Krise Krankheit Widerstand

Die aktuelle Krise macht den Alltag unerträglich – für alle

ak – analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 571/ 20.04. 2012, S. 20. Verfügbar über: Ariane Brenssell in ak571

Ariane Brenssell

Da ich fast wöchentlich am Bahnhofsbuchladen vorbeikomme und mir dort die aktuellen Krimis und Zeitungen anschaue, komme ich um Schlagzeilen-Konjunkturen nicht herum. Sie hießen in der letzten Zeit auffällig oft: »Ausgebrannt«, »Das überforderte Ich«, »Neustart«, »Der gestresste Mensch«. Neben dem Slogan »Mach doch mal Pause« prangen: »Endlich Schluss mit dem Burnout-Gejammer«, »Burnout nur eine Ausweich-Diagnose«, »Ein Schleuder-Trauma des Geistes« oder »Das Rätsel um die Auszeit« eines Bankenchefs.

Neben Burnout-Tests, Work-Life-Balance-Tests, Tipps zur Krisenbewältigung und Kliniklisten kommen in den Zeitungen und Zeitschriften auch Zeitdiagnosen zur Sprache: Leistungsdruck und Flexibilisierung, Mobilitätsanforderungen, das Smart Phone als Symbol für die »rund-um-die Uhr-Erreichbarkeit« stehen für all die Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die zu enormen Anforderungen, Zumutungen und Unsicherheiten führen. Doch Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen bleiben ungebunden neben den individuellen Leidensberichten stehen: Robert Enke, Miriam Meckel …

Auch in den politischen Debatten wird wenig nach dem systematischen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Veränderungen und dem subjektiven alltäglichen Erleben und Leiden gefragt. Und das trotz der berühmten Thesen des Soziologen Alain Ehrenberg zum »erschöpften Menschen«, der Depressionen als eine Entsprechung der aktuellen Gesellschaft sieht, er nennt sie eine Krankheit der Verantwortlickeit: Wir sind für alles selbst verantwortlich, ohne jedoch über die Bedingungen bestimmen zu können. Untersuchungen zur Frage »Macht die Gesellschaft depressiv?« bestätigen die Zusammenhänge zwischen der Zunahme der persönlichen Krisen und dem »neuen gesellschaftlichen Normalzustand«. (1)

Depressionen – eine Unterform ist das Burnout – sind psychiatrische Diagnosen. Dahinter stehen krisenhafte Gefühle des Verlustes, der Trauer, der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung und der Ohnmacht. Ihre psychiatrische Klassifikation hält einen gesellschaftlichen »Normalzustand« aufrecht, indem sie aus alltäglichen Widersprüchen und individuellen Unbehagen Depressionen macht: eine Pathologisierung. Depressionen können losgelöst von einem Blick auf eine »krankmachende« gesellschaftliche Realität »behandelt« werden. Das Unbehagen an der Gesellschaft wird zu einer Sache der Medizin/Psychiatrie. Krank werden bleibt etwas Privates.

Die Krankenkassen liefern hierzu Zahlen: Die Zunahme der AU-Tage (AU = Arbeitsunfähigkeit) aufgrund psychischer Erkrankungen stieg in den letzten zehn Jahren um 42 Prozent bei Männern und um 63 Prozent bei Frauen. Die Verordnungen von Psychopharmaka haben sich bei beschäftigten Frauen zwischen 2004 und 2007 verdoppelt, bei Männern haben sie um 43 Prozent zugenommen. Jeder siebte Arbeitslose bekommt Psychopharmaka. (2) Eine (mentale) Exkursion nach Griechenland zeigt, dass sich dieses »Wachstum« noch beschleunigen kann: Hier stieg innerhalb des letzten Jahres die Vergabe von Antidepressiva um 40 Prozent. (3) Das lässt die gesellschaftliche Dimension des »Burn-out-Depression-Krisen-Komplexes« noch augenfälliger werden.

Die neoliberale Shock-Strategie der Finanzkrise

Aus der Krise der Banken eine Finanzkrise und daraus eine Staatsschuldenkrise und eine Generationsfrage zu machen, ist ein Coup, der aus Reichen noch Reichere und aus Armen noch Ärmere macht. Die Schere geht immer weiter auf, nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen denen mit Geld/Perspektive und denen ohne. »Gleichheit ist Glück« heißt die deutsche Übersetzung einer Studie der Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett. (4) Sie zeigen, dass in Gesellschaften mit zunehmender Einkommensungleichheit auch die psychosozialen Probleme zunehmen. Das umfasst Krankheiten wie Adipositas, psychische Erkrankungen, die Anzahl der Morde, den »Drogenkonsum«, aber auch Kindersterblichkeit und Teenagerschwangerschaften.

Die Studie basiert auf offiziellen Zahlen der WHO und anderen internationalen Organisationen. Kate Pickett hierzu: »Wir haben uns angeschaut, wie sich die Einkommensverteilung in 21 reichen Industrieländern auf diese Probleme auswirkt. Und wir haben herausgefunden, dass Länder, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich gering ist, durchweg besser abschneiden. In den Ländern, in denen die Einkommensunterschiede groß sind, gibt es dagegen durchweg mehr Gewalt, mehr Gefängnisinsassen, mehr Teenagerschwangerschaften, schlechtere Schulabschlüsse, weniger soziale Mobilität. Die gesundheitlichen und sozialen Probleme sind größer.« (taz, 13.3.2010)

Diese Erkenntnisse sollten die Debatte verändern, so das Ziel der AutorInnen, indem sie deutlich machen: Ungleichheit erodiert die Gesellschaften. Die Studie hat Geahntes neu belegen können. Erstens: Es ist für alle – auch für Reiche – schlechter, in ungleichen Gesellschaften zu leben. Zweitens: Einkommensungleichheit wirkt sich auf Probleme im Alltag aus. Dafür, so die Autorin, gab es bisher keine wissenschaftlichen Belege.

Doch diese Argumentation hat bislang kaum Eingang in die aktuellen Krisenanalysen gefunden, geschweige denn zu einer breiten Einsicht darin geführt, dass die fundamentale Umverteilung von unten nach oben durch die aktuelle Finanzkrise etwas ist, was den Alltag unerträglich macht – für alle. Das ist die Statistik. Die AutorInnen haben auch Erklärungsansätze: In ungleicheren Gesellschaften müssen alle um den Erhalt ihres Status kämpfen, auch die Angst um Statusverlust trifft alle, das verursacht dauerhaften Stress, und der wiederum schürt die Spirale des Gegeneinanders, der Gewalt, des Krankwerdens an den Verhältnissen.

Die Krise als Zugriff auf Reserven der Entwürdigung

Für den Streik bei Gate Gourmet, dem Flughafen-Catering-Unternehmen, war Menschenwürde das wichtigste Motiv. Ein Arbeiter berichtet: Ich fand, »jetzt reicht’s«, als ich merkte, dass ich anfing, die Schritte in meiner Küche zu zählen. McKinsey – die Unternehmensberatung – hatte zuvor alle Spielräume in der Produktion beseitigt, der Konzern sollte (noch) effizienter werden, zwecks Verkauf an der Börse. Aus Sicht der ArbeiterInnen sieht das so aus: Sie haben auf unsere Menschenentwürdigungsreserven zugegriffen. (5)

In einem Seminar berichtete eine ehemalige Pflegerin von Veränderungen in ihrer Arbeit. Sie und ihre Kolleginnen wurden von einer Unternehmensberatung freundlich aufgefordert, eine Liste mit allen »versteckten« Tätigkeiten anzufertigen. Diese seien dann gelistet und zugunsten von Einsparungen und Effizienz aus dem täglichen Arbeitsablauf verbannt worden. Dazu gehörte es zum Beispiel, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen und der Heimbewohnerin zu bringen, die das selbst nicht mehr konnte. Was taten die Pflegerinnen fortan, fragte ich. Sie taten es weiter. Nur heimlich und verdeckt, auf ihre Kosten.

Das zeigt, wie Effizienz gesteigert wird. Es geschieht auf Kosten derer, die noch mit den Menschen direkt zu tun haben, nicht nur mit Zahlen. Die Arbeiten und Realitäten verschwinden nicht, sie werden aus den Kostenrechnungen rausgelöscht. Feministische Analysen haben das vielfach gezeigt: Die Entwertung der Arbeiten rund um die Reproduktion und das rein ökonomische Menschenbild des Homo Oeconomicus ist nur ein Teil des Ganzen. Die neoliberalen Verhältnisse funktionieren nur auf der Grundlage der Ausblendung und Abwertung dieser ganzen Realitäten: der Reproduktionsarbeiten, der persönlichen Krisen und Krankheiten … Damit werden die Kosten externalisiert und abgeschoben: Was zählt? – Who cares?

Den aktuellen Höhepunkt dieser Logik bildet die Krise als Schuldenbremse – ein technokratisches Meisterstück, das nichts mehr verhandelbar macht, die Zahlen sind festgeschrieben, nur noch die Mittel können diskutiert werden. Schon 1995 beschrieb der Männlichkeitsforscher R.W. Connell als Spezifikum des Neoliberalismus: Die technokratische Tagesordnung der Manager verallgemeinert sich zum gesellschaftlichen Leitbild, »sie besetzt das Terrain des Sachverstands« und ersetzt Argumente und Begründungen durch Kennziffern und Zahlen. Sie verschließt damit systematisch die Räume für andere Anliegen, für ihre Versprachlichung und für eine Verständigung. »Manageralisten und Technokraten stellen feministische Programme nicht direkt in Frage, aber sie lassen sie finanziell austrocknen oder lassen sie im Namen von Effizienz und Freiwilligkeit zusammenschrumpfen.« (6)

Dass persönliche und soziale Not, Druck, Überlastung, Krankheiten immer schwerer als Teil der Verhältnisse zur Sprache zu bringen sind hat System. Baustein 1: Herrschaft und Repression durch Zahlen, die nicht mehr verhandelbar sind. Baustein 2: Menschen kommen darin nur noch im statistischen Durchschnitt vor, nicht mehr als Subjekte – denn diese liegen außerhalb dessen was zählt. Solche Externalisierungen sind ein strategisches Moment der neoliberalen Krisenlösungen. Die Analyse der indischen Aktivistin Metha Patka bekommt mit der Finanzkrise einmal mehr Gewicht, denn dass diejenigen, deren Geld auf dem Spiel steht, mehr zählen als diejenigen, deren Leben auf dem Spiel steht, spitzt sich mit der Finanzkrise und der Schuldenbremse zu.

Um die Probleme im Alltag im Zusammenhang mit den Widersprüchen neoliberaler Herrschaft zu verstehen, sollten diese Themen in den Bewegungen aufgegriffen und entprivatisiert werden. Wir brauchen Räume der Verständigung darüber, wie Herrschaft sich im Alltag reproduziert und wie wir daran teilhaben. Um der Sprach- und Verständigungslosigkeit zu begegnen, sollten die Bewegungen gegen den Kapitalismus, Neoliberalismus, gegen die Technokratie und die Durchsetzung ihrer Logik in alle Lebensbereiche ihre Forderungen mit einer (Selbst)Verständigung über die Menschenwürde verknüpfen.

Damit könnten auch die »Alltäglichkeiten« thematisiert und entprivatisiert werden. Und es würde deutlich, wie wir auf Kosten der Menschenwürde die Krise (er)tragen: Was passiert mit den Wäschekörben und den Zeitungen in den Pflegeheimen? Was geschieht mit denjenigen, die krank werden in den Verhältnissen? Wie lässt sich das Unbehagen in den Verhältnissen jenseits von medizinischen Definitionen fassen? Die feministische Finanzexpertin aus der Schweiz, Mascha Madörin, hat einen passenden Vorschlag zum Widerstand: Wir brauchen eine Messguerilla gegen das Vermessen unseres Alltags. Wie kann das konkret aussehen?

Solche Fragen sollten Teil des Widerstands gegen den neoliberalen Kapitalismus werden. Erst dann können die – sonst all zu leicht individualisier- und pathologisierbaren – Problemlagen von Menschen als Reproduktionsmoment sichtbar werden. Und nur so kann eine Selbstverständigung, ein Austausch, eine Reflexion beginnen, um wieder (gemeinsam) eine Sprache zu finden für das Unbehagen und Leiden in neoliberalen Zeiten.

Ariane Brenssell lehrt kritische Psychologie an der Hochschule Ludwigshafen/Rhein und schrieb in ak 516 über die Geschlechterverhältnisse im Zusammenhang mit G8

Anmerkungen:

1) Vgl. Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch: Depression. Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung einer Diagnose. Münster 2008 und ElisabethSummer: Macht die Gesellschaft depressiv? Bielefeld 2008.

2) Vgl. Erika Zoike: Zunahme der psychischen Erkrankungen bei Beschäftigten. Statistische Ergebnisse und Präventionsansätze der Krankenkassen. In: Heiner Keupp und Helga Dill: Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt. Bielefeld 2010, S. 61-76.

3) Vgl. Karl Heinz Roth: Griechenland und die Euro Krise. In: Sozial.Geschichte Online 6/2011, S. 156-176, www.stiftung-sozialgeschichte.de.

4) Richard Wilkinson und Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin 2010.

5) Flying Picketts (Hg.): Auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet. Berlin/Hamburg 2006.

6) Vgl. Robert W. Connell: The big picture: Formen der Männlichkeit in der neueren Weltgeschichte. In: Widersprüche Heft 9/1995, S. 23- 46.

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