verbunden mit einem Körperschema. Normalerweise kennen wir die Grenzen unseres Körpers und können ihn von unserer Umgebung unterscheiden. Allerdings kann diese Kenntnis experimentell manipuliert werden. Die Versuchspersonen betrachten im Experiment eine vor ihnen liegende Gummihand, während ihre eigenen Hände verdeckt sind. Die Gummihand wird rhythmisch mit einem Stäbchen gestreichelt. Nach einer bis anderthalb Minuten gewinnen die Versuchspersonen den Eindruck, dass sie das Streicheln der Gummihand spüren, als sei es ihre eigene Hand. Die Rede ist dann von der sogenannten  Gummihand-Illusion. Die Aktivierung entsprechender Neuronen für visuelle und taktile Rezeptionen kann im Experiment nachgewiesen werden. Es gibt darüber hinaus einen viel älteren Hinweis darauf, dass unser Körperschema im Gehirn verankert und nicht notwendig sensorische Eindrücke in bestimmten Extremitäten voraussetzt. Ich meine Phantomschmerzen, bei denen man ein äußerlich nicht mehr existentes Bein oder einen verlorenen Arm fühlt. Diese Flexibilität unseres Körperschemas – als Teil unseres autonomen Selbstmodells – könnte eine wichtige Rolle in der Evolution des menschlichen Werkzeuggebrauchs gespielt haben. Sie befähigt uns, gleichsam mit dem Werkzeug zu verschmelzen, es als Teil des eigenen Körpers wahrzunehmen und es so geschickt zu benutzen wie die eigene Hand (vgl. S. 118).

Ein weiterer zentraler Aspekt unseres autonomen Selbstmodells ist nach Metzinger die sogenannte Agentivität. Diese „erlaubt uns, Dinge auszuwählen: unsere nächsten Gedanken, den nächsten Wahrnehmungsgegenstand, auf den wir uns konzentrieren möchten, oder unsere nächste körperliche Bewegung.“ (S. 178) Ein „kognitives Subjekt“ sind wir dabei aber nur in geringem Maße. Vielmehr ist „der allergrößte Teil unseres Denkens (…) das ständige Geplapper  eines automatisch ablaufenden inneren Monologs, das Hintergrundgeräusch aus Erinnerungen, Bewertungen und kleinen Geschichten“ (S. 177). Agentivität ist zwar eine Eigenschaft unseres Selbstmodells, sie ist aber nicht stabil und nicht immer zuverlässig. Sie kann eingeschränkt werden oder sukzessive verloren gehen, etwa im Alkoholrausch oder in der Altersdemenz. Sie kann durch Hirnverletzungen beeinträchtigt sein. Dies geschieht im Fall des sogenannten Alien-Hand-Syndroms, wenn Patienten die Erfahrung machen, dass sich ihre Hand gegenüber ihren Absichten verselbständigt und wie von einem eigenen Willen begabt zu sein scheint. Und wie das Körperschema kann Agentivität experimentell manipuliert werden. Unter bestimmten Bedingungen glauben Versuchspersonen, sie hätten eine Cursorbewegung am Computer selbst herbeigeführt, in Wirklichkeit hat dies jedoch ein Verbündeter der Versuchsleitung getan.

Eine letzte Funktion unseres Selbstmodells, von der hier die Rede sein soll, ist die Fähigkeit zur Empathie. Metzinger bezieht sich in seiner Erläuterung auf zwei Arten von Neuronen: Die sogenannten kanonischen Neuronen wurden bei Primaten bereits zu Beginn der 1980er Jahre entdeckt. Ihre Aktivität ermöglicht Bewegungs- und Handlungsschemata. Sie reagieren auf die „visuelle Wahrnehmung von Gegenständen in unserer Umgebung“ (S. 237). „Unser Gehirn registriert nicht einfach einen Stuhl, eine Teetasse, einen Apfel. Es stellt den gesehenen Gegenstand auch sofort als Was-ich-damit-tun-könnte dar – als ein Angebot zum Handeln, als eine Menge von möglichen Verhaltensweisen“ (ebd.). Die zweite Art von Neuronen, die mittlerweile berühmten „Spiegelneuronen“, feuert bei Primat und Mensch nicht nur bei eigenen Handlungen, sondern auch dann, „wenn ein anderer Handelnder dabei beobachtet wird, wenn er Gegenstände auf zielgerichtete Weise benutzt“ (S. 238). Metzinger sieht in dieser neuronalen Aktivität die körperlich-stoffliche Grundlage der Empathie und des intersubjektiven Verstehens. Er spricht von einer „sozialen Neurowissenschaft“ (S. 236), die in Zukunft Ansätze und Befunde aus Soziologie und Biologie integrieren könnte.

Vor uns haben wir jetzt – in sehr groben Zügen – das, was Metzinger als das autonome oder phänomenale Selbstmodell bezeichnet. Demnach erscheint uns in unserem Ego-Tunnel eine einheitliche und als wirklich wahrgenommene Welt, in der wir uns räumlich und zeitlich verorten können. Wir verfügen über ein Ich-Bewusstsein in der ersten Person, das unserer Art einen evolutionären Vorteil verschafft hat. Unser flexibles Körperschema ist Teil des Selbstmodells und war vermutlich in der Geschichte der Menschheit insbesondere beim Werkzeuggebrauch nützlich. Wir erleben Agentivität als die Fähigkeit, unter Gedanken, Bewegungen und Handlungen eine bewusste Wahl zu treffen. „Kanonische Neuronen“ ermöglichen das spontane Erkennen von Handlungsmöglichkeiten, die in einem Gegenstand beschlossen liegen. Und dank der Spiegelneuronen sind wir zur spontanen Einfühlung in Handlungen und Absichten von anderen Menschen in der Lage. All die beschriebenen Fähigkeiten und Funktionen sind jedoch nur begrenzt stabil. Durch psychisches Leiden, Hirnverletzungen, Drogen oder experimentelle Manipulationen sind sie erschütterbar. Metzinger beschreibt dies auf eine faszinierende Weise, in flüssiger Sprache und anhand zahlreicher Beispiele, Befunde und Theorien.

Reduzierter Materialismus und politische Konsequenzen

Allerdings weist das Modell ernsthafte Schwächen auf. Andere Menschen, soweit sie überhaupt vorkommen, existieren in Metzingers Darlegungen nur als ein Gegenüber in unmittelbarer Interaktion. Der Versuch, bei der Erforschung des menschlichen Bewusstseins eine gemeinsame Sprache für Soziologie und Biologie zu entwickeln, muss zum Schaden beider Disziplinen ausfallen, wenn das Soziale auf direkte Kommunikation und Empathie reduziert wird. Das Selbstmodell scheint vom „methodologischen Individualismus“ infiziert zu sein, der den konventionellen Neurowissenschaften von Baecker bescheinigt wird. In der Realität hat man es „nicht mit einem Gehirn, sondern mit vielen Gehirnen in Gesellschaft zu tun“ (Baecker 2014, S. 41). Menschen verfügen über die Fähigkeit, Gesellschaften zu bilden und sich mittels gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion am Leben zu erhalten. Kollektive Praxis ermöglicht es ihnen, ihre Wahrnehmung und die darauf gegründete Praxis zu überprüfen. Dies wird bei Metzinger kaum thematisiert. Auch findet die Tatsache, dass das Bewusstsein eine ontogenetische Entwicklung durchmacht, nur an einer Stelle Berücksichtigung. Der Autor diskutiert den Fall eines kleinen Kindes, das gestolpert ist und an der Reaktion seiner Mutter einzuschätzen versucht, wie es selbst das Ereignis finden soll (vgl. Metzinger a.a.O., S. 232f.). Von einer Entwicklungspsychologie des Selbst ist man damit aber noch weit entfernt.

Dass Metzinger das Thema Gesellschaft meidet, scheint auch biografische Gründe zu haben: „Ich hatte an einem eher traditionell orientierten philosophischen Institut studiert, an dem die politische Philosophie der Frankfurter Schule tonangebend war. Dort schien fast niemand die enormen Fortschritte in der analytischen Philosophie des Geistes zur Kenntnis genommen zu haben. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass in den wirklich überzeugenden, substanziellen Arbeiten an der Forschungsfront der Materialismus schon lange zur herrschenden Lehre, zur orthodoxen Doktrin im Hintergrund geworden war.“ (S. 125) Und dieser Materialismus hat nichts mit dem gesellschaftstheoretischen „Geschichtsmaterialismus“ von Karl Marx und Friedrich Engels zu tun, auf den sich einst auch die Frankfurter Schule berufen hat. Der Materialismus, den Metzinger hier meint, reduziert sich darauf, dass im akademischen Betrieb niemand „auch nur im Entferntesten die Möglichkeit der Existenz einer Seele in Betracht“ zieht (ebd.).

Sieht man vom Inhalt der Theorie insgesamt ab und fokussiert stattdessen die Argumentationsstrategie des Autors, dann fällt zunächst eines auf: Das empirische und theoretische Material, das Metzinger zur Untermauerung seines Modells heranzieht, stammt überwiegend aus dem 20., teilweise sogar aus dem 19. Jahrhundert. Aus den Neurowissenschaften der vergangenen 30 Jahre hätte er kaum etwas zwingend gebraucht. Sigmund Freud (der im Buch unverdient schlecht wegkommt) prägte den Begriff der „Agnosie“ bereits 1891 und untersuchte die entsprechenden Phänomene (vgl. Freud 1992). Der sowjetische Neuropsychologe Alexander Lurija studierte Einschränkungen von Hirnverletzten und erkundete damit die neuronalen Grundlagen subjektiver Erfahrungen. Er berücksichtigte dabei vor allem auch die „Perspektive erster Person“ (z.B. Lurija 1992, siehe auch Zander 2012).

Der Umstand, für seine Argumentation weitgehend nicht auf aktuelle Befunde angewiesen zu sein, spräche keineswegs gegen Metzinger, bestünde dieser nicht darauf, gleichsam an der Front eines empirisch fundierten Erkenntnisfortschritts zu operieren. Dies scheint seine Prognosen mit größerer Autorität auszustatten. Bei Metzinger findet sich die bereits aus dem oben erwähnten Manifest bekannte Rhetorik der großen Ankündigung: Die „moderne Philosophie des Geistes und kognitive Neurowissenschaft“ stünden im Begriff, „den Mythos des Selbst zu zertrümmern“ (Metzinger 2009, S. 13). Eine „Bewusstseinsrevolution“ kündige sich an, die „in den westlichen Gesellschaften das jüdisch-christliche Bild des Menschen im Alltagsleben“ (S. 298) untergrabe und in der „Anthropologie, die Ethik und die politische Philosophie“ (S. 297) an Bedeutung gewönnen. Das sind starke Worte, die uns zu den normativ aufgeladenen Postulaten und Forderungen des Autors führen. Die „Wahrheit einer Behauptung“, so der Verfasser, müsse „unabhängig von ihren psychologischen oder politischen Konsequenzen bewertet werden“ (S. 192). Das stimmt zwar, dennoch kann man fragen, in wessen Interesse politische Konsequenzen sind und ob die Behauptungen vielleicht durch dieses Interesse (mit) diktiert sind.

Im Rahmen seiner „Neuroethik“ erörtert Metzinger zunächst, ob es vertretbar sei, „künstliche Ego-Maschinen“ zu bauen. Er verweist auf Forschungen zur Künstlichen Intelligenz und Robotik, in deren Rahmen Insekten und Ratten elektronische Steuerungseinheiten implantiert werden. Eigentlich geht es ihm jedoch um hypothetische Maschinen der Zukunft, die über ein dem Menschen vergleichbares Selbstmodell verfügen und sich damit „in einen Gegenstand moralischer Überlegungen verwandeln“ (S. 270). Gegen deren Bau macht er einen ebenso überraschenden wie abwegigen Einwand geltend: Die ersten, notwendigerweise noch unvollkommenen Konstruktionen dieser Art „befänden sich in einer Situation, die jener der [in einem vorangegangenen fiktiven Beispiel – M.Z.] gentechnisch manipulierten und geistig behinderten Säuglinge ähnlich wäre“ (S. 273).  Aus ethischen Gründen dürfe man jedoch die „Gesamtmenge des Leidens und der Verwirrung im Universum“ nicht erhöhen (S. 275).

Es handelt sich um ein Vorurteil, dem zufolge „geistige Behinderung“ genuin Leiden bedeutet und jedes Leiden zu vermeiden sei, also nicht etwa auch notwendiger Aspekt allen Lebens und – beispielsweise in gesellschaftlichen Konflikten – mögliche Übergangsphase im Kampf um bessere Lebensbedingungen. Dass Metzinger hier gleich das ganze Universum im Blick hat – und nicht irgendwie empirisch erfassbare Einheiten –, unterstreicht die kolossalen Ansprüche seines Philosophierens. Bezeichnenderweise denkt er nur an den Schaden, der den Maschinen zugefügt werden könnte, aber nicht an die Gefahren, die von Robotern ausgehen. Spekulationen über die ferne Zukunft lenken von den Problemen ab, die sich heute stellen, etwa angesichts „autonomer Waffensysteme“ (vgl. Wagner 2014). Obwohl er den Bau von „Ego-Maschinen“ ablehnt, gerät Metzinger mit seinen hochfliegenden Mutmaßungen über eine technische Zukunft doch in die Nähe des „Transhumanismus“ und der völlig abstrusen Fantasien des Google-Gurus Ray Kurzweil (2005), in denen Roboter die Macht übernehmen und die Menschheitsprobleme, inklusive Sterblichkeit, lösen.

Metzinger scheint psychisches Leiden als primär biologisch verursacht anzusehen und entsprechende Behandlungsweisen als positiv anzusehen: „Wir werden psychiatrische (…) Erkrankungen mit Hilfe neuer Kombinationen aus bildgebenden Verfahren, Chirurgie, Tiefenhirnstimulation und Psychopharmakologie besser behandeln können. (…) Jetzt (…) besteht die Hoffnung, dass neue Generationen von Antidepressiva und neue antipsychotische Medikamente das Leiden verringern können…“ (Metzinger 2009, S. 308f.) Überzeugende Gründe führt er nicht an. Psychopharmaka haben heute zum Teil erhebliche Nebenwirkungen und ihre langfristige Anwendung kann in vielen Fällen die statistische Lebenserwartung senken. Ebenso ungewiss ist die Zukunft leistungssteigernder oder gar persönlichkeitsverändernder Medikamente, die auch nicht ohne Nebenwirkungen zu haben sein werden. Metzinger treibt lediglich die Frage um, welche „Bewusstseinszustände“ legal sind und ob man Dopingtests vor Klausuren an Universitäten einrichten muss. Er problematisiert den Gebrauch von Modafinil durch die US-Armee im Irak-Krieg, nicht aber den Krieg selbst.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise sind für Metzinger unantastbar. Die „Werbe- und die Unterhaltungsindustrien“ seien allgegenwärtige „Aufmerksamkeitsräuber“; als Gegenmaßnahme schlägt er nicht etwa eine Kontrolle dieser Industrien, sondern „flächendeckenden Meditationsunterricht“ an Schulen vor (S. 330). Multinationale Konzerne als wirkliche „Global Player“ hätten „eine Tendenz zu autoritären Führungsstrukturen“, aber auch „ein besseres Management als die meisten demokratischen Nationalstaaten“ (S. 334). Gefahr drohe von „Bevölkerungen in autoritären Gesellschaften mit schwachen Bildungssystemen“ (ebd.), die schneller wüchsen als jener der demokratischen Länder. Es öffne sich eine „Schere zwischen den akademisch gebildeten und gut informierten Teilen der Bevölkerung“ und jenen, die „noch fest in vorwissenschaftlichen Kulturen und Weltbildern verwurzelt“ seien (S. 300). Was Metzinger damit andeutet, ist eine krude Mischung aus Malthusianismus, Aufklärungsrationalismus und ideologischem Führungsanspruch des „Westens“.

Unser Fazit fällt ernüchternd aus. Metzingers Selbstmodell ist durchaus interessant, aber ziemlich unvollständig. Zu seiner empirischen Fundierung wären aktuelle neurowissenschaftliche Befunde nicht zwingend notwendig. Der zugrunde liegende Materialismus reduziert sich auf die Leugnung einer „Seele“. Insofern Metzinger die Gesellschaft als Erkenntnisgegenstand ausklammert, fällt er weit hinter den Geschichtsmaterialismus von Marx und Engels zurück. Obwohl er eine „gemeinsame Sprache“ von Soziologie und Biologie anvisiert, bleibt seine Konzeption tendenziell biologistisch. Politische Ziele tarnt der Autor als Prognose einer angeblich anstehenden „Bewusstseinsrevolution“ und als zwangsläufiges Ergebnis angeblicher oder tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ihrem Inhalt nach stützt sich seine politische Ideologie auf den Kapitalismus, sie verengt den Fortschritt auf technische Entwicklungen und legitimiert den Führungsanspruch der reichen und imperialistischen Länder.

Das alles heißt nicht, dass die Hirnforschung und die von ihr beeinflussten Wissenschaften nicht auch wichtige Erkenntnisse generieren. Aber die populäre Neuropublizistik, für die Metzingers Buch ein Beispiel abgibt, ist überfrachtet mit bürgerlicher Ideologie und daher kein Schlüssel zu einer nicht-reduktionistischen materialistischen Psychologie. Echte Einsichten aus den Neurowissenschaften wären zudem auch nur eine von mehreren möglichen Quellen für eine solche Psychologie. Wichtige Beiträge liefern beispielsweise auch epidemiologische Forschungen zum sozialen Gradienten von (psychischer) Gesundheit und Krankheit (vgl. Marmot 2005), der als „kulturhistorische Theorie“ bekannt gewordene Ansatz Wygotskis und Lurijas oder die Kritische Psychologie, die sich ausführlich mit den evolutionären und gesellschaftlichen Voraussetzungen menschlicher Subjektivität beschäftigt hat (vgl. Markard 2009).

Literatur

Baecker, D. (2014). Neurosoziologie. Ein Versuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Beckermann, A. (1999). Stichwort „Philosophie des Geistes“. http://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/pdg_www.pdf (Abruf: 7.6.2014).

Fiedler, K. et al. (2005). Psychologie des 21. Jahrhunderts. Gehirn & Geist, 7-8/05, S. 56-60.

Freud, S. (1992). Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie. Frankfurt/M.: Fischer.

Kurzweil, R. (2005). The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology. New York: Pengiun.

Laucken, U. (2005). „Gibt es Willensfreiheit?“ Möglichkeiten der psychologischen Vergegenständlichung von „Willens-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit“. Forum Qualitative Sozialforschung, 6 (1), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/523/1132 (Abruf: 7.6.2014).

Lurija, A. (1992). Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten. Reinbek: Rowohlt.

Maiers, W. (2008). Psychologische und neurowissenschaftliche Sichten auf intentionales Handeln: Die Kontroverse um den freien Willen. In L. Huck et al. (Hrsg.), „Abstrakt negiert ist halb kapiert“. Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Morus Markard zum 60. Geburtstag (S. 43-63). Marburg: BdWi-Verlag.

Markard, M. (2009). Einführung in die Kritische Psychologie. Hamburg: Argument.

Marmot, M. (2005). Status Syndrome. London: Bloomsbury.

Metzinger, Th. (2009). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin: Bloomsbury.

Monyer, H. et al. (2004). Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, 6/04, S. 30-37.

Schnabel, U. (2008). „Ein soziales Organ“. Die Zeit, 3.4.2008.

Singer, W. (2004). Keiner kann anders, als er ist. FAZ, 8.1.2004.

Tretter, F. et al. (2014). Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“. http://www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ (Abruf: 7.6.2014).

Wagner, Th. (2014). Intelligente Killermaschinen. Hintergrund, 2/14, S. 4-7.

Zander, M. (2012). Neurologie und Gesellschaft. Porträt. Vor 35 Jahren starb der sowjetische Psychologe Alexander Lurija. junge Welt, 14.8.2012.

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