Aneignungsschwierigkeiten: Wege zur Kritischen Psychologie

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Leoni Breuer, Moritz Thede Eckart, Leonie Knebel, Marcel Thiel

Die Verfügung von Individuen über gesellschaftliche Prozesse spielt in der bürgerlichen Psychologie keine Rolle. Sie akzeptiert weitestgehend unhinterfragt den gesellschaftlichen Status quo mit den Entwicklungsbehinderungen und Zwängen in Schule, Ausbildung, Universität und Beruf.

Die Kritische Psychologie beleuchtet, wo die Möglichkeiten menschlicher Handlungsfähigkeit durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform beschränkt werden und wie diese Beschränkungen überwunden werden können. Eine Aneignung der Kritischen Psychologie stellt somit auch eine Möglichkeit zur Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit dar. Durch sie werden einem Methoden an die Hand gegeben, um Psychologie als emanzipatorische Wissenschaft zu betreiben, die eigene Kritik an einer herrschaftsförmigen Psychologie auf den Punkt zu bringen und Denkformen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, mit denen Menschen kritische Lebenssituationen in ihrem gesellschaftlichen Bezug aufschlüsseln können.

Es ist allerdings oft ein sehr mühsames Unterfangen, sich die Kritische Psychologie und insbesondere die Werke von Klaus Holzkamp anzueignen. Viele der zentralen Texte und Bücher sind eine schwere Kost, und der Zugang zu den Inhalten muss in der Regel autonom organisiert werden, da die Kritische Psychologie — mit wenigen Ausnahmen — aus den offiziellen Lehrplänen der psychologischen Institute verschwunden oder nie dort angekommen ist (vgl. Rexilius, 2008). Im Folgenden werden unterschiedliche Formen, sich mit der Kritischen Psychologie und damit kritisch mit der traditionellen Psychologie auseinanderzusetzen, dargestellt. Hierbei greifen wir auf Erfahrungen von Arbeitskreisen und Einzelpersonen zurück, die sich in Trier und Marburg mit der Kritischen Psychologie befassen.

Zugang zur Kritischen Psychologie: Lernen ohne LehrerIn

Wir möchten drei Möglichkeiten vorstellen, einen vertieften Einstieg in die Kritische Psychologie zu finden: (1) mittels der Frühschriften von Holzkamp, (2) mit Hilfe der Einführung in die Kritische Psychologie (Markard 2009) und (3) über verschiedene Praxisarbeiten. Vorweg ist es sinnvoll, einen der kürzeren Überblicksartikel zu lesen. Einige einführende Texte sind im Kasten aufgeführt, andere sind unter kurzlink.de/kp-trier-textkiste zu finden.

Wer sich besonders für eine methodische und inhaltliche Kritik an der traditionellen Psychologie und an theoretischen Überlegungen interessiert, findet in dem Sammelband Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten (1972) die ersten kritisch-psychologischen Artikel, die Holzkamps Abwendung von der traditionellen Psychologie begründen und Skizzen einer neuen, emanzipatorischen Psychologie enthalten. Ein Vorteil dieser Arbeiten liegt im Vergleich zu späteren Schriften in der vertrauten, am Mainstream orientierten Begriffswahl, ein Nachteil darin, dass zentrale Konzepte der Kritischen Psychologie noch nicht entwickelt sind. Die Fragen nach der Relevanz psychologischer Forschung und den verborgenen anthropologischen Voraussetzungen, der Kritik am Experiment und den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen, die die Artikel aufwerfen, sind für eine Auseinandersetzung mit den Inhalten und Methoden des Fachs Psychologie immer noch aktuell und laden dazu ein, die dort formulierte grundlegende Kritik auf Beispiele aus Studium oder Alltag anzuwenden.

Wer sich gleich auf den neuesten Stand der Kritischen Psychologie bringen möchte, kann zur Einführung in die Kritische Psychologie von Morus Markard (2009) greifen. Auf 303 Seiten werden alle wichtigen Konzepte vorgestellt sowie in ihrer Entwicklung nachvollzogen. Obwohl um eine einfache, einführende Sprache bemüht, wird es für AnfängerInnen nach den ersten drei Kapiteln hin und wieder schwierig, dem Verlauf des Buches zu folgen. Trotzdem gibt es für einen detaillierten und differenzierten Überblick kein besseres Buch als diese Einführung. Aus unseren Seminar- und Lesekreiserfahrungen haben wir den Schluss gezogen, dass ein langsames Lesen und Diskutieren unter Hinzuziehung anderer Texte und der Austausch mit Kritischen PsychologInnen über ungelöste Fragen sehr hilfreich sein kann. Eine andere Möglichkeit ist, alle Fragen, die während des Lesens entstehen, zu sammeln und am Ende zu prüfen, ob man sie nach der Lektüre beantworten kann. Wenn nicht, sind es vielleicht Fragen, die in der Kritischen Psychologie noch offen sind. Der Ansatz ist nämlich weit von dem Anspruch entfernt, auf alles eine Antwort zu haben und fordert deshalb zum selbst- und mitdenken auf. Hat man die Einführung einmal durchgearbeitet, stellt es ein sehr gutes Nachschlagewerk dar. Außerdem kann es nicht schaden, einige schwierige Kapitel zu überspringen und zunächst lebensnähere Teile wie das 12. Kapitel über Erziehung, Lernen und Entwicklung zu lesen.

Die dritte Möglichkeit besteht darin, mit Praxis-Texten aus verschiedenen Themenbereichen anzufangen und darüber indirekt die theoretischen Überlegungen, die Denkweise und die Methoden der Kritischen Psychologie kennen zu lernen. Wenn ich ein pädagogisches Seminar besuche oder mich selbst gerade mit Erziehung herumschlage, könnte mir der Anti-Erziehungsratgeber von Gisela Ulmann Über den Umgang mit Kindern (1987) oder der Sammelband Kinder von Klaus Weber (2010) weiterhelfen. Wenn ich meine Praktikumserfahrungen und den Umgang mit institutionellen Zwängen im Beruf reflektieren will, könnte ich mir im Buch Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung (2000) ansehen, welche Gedanken sich andere kritisch-psychologisch Interessierte dazu schon gemacht haben. Zudem enthält es eine Liste von Diplom- und Doktorarbeiten, die sich der psychologischen Praxis widmen und zum Weiterlesen einladen. Auch zu (Anti-)Rassismus, Lebensführung, Arbeitslosigkeit, dem Konstrukt »Hochbegabung« und vielen anderen Themen gibt es Texte der Kritischen Psychologie.

Für alle Herangehensweisen gilt ein problembezogenes Lesen. Denn ohne ein eigenes Lernbedürfnis bzw. -interesse ergibt es keinen Sinn, sich mit der Kritischen Psychologie zu beschäftigen, zumal sie keine einfachen Lösungen, die im Studium oder Beruf ohne weiteres anwendbar wären, anbietet und dazu tendiert, erst einmal immer mehr Fragen aufzuwerfen. Das ist manchmal frustrierend und führt häufig zu einer Abwendung von der Kritischen Psychologie mit dem Vorwurf, sie kritisiere nur, sei zu kompliziert und sowieso ziemlich veraltet.

Holzkamp selbst war das traditionelle Lehren (Lehren als Lernbehinderung?, 1991) von Wissen suspekt. Er suchte das Gespräch und die Auseinandersetzung mit Studierenden, so dass die Kritische Psychologie im Dialog (vgl. Markard, 2010, S.19) entwickelt wurde. Der dialogische, interaktive Prozess des Lernens kann auch als ein Grundstein zur Aneignung der Kritischen Psychologie heute angesehen werden. Darum ist es empfehlenswert, sich in Lesekreisen zusammenzufinden, dabei die je eigenen Lerninteressen und individuellen (Zeit-)Ressourcen offen zu legen und ein verständigungsorientiertes Klima zu schaffen. Dabei muss es immer möglich sein, aussteigen zu können, denn jede/r hat eigene Lerngründe, die sich im Laufe der Zeit verändern können. Es ist aber unserer Erfahrung nach wichtig, dass die anderen Beteiligten erfahren, warum jemand einen anderen Weg weitergeht, um der Gruppe unter Umständen die Chance zu geben, sich zu entwickeln. Immer hilfreich ist es, den Kontakt zu anderen Gruppen oder ExpertInnen aufzunehmen, um über Veranstaltungen informiert zu werden oder inhaltliche Fragen zu klären.

Hürden und Probleme der Aneignung: Überwindbar oder notwendiges Übel?

Adorno und Horkheimer schrieben, dass »der ehrlichste Reformer […] durch Übernahme eines eingeschliffenen Kategorienapparats und der dahinterstehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte« (1947/1988, S.4). Holzkamp sah es deshalb als eine zentrale Aufgabe an, ein neues Begriffssystem in der Grundlegung der Psychologie (1983) zu entwickeln, um die herrschaftsstabilisierende Funktion der traditionellen Begriffe sichtbar zu machen und überwinden zu können. Die Kritische Psychologie gilt als ein »hochelaboriertes, geschlossenes epistemologisches System« (Mattes 1998), was ihre Lektüre nicht einfach macht, dafür aber einen großen Erkenntnisgewinn verspricht, wenn man sich einmal auf die Reise begibt.

Die neuen teilweise sperrigen, alltagsfernen Begriffe gepaart mit einem hohen Grad an Abstraktion und Holzkamps Vorliebe für lange Sätze mit vielen Substantivierungen bedürfen der Vermittlung. Jedoch: »Diese VermittlerInnen oder LehrerInnen oder BegleiterInnen der produktiven Aneignung kritischer Psychologie waren« so Rexilius (2008) »von wenigen Enklaven abgesehen, gewissermaßen ausgestorben: Die KollegInnen, die die Macht hatten, ihre Wissenschaftsauffassung als die richtige und rechte zu behaupten, verweigerten ihnen konsequent und rigoros den Zugang zu Stellen an den Hochschulen.«

Die Schwierigkeiten der Aneignung gelten aber vor allem dann, wenn man versucht, sich die Kritische Psychologie als Paradigma im Ganzen anzueignen, denn es gibt viele Beiträge, die für sich stehen und dabei auch sehr gut verständlich sind. Dabei wird man jedoch meist hinnehmen müssen, nicht zu wissen, wie die Begriffe oder das Menschenbild der Kritischen Psychologie eigentlich begründet werden. Es bedarf also bei einer systematischen Aneignung der Kritischen Psychologie einer gewisser Ausdauer und Hartnäckigkeit, wobei auch kleinere Hilfestellungen den Lernprozess erleichtern können. Zum Beispiel kann es sinnvoll sein, sich ein eigenes Begriffslexikon anzulegen oder das stetig wachsende Glossar auf grundlegung.de zu nutzen.

Wer Vorkenntnisse im Bereich Marxismus, Wissenschaftstheorie oder traditioneller Psychologie hat, wird davon zehren können. Vorsicht ist beim Verständnis mancher Begriffe (z.B. Handlungsfähigkeit) geboten, da sie umgangssprachlich klingen, aber viel mehr dahinter steckt (vgl. Fried et al. 1998, Kaindl 1998). Ebenso problematisch wäre es, der weit verbreiteten Manier zu erliegen, Menschen zu typisieren und — entgegen der kritisch-psychologischen Intention, Begriffe für Menschen und ihre Selbst-/Verständigung bereitzustellen — diese nach »restriktiv« und »verallgemeinert« handelnden Menschen zu klassifizieren. Mit der kritischen Betonung gesellschaftlicher Verhältnisse angesichts des »Elends der Welt« (Bourdieu) und dem Kritisieren von Ansätzen, die von ebensolchen behindernden gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahieren, kann es vorkommen, dass man das Individuum zum »Opfer« seiner Verhältnisse erklärt. Aus kritisch-psychologischer Sicht wäre dieser Denkstil als Bedingtheitsdiskurs zurückzuweisen und auf die Begründetheit jedes Handelns zu pochen, mag dieses in Auseinandersetzung mit noch so einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnissen stattfinden oder von »außen« sonderbar anmuten.

Für die Zukunft der Kritischen Psychologie wird es notwendig sein, neue Formen der Aneignung, Vermittlung und des Austausches zu finden und bestehende auszubauen. Beispiele dafür sind u.a. der Online-Einführungskurs zur Grundlegung der Psychologie (grundlegung.de) und die Assoziation Kritische Psychologie (kritischepsychologie.blogsport.de). Aktuell ist auch auf ein Vernetzungstreffen zu Kritischer Psychologie hinzuweisen, das vom 14.-15. Mai 2011 in Berlin stattfinden soll und sich mit Perspektiven dieses doch leider universitär marginalisierten Ansatzes befasst. »Wenn es Kritische Psychologie bei mir nicht gibt, dann hole ich sie zu mir — nicht nur in meinen Bücherschrank«. Diesem Motto folgend, haben wir bisher immer gute Erfahrungen mit der Organisation von Vorträgen oder Workshops gemacht.

Literatur

Fried, B., Kaindl, C., Markard, M. & Wolf, G. (Hrsg., 1998), Bericht über den 4. Kongreß Kritische Psychologie. Erkenntnis und Parteilichkeit: Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft, Berlin/Hamburg: Argument

Horkheimer, M. & Adorno, T.W. (1947, 1988), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer

Kaindl, C. (1998), Gesellschaftliche Dimensionen individueller Handlungsfähigkeit. Zur Debatte um ein kritisch-psychologisches Grundkonzept. Auszug aus der unveröffentlichten Diplomarbeit: 2010.ferienuni.de/data/kaindl-diplomarbeit-auszug-gesellschaftstheorie.pdf

Mattes, P. (1998), Kritische Psychologie, in: Psychologische Grundbegriffe — ein Handbuch, Grubitzsch, S. & Weber, K. (Hrsg.), rowohlts enzyklopädie, S. 292-297.

Rexilius, G. (2008), Wie Klaus Holzkamp posthum auf den Kopf gestellt wurde, Journal für Psychologie, 16(2), online: journal-fuer-psychologie.de/jfp-2-2008-3.html


Quellen

Einführende Online-Texte

Bücher zum Weiterlesen

  • Holzkamp, K. (1972), Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten
  • Markard, M. (2010), Einführung in die Kritische Psychologie
  • Markard, M. (2010), Kritische Psychologie: Forschung vom Standpunkt des Subjekts, in: Mey & Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie
  • Markard, M. & Ausbildungsprojekt subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000), Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Wider Mainstream und Psychoboom
  • Osterkamp, U. (1996), Rassismus als Selbstentmächtigung
  • Ulmann, G. (1987), Über den Umgang mit Kindern
  • Weber, K. (2010), Kinder

Internetseiten

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Kritische Psychologie: Eine Psychologie von »je mir«

Einleitungsartikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der  »CONTRASTE — Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Uli Frank

Wie kommt die Kritische Psychologie (die mit dem großem »K«) in die CONTRASTE? Ist das nicht etwas aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts? Gibt’s die »Holzkamp-Psychologie« denn immer noch?

Eine Reihe von Projekten und Themen, von den in den letzten Jahren in der CONTRASTE zu lesen war, hatten immer wieder mal Bezüge zur Kritischen Psychologie — ohne, dass explizit die Rede davon war. Begriffe wie »Selbstentfaltung«, »Handlungsfähigkeit«, das »je ich« als Hinweis auf die Verallgemeinerbarkeit des individellen Standpunktes, die fünf Schritte bei der Entstehung des Neuen usw. wurden in verschiedenen Artikeln verwendet. Die Kritische Psychologie kommt also ungenannt in der CONTRASTE immer wieder mal vor, nun machen wir sie explizit zum Thema.

Das jedoch ist nicht ganz einfach. Denn neben den oben genannten eher eingängigen Begriffen, gibt es viele weniger bekannte eigenwillige Wortschöpfungen Klaus Holzkamps, die die Lektüre seines 600 Seiten starken Hauptwerks »Grundlegung der Psychologie« manchmal zur Qual machen:»Verfügungsbehinderungen«, »Möglichkeitsverallgemeinerung«, »Kategorialanalyse«, »Aktualempirie« usw. Holzkamp nimmt diese Schwierigkeiten in der Einleitung schon vorweg: »…Man wird mir sagen, es mache große Mühe, dieses Buch zu lesen. Ich halte dem entgegen, daß es auch Mühe gemacht hat, es zu schreiben….«

Eine ungewöhnlich knappe Selbstdarstellung der Kritischen Psychologie findet sich auf ihrer Homepage (kritische-psychologie.de): »Die Kritische Psychologie entstand aus der Studentenbewegung und den in dieser Zeit angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Mit der Überschreitung ›binnenwissenschaftlicher‹ Fragen und im Zusammenhang einer ›tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Umorientierung‹ (Holzkamp 1985) wandte sie sich auch gegen eine Psychologie als Herrschaftswissenschaft und die ›Psychologisierung‹ gesellschaftlicher Widersprüche. (…) Gegenstand subjektwissenschaftlicher Forschung ist nicht das Subjekt, sondern dessen Welt, wie sie von ihm empfindend, denkend und handelnd erfahren wird.«

Der Ursprungsimpuls der Kritischen Psychologie ist also nicht nur die Einsicht, dass die akademische Psychologie ihren eigenen Gegenstand (»Psyche«) nicht kennt, sondern auch, dass sie ihrem Forschungsgegenstand »Mensch« nicht gerecht wird, weil sie ihn vom Außenstandpunkt betrachtet und damit objektiviert und funktionalisiert. Als Individualwissenschaft erhebt die Kritische Psychologie dagegen den Anspruch, jedes besondere »ICH« von seinem subjektiven Standpunkt in der Gesellschaft her zu begreifen und dazu beizutragen, die eigene Handlungsfähigkeit real zu erweitern und neue Möglichkeiten zu eröffnen. Es geht damit also unter anderem darum, das wissenschaftlich zu fundieren und praktisch zu unterstützen, was CONTRASTE im Untertitel führt: Selbstorganisation.

Die Kritische Psychologie ist auch von Bedeutung, wenn es darum geht, dem Mythos des antriebslosen Menschen entgegen zu treten. In einer Gesellschaft, in der Menschen sich verkaufen müssen, um Leben zu können, ist es völlig nachvollziehbar, dass sie sich dem Zwang entziehen, sobald dies möglich ist. In völliger Verdrehung wird daraus geschlossen, dass Menschen »gar nichts« mehr tun, wenn man sie nicht besticht (»Lohn zahlt«) oder sie nicht zwingt (»Arbeitszwang bei ALG-2«). Wer nicht »motiviert« sei, den müsse man »Fördern und Fordern«, so heißt es. Dekonstruiert man die dahinter stehenden Annahmen, so wird deutlich, dass »jemanden zu etwas motivieren« immer einen Außenstandpunkt einschließt: Da ist jemand, der weiß vorher, wozu ich gebracht werden soll. Der Standpunkt erster Person, mein Standpunkt, bedeutet hingegen, dass nur ich wissen kann, was mein Platz in dieser Welt ist, wie mein Beitrag aussieht, wie ich mich am besten entfalten kann — und wie die Gesellschaft sein muss, dass mir dies »motiviert« möglich ist. Das Unmotiviert-Sein in einer Gesellschaft, deren selbstbezügliche Sinnlosigkeit an allen Ecken sichtbar und für mich in meinen Lebensbereich hautnah erfahrbar wird, ist kein individuelles Problem. Gleichwohl bin ich für mein Handeln jederzeit verantwortlich, es ist nicht beliebig, was ich tue. Ich kann Isolation und Exklusion aktiv betreiben oder für Zusammenschluss und Einschluss der Anderen sorgen. Sich in diesen vielfältigen Widersprüchen bewegen zu können, dafür bietet die Kritische Psychologie einige Denkmittel.

Unser AutorInnenteam: Stefan Meretz schrieb die Einführung. Vier engagierte Studierende der Psychologie, Leoni Breuer, Moritz Thede Eckart, Leonie Knebel und Marcel Thiel, berichten von den Schwierigkeiten, neben dem akademischen Studium aus eigener Initiative den Zugang zur Kritischen Psychologie zu finden, und warum sie das trotzdem so wichtig finden. Grete Erckmann und Michael Zander (AG Berufspraxis) liefern einen Praxisbericht aus der psychosozialen Arbeit, und die Philosophin Annette Schlemm (»Philosophenstübchen«, Jena) diskutiert die Bedeutung der Kritischen Psychologie für emanzipatorische Bewegungen.

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Praxisforschung: Widersprüche in Therapie und Beratung

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der  »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011. Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Grete Erckmann, Michael Zander

Kann man in der psychosozialen Arbeit — also in den Berufsfeldern von Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik — emanzipatorische Ziele verfolgen? Für bestimmte Tätigkeiten muss man dies klar verneinen, wenn etwa Psycholog_innen dabei helfen, Bundeswehrsoldat_innen kriegstauglich zu machen, Arbeitsplätze wegzurationalisieren oder die Ablehnung von Studienbewerber_innen mit Hilfe von Testdiagnostik zu legitimieren.

In vielen Fällen ist die Situation weniger eindeutig. Klient_innen erwarten Hilfe, sei es bei psychischer Überforderung, die sich u.a. in Ängsten, Depressionen oder Sucht ausdrücken kann, sei es bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen wie Erwerbslosigkeit, dauerhaften Schulproblemen der Kinder oder Umgang mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Gleichzeitig sind Praktiker_innen mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, die sie bei der Erfüllung ihres Auftrags behindern, etwa restriktive Vorgaben von Kostenträgern zum Beratungs- bzw. Behandlungsumfang oder unzulängliche »offizielle« Theorien, die die Verantwortung für das zu lösende Problem allein der Klientin bzw. dem Klienten zuschieben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Erfolgschancen von Therapie und Beratung immer auch davon abhängen, ob es aus Sicht der Klient_innen erstrebenswerte Alternativen zu ihrer aktuellen krisenhaften Situation gibt.

Die kritisch-psychologische Praxisforschung wurde entwickelt, um die konkreten Probleme der Praktiker_innen und Klienten_innen zu erforschen und möglichst zu überwinden. Viele Konzepte gehen auf das »Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis« (ASB) an der FU Berlin zurück. In diesem Projektseminar werden Praktika und Diplomarbeiten unter bestimmten Fragestellungen diskutiert, die die Studierenden selbst einbringen. Die Berliner AG Berufspraxis, ein Zusammenschluss von Studierenden und Praktiker_innen, führt ebenfalls Praxisanalysen durch, vor allem im Hinblick auf die Bereiche Psychotherapie und Beratung.

Im Mittelpunkt steht die Falldarstellung einer Praktikerin bzw. eines Praktikers. Es geht zunächst um die Darstellung von Vorgängen, Ereignissen und Aussagen Dritter. Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, wer welches Problem wie definiert. Im beruflichen Alltag ist man häufig mit einer Vielzahl von Deutungen und Diagnosen konfrontiert, hinter denen regelmäßig zu verschwinden droht, worin eigentlich die Klientin oder der Klient selbst das Problem sieht. Nach und nach werden in der gemeinsamen Diskussion des Falles die Bedingungen herausgearbeitet, die mutmaßlich bei der Entstehung des ursprünglichen Problems und bei den bisherigen Lösungsversuchen eine Rolle gespielt haben.

Begründet statt bedingt

Angestrebt wird eine Analyse im Begründungsdiskurs. In der alltäglichen Kommunikation führen wir für unser Handeln in der Regel Gründe an, nach dem Muster: »Ich habe x getan, weil ich unter den Bedingungen von y ich z erreichen wollte«. Es gibt aber vielfältige Anlässe, aus diesem Diskurs auszusteigen, also Handlungen nicht mehr auf mögliche Gründe zu beziehen, sondern auf bloße Bedingungen oder Seinsunterstellungen (die/der macht das, weil sie/er nun mal so und so »ist«). Vor allem Unverständnis für eigenes und fremdes Verhalten oder psychische Symptome sind solche Anlässe. Wenn in der kritisch-psychologischen Analyse versucht wird, Unverständliches konsequent als Begründungsmuster zu formulieren, dann ist damit nicht gesagt, dass alle Gründe »bewusst« sind. Es wird lediglich angenommen, dass unser Handeln mit unseren Wünschen, Bedürfnissen und Interessen einerseits und mit den jeweiligen objektiven Lebensbedingungen andererseits vermittelt ist. Gleichzeitig sind die Kontexte, in denen wir handeln, meist auch von Kausalitäten durchsetzt, wie Wirkungen von organischen Krankheiten und Drogen, Schlaflosigkeit oder Lärmbelastungen. Sie sind Teil der jeweiligen Prämissen des Handelns, aus denen wir wiederum die Gründe für unser Verhalten ableiten.

Das Gegenmodell zum Begründungsdiskurs ist der Bedingtheitsdiskurs, in dem die meisten akademisch-psychologischen Mainstream-Theorien formuliert sind. In ihm werden die Handelnden nicht als Subjekte betrachtet, vielmehr erscheinen Erleben und Verhalten als bloße Resultate von Bedingungen. Je nach Theorie fehlt den Betroffenen lediglich Serotonin, positive Verstärkung, libidinöse Besetzung, Ich-Stärke oder Anerkennung. Menschen werden als nahezu vollständig fremdbestimmbar angesehen. Sie sind bedingt und verändern demnach auch nicht aktiv und bewusst die Bedingungen. Philosophisch gesprochen handelt es sich um Objektivismus. Dessen Gegenteil, Subjektivismus, wäre allerdings genauso problematisch. Es liefe darauf hinaus, die Bedeutung der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben und zu denen wir uns verhalten, und die Frage nach Einflussmöglichkeiten, die jeder einzelne hat, zu vernachlässigen.

Ein besonderer Fall, der Fragen nach Handlungsgründen abschneidet, ist die Personalisierung: Hier werden die Ursachen eines Problems einer Person angelastet — u.U. auch der eigenen — indem man ihr bestimmte Eigenschaften (Faulheit, Schüchternheit, Aggressivität etc.) zuschreibt und gleichzeitig die Kontexte ausklammert, in denen Verhaltensweisen subjektiv begründet sind. Erklärungen im Bedingtheitsdiskurs und Personalisierungen haben vor allem eine entlastende Funktion, indem der Veränderungsbedarf an einzelne Individuen delegiert wird, ohne soziale und gesellschaftliche Verhältnisse anzutasten.

Machtverhältnisse im Blick

Besondere Aufmerksamkeit bei der Analyse verdienen die spezifischen Machtverhältnisse, mit denen die Betroffenen konfrontiert sind. Machtverhältnisse werden durch Institutionen wie Schule, Lohnarbeit, Behörden, Krankenhäuser, Familie o.ä. konstituiert. Praxisreflexionen können die von ihnen ausgehenden Zwänge nicht ermäßigen oder aus der Welt schaffen. Aber sie können zur Einsicht führen, dass man gesellschaftliche Anforderungen nicht unhinterfragt übernehmen muss, sondern vielmehr eine kritische Distanz und ein bewusstes Verhältnis zu ihnen gewinnen und sie zusammen mit anderen verändern kann.

Psychische Probleme, so die These, hängen mit solchen Machtverhältnissen zusammen: Auf kognitiver, emotionaler und motivationaler Ebene werden Möglichkeiten verdrängt, unbefriedigende Lebensbedingungen zu verändern und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Die Verdrängung hat insofern eine sinnvolle Funktion, als Wahrnehmung und Durchsetzung notwendiger Veränderungen für das Subjekt angesichts bestehender Machtverhältnisse potenziell riskant sind. Die jetzige Lebensqualität mag unbefriedigend sein, aber ein gescheiterter Veränderungsversuch kann die Lage noch weiter verschlechtern. Dieses kritisch-psychologische Konfliktmodell ist oft sehr hilfreich. Ob und inwieweit es in einem bestimmten Fall passt, ist allerdings eine empirische Frage.

Reflexion in Fallbesprechungen

Die Rekonstruktion der Probleme von Klient_innen muss im Rahmen der Praxisforschung zunächst in gewissem Maße spekulativ bleiben, da die Personen, über die diskutiert wird, nicht anwesend sind. Praxisforschung ist Intervision, also Fallbesprechung unter Kolleg_innen. Es werden zunächst nur Hypothesen gebildet. Vermutungen aus dem Plenum können von der Praktikerin oder dem Praktiker teilweise aus eigener Kenntnis bestätigt oder entkräftet werden. Fragen, zu denen die Klientin oder der Klient selbst Stellung nehmen muss, können in den Beratungs- oder Therapieprozess eingebracht und später ins Plenum zurückgemeldet werden.

Idealerweise findet am Ende eines Treffens eine Reformulierung von Problemen statt. Auf der Basis dieser neuen Sicht können Praktiker_innen möglichst klärende Gesichtspunkte in den Dialog mit Klient_innen einbringen. Eine im Plenum erarbeitete Reformulierung kann erfolgreich sein, indem ein (Teil-) Problem einer Lösung näher gebracht wird. Sie kann aber auch scheitern, wenn z.B. ein Klient sagt: So sehe ich mein Problem nicht, die Mutmaßungen, die über mich und meine Situation angestellt wurden, treffen nicht zu. Dann werden diese Einwände bei Bedarf ans Plenum zurückgemeldet, und der Klärungsprozess beginnt von Neuem.

Nicht selten werfen die Diskussionen auch Licht auf problematische Anforderungen, mit denen Praktiker_innen konfrontiert sind: So müssen in der Regel Berichte in einer Sprache formuliert werden und Diagnosen vergeben werden, die wenig Raum für den Begründungsdiskurs lassen. Es bestehen womöglich Stress und Arbeitsüberlastung, von den Praktiker_innen wird verlangt, nach außen ein Bild der Institution zu vermitteln, das nicht in jeder Hinsicht realitätsgetreu ist etc. Kritisch-psychologische Praxisreflexion dient nicht zuletzt auch dazu, sich gegenseitig darin zu unterstützen, taktisch mit derartigen Zwängen umzugehen und sie, wo nötig und möglich, zu unterlaufen oder gar zu beseitigen.

Ein Praxisbeispiel1)

Der Klient befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung. Er stammt aus dem Libanon und lebt seit 10 Jahren zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Deutschland. Die Familie seiner Frau stammt ebenfalls aus dem Libanon, sie selbst ist aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er lernte seine Frau bei einem ihrer Urlaubsaufenthalte im Libanon kennen und zog schließlich zu ihr nach Deutschland. Seit vier Jahren leidet er unter starken migräneartigen Kopfschmerzen und gelegentlich auftretenden Schwindelanfällen. Er hat bereits eine Odyssee von Untersuchungen, Arztbesuchen und Klinikaufenthalten mit immer wieder unbefriedigenden Behandlungserfolgen hinter sich und ist zur Zeit arbeitsunfähig. Gegenüber der Therapeutin verhält er sich immer sehr höflich und fast ehrfürchtig, blockt aber sehr bestimmt jedes Mal ab, wenn das therapeutische Gespräch vom »eigentlichen Thema Kopfschmerzen« abzuweichen droht. Die Therapeutin führt sein Verhalten in erster Linie auf kulturelle Unterschiede zwischen »ihrer westlichen« und »seiner arabischen Kultur« und dem dazugehörigen Verständnis vom Geschlechterverhältnis zurück und fühlt sich damit aber in einer Sackgasse.

In der gemeinsamen Diskussion arbeiten wir folgende Gesichtspunkte heraus: Kulturelle Normen sind nicht eindeutig vorgegeben, sondern werden individuell verschieden angeeignet. Dies zeigt sich u.a. daran, dass er selbst seine ebenfalls muslimische Frau als sehr selbstbewusst und in religiösen Fragen liberal beschreibt. Sie ist erwerbstätig und arbeitet in einer Kindertagesstätte. Das Dilemma »muslimischer Klient« vs. »westliche Therapeutin« wird durch diese Überlegung relativiert.

Die Kopfschmerzen treten überwiegend dann auf, wenn sich der Klient überfordert fühlt und beispielsweise Ämtergänge, Elternsprechabende, Besuche von Verwandten und Freunden anstehen oder seine Frau beruflich sehr eingespannt ist und gelegentlich für Kolleginnen zusätzliche Schichten übernehmen muss. Er selbst führt seine Kopfschmerzen auf eine plötzliche Unverträglichkeit von deutschen Lebensmitteln und/oder dem Klima zurück. Die genaue Ursache, auf welche Lebensmittelbestandteile er allergisch reagiere, sei allerdings noch nicht gefunden worden.

Aus Sicht des Klienten, so vermuteten wir auf Basis der diskutierten Sachverhalte, stellt sich seine Situation folgendermaßen dar: Die Kopfschmerzen sind für ihn einerseits schwer zu ertragen, andererseits werden sie in der Familie als Krankheit anerkannt und führen dazu, dass er emotionale Zuwendung von allen Familienmitgliedern, insbesondere seiner Frau, erfährt. Sie bringen eine Entlastung, ohne dass der Klient als weich und unmännlich angesehen wird. Er selbst hat den Anspruch an sich, die Familie nach außen — sei es gegenüber deutschen Institutionen oder arabischen Verwandten — angemessen zu repräsentieren. Da er sich selbst aber nicht klar darüber zu sein scheint, welche Rolle er an der Seite seiner als sehr selbstbewusst geschilderten Frau einnehmen sollte und möchte, schwankt er zwischen dem »muslimischen« und dem »westlichen« Männerbild. Auch in der therapeutischen Situation ist er mit diesem Dilemma konfrontiert und versucht durch übertriebene Höflichkeit von seiner Unsicherheit abzulenken. Unklar bleibt zunächst, ob es sich dabei ausschließlich um seine eigenen Ansprüche an das eigene Mannsein handelt, oder, ob auch von Verwandten oder seiner Frau durch Erwartungen und Ansprüche Druck auf ihn ausgeübt wird.

Die hypothetische Skizze kann im weiteren Verlauf bestätigt oder auch widerlegt werden bzw. sich als unzureichend erweisen, sollte sich z.B. zeigen, dass die Kopfschmerzen auch nach einer bewussten Klärung seiner »männlichen« familiären Aufgaben unverändert stark bleiben. Bei einer späteren Praxisanalyse können neue Fragen aufgeworfen werden, etwa danach, inwiefern der Klient an seiner Arbeitsstelle in einer Einzelhandelskette von der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse betroffen ist und seine Kopfschmerzen ihn vor der Wahrnehmung dieser Bedrohung abschirmen.

1) Fiktiver Fall, der Erfahrungen mit der Praxisreflexion in der AG Berufspraxis widerspiegelt. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Zum Weiterlesen

Morus Markard & Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis (2000): Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Wider Mainstream und Psychoboom. Hamburg: Argument

Jochen Kalpein (2007): Praxis — neue Phalanx subjektwissenschaftlicher Theorieentwicklung? Oder: »The greatest act can be — one little victory«. Forum Kritische Psychologie 51, 87-108

ders. (2010): ProblemKinder und KinderProbleme. In Klaus Weber (Hrsg.), Kinder (189-217). Hamburg: Argument

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Genetischer Postdeterminismus

In: GiD Gen-ethischer Informationsdienst, Oktober 2011, Nr. 208, S. 7-10. Verfügbar über: Vanessa Lux in GiD 2011

An der psychiatrischen Genetik ist der Paradigmenwechsel in der Genomforschung nicht spurlos vorbeigegangen, die Abkehr vom genetischen Determinismus hat ihr methodisches Gerüst erschüttert – und dennoch wird weitergemacht wie bisher.

Vanessa Lux

Seelische Leiden werden gern als „genetisch bedingt“ verstanden. Seit Jahren suchen ForscherInnen nach „den Genen“ für Schizophrenie, Depression oder Alkoholismus. Wie so oft in der medizinischen Forschung begleiten enorme Versprechungen diese Suche: Menschen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko könnten durch Gentests früh erkannt und dann präventiv behandelt werden, bei der Gabe von Psychopharmaka ließen sich Nebenwirkungen reduzieren, und ab und an wird sogar geäußert, psychisches Leiden könne überhaupt vermieden werden.1
Nun hat in der Folge des Humangenomprojektes ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Francis Cricks zentrales Dogma der Molekularbiologie – aus DNA wird RNA wird Protein – gilt als widerlegt.2 Die DNA wird nicht mehr als „Code des Lebens“ verstanden, sondern ist nur noch ein Baustein in einem komplizierten System, ihre Funktionsweise abhängig vom zellulären, organismischen und ökologischen Umfeld. Während diese Perspektive der Genomforschung einen neuen Boom in Form von Forschungsfeldern wie der Genomik, Proteonomik oder Epigenetik bescherte, bedroht sie zugleich die Suche nach den genetischen Grundlagen seelischer Leiden. Die Vorstellung von der DNA als nur einer Systemkomponente unter vielen rüttelt an den methodischen Grundfesten der psychiatrischen Genetik.

Historische Bindungen

Bereits in der Anfangszeit der Humangenetik gehörten „Begabung“, „Schizophrenie“ und andere psychische Konstrukte zu den bevorzugten Studienobjekten. Einer der ersten, der die Erblichkeit solcher Konstrukte systematisch untersuchte, war Francis Galton. Noch bevor die Idee von den Genen überhaupt auf der Bildfläche der Wissenschaftsgeschichte erschien, versuchte er die Erblichkeit von Begabung nachzuweisen. Seine in Hereditary Genius von 1869 veröffentliche Analyse der Biografien und Stammbäume von 400 berühmten Männern aus unterschiedlichen Epochen gilt als eine der ersten systematischen Familienstudien. Dabei hielt er sich nicht mit Vorschlägen zurück, wie die Ergebnisse seiner Forschung zu verwenden seien: Als Anleitung für die Menschenzucht.3
Ernst Rüdin, der 1916 die erste umfassende Familienstudie zu Schizophrenie publizierte und als einer der Begründer der psychiatrischen Genetik gilt, vertiefte und systematisierte diese eugenische Bindung. Bereits 1905 gründete er die weltweit erste eugenische Gesellschaft mit, die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene, und er redigierte viele Jahre deren Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1933 wurde er Kommissar des Reichsinnenministeriums und war maßgeblich an der Abfassung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beteiligt, das die Zwangssterilisationen von mehreren hunderttausend Menschen mit psychischen Störungen und geistigen oder körperlichen Behinderungen in den folgenden Jahren juristisch begründete und absicherte.4 Auch Hermann Siemens, Begründer der bis heute in der psychiatrischen Genetik verwendeten Zwillingsmethode, steht in dieser Tradition. Im Nazismus sah er die Umsetzung der Utopien der eugenischen Bewegung in staatliche Politik.5

Psychiatrische Genetik im Zeitalter des „Gens“

Auf den ersten Blick scheint die Suche nach Genen für psychische Leiden, wie sie in den letzten Jahren betrieben wurde, nur wenig mit dieser Vorgeschichte gemein zu haben. Die Humangenetik stellt schließlich nicht mehr die Volksgesundheit, sondern die genetischen Merkmalsträger ins Zentrum ihrer Beratung.6 Auch wird die Kritik weitgehend geteilt, dass bei Familien- und Zwillingsstudien der Einfluss der Gene nicht vollständig vom Einfluss der Umwelt zu unterscheiden ist.7 DNA-Analysen ersetzen Stammbaumanalysen, die Suche nach einzelnen Genen über Kopplungs- und Assoziationsstudien ist die vorherrschende Methode der psychiatrischen Genetik.8
Auf den zweiten Blick offenbaren sich allerdings Kontinuitäten: Die Vorstellung, seelische Zustände hätten biologische Ursachen, bleibt Motiv und Antrieb psychiatrischer Forschung. So ist die Suche nach Genen für seelische Leiden kontinuierlich ausgeweitet worden. Immer billigere Gensequenzierungstechniken machten es möglich, die DNA von Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose nach immer mehr Sequenzen abzusuchen. Im Rahmen des Deutschen Humangenomprojekts und seines Nachfolgeprojektes, des Nationalen Genomforschungsprojekts, korrelierten Arbeitsgruppen bestimmte DNA-Sequenzen mit Depression, Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, bipolaren Störungen oder Legasthenie. Internationale Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Genetik von Angststörungen wie etwa der posttraumatischen Belastungsstörung, mit verschiedenen Substanzabhängigkeiten, mit Autismus oder mit dem so genannten dissozialen Verhalten.9
Auch bleibt eine Voraussetzung der in der psychiatrischen Genetik verwendeten Methoden unhinterfragt: der genetische Determinismus. Seien es nun Kopplungs- und Assoziationsstudien mit einzelnen DNA-Sequenzabschnitten, sei es die Analyse ganzer Chromosomen – die Methoden setzen eine eindeutige Lokalisierbarkeit funktionell relevanter Gene oder Gen-Abschnitte auf der DNA und damit einen unidirektionalen Gen-Effekt voraus. Der Gen-Effekt muss zudem so stark sein, dass er mit den statistisch-korrelativen Verfahren erfassbar ist.
Ein solcher Gen-Effekt ist bisher für keine psychische Störung gefunden worden. Zwar wird ab und zu von einem statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen einem genetischen Marker in der Nähe eines potenziellen Gen-Ortes und einer psychiatrischen Diagnose berichtet. Das liest sich in der Tagespresse so, als ob ein „Gen für“ Depression, Schizophrenie oder Alkoholismus gefunden worden sei. Eine wirklich ursächlich, das heißt funktionell in die Herausbildung einer psychischen Störung eingebundene DNA-Sequenz konnte jedoch noch für keines der beforschten Konstrukte bestimmt werden.

Post-genomische Potenzialität

Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Möglichkeit immer mehr in Frage gestellt wird, einen eindeutigen, ursächlichen Zusammenhang zwischen DNA-Sequenzen und psychischen Leiden zu bestimmen, und erste methodische Ansätze versuchen, epigenetische Prozesse oder Gen-Umwelt-Wechselwirkungen zu berücksichtigen.10 Paradoxerweise wird trotz der Infragestellung des einfachen Gen-Determinismus innerhalb des eigenen Faches aber weiterhin nach Genen für psychische Leiden gesucht. Drei ganz unterschiedliche Reaktionen auf den ausbleibenden Erfolg der Gen-Suche sind dafür relevant:
Mantra der Vererbung Um die wie eine alte Weisheit vorgetragene Behauptung zu stützen, psychische Leiden würden vererbt, werden gern allgemeine epidemiologische Daten über deren Verbreitung in der Bevölkerung angeführt. Häufig halten auch Ergebnisse aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien für eine Begründung der Vererbungsthese her – wenn auch nur als ‚erster Hinweis’, denn dass mit diesen Methoden die genetische Dimension nicht unabhängig von der Umwelt erfasst werden kann, lässt sich schwerlich ignorieren. Als weiteres Argument dienen deshalb Korrelationen zwischen DNA-Sequenzabschnitten und psychiatrischen Diagnosen aus Kopplungs- und Assoziationsstudien.11 Nun liegt aber zu solchen statistisch signifikanten Zusammenhängen in der Regel mindestens eine diesen Zusammenhang nicht bestätigende Studie vor. Es könnte sich bei den Ergebnissen der Kopplungs- und Assoziationsstudien also durchweg um falsch positive Ergebnisse handeln. Deshalb wird die Beweisführung, dass es Gene für die jeweilige psychische Störung geben muss, zusätzlich auf Modelle zur biologischen Funktion einzelner DNA-Abschnitte gestützt. Genorte, für die ein solcher potenziell funktioneller Zusammenhang mit einer psychischen Störung beschrieben werden kann, gelten als viel versprechende Kandidatengene. Die Modelle basieren in der Regel auf den traditionellen biomedizinischen Krankheitsmodellen.12
Genetisisierung der Ätiologie Diese Reaktion auf den ausbleibenden Erfolg bei der Suche nach Genen für seelische Leiden erklärt kurzerhand die in den Studien verwendeten Diagnosekategorien für ungeeignet: Widersprüchliche Studienergebnisse entstünden vor allem deshalb, weil Klassifizierungssysteme wie das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders oder die International Classification of Diseases nicht auf Genotypen basieren. Aufgrund der an Symptomen orientierten Klassifikationen käme es entweder zur Vermischung oder zur Überschneidung genetischer Subtypen.
Biomedikalisierung des Krankheitsmodells Die Idee einer besonderen Verletzlichkeit Einzelner, die die Entstehung seelischer Leiden begünstigt, ist nahezu 50 Jahre alt. Wurde allerdings in den 1960er Jahren noch davon ausgegangen, dass Vulnerabilität auch aufgrund von Erfahrungen entstehen kann, wird das Konzept mittlerweile zumeist auf eine genetische Anfälligkeit reduziert: In den heute diskutierten Vulnerabilitäts-Stress-Modellen entstehen psychische Störungen, weil eine genetische Disposition durch bestimmte Einflüsse manifest wird. Eine DNA-Sequenz löst demnach erst in Interaktion mit Umweltfaktoren psychische Leiden aus. Genetische Vulnerabilität fungiert hier als eine Art „Platzhalter“ – bis zur endgültigen Aufklärung der Bedeutung der DNA bei der Entstehung eines psychischen Leidens. Dabei codiert der Begriff der „Gene“ beziehungsweise „genetischen Risikofaktoren“ nicht mehr ein feststehendes Programm, sondern ein mit nicht-genetischen Faktoren interagierendes Potenzial. Diese Bedeutungsverschiebung ermöglicht es der psychiatrischen Genetik, in die Kritik am einfachen Gen-Determinismus einzustimmen, ohne die Suche nach genetischen Ursachen seelischer Leiden aufgeben zu müssen.

Begleitet wird diese partielle Relativierung des Determinismus von einer Aufforderung zum Handeln – nicht nur in der psychiatrischen Genetik: Unter dem Leitbild einer „individualisierten Medizin“ sind wir alle aufgerufen, unsere genetischen Ressourcen verantwortungsbewusst zu managen. Es geht darum, präventiv ein unsere Gene angemessen berücksichtigendes Leben zu führen. Wer sich dieser Art des Selbstmanagements verweigert, ist selbst schuld. Wer allerdings trotz psychiatrischer Diagnose nicht zur Therapie geht oder seine Medikamente nicht nimmt, dem wird wie bisher mit Ausschluss gedroht. Trotz aller Individualisierung bleibt daher auch die postgenomische Psychiatrie Disziplinierungsinstanz par excellence.

Vanessa Lux ist Diplom-Psychologin und hat zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis promoviert.

1. Vgl. etwa Holsboer, F. (2009). Biologie für die Seele: Mein Weg zur personalisierten Medizin. München: C. H. Beck.
2. Vgl. Keller, E. Fox (2005): The century beyond the gene. Journal of Bioscience 30 (1), 3-10.
3. Vgl. Galton, F. (1910): Genie und Vererbung. Leipzig: Dr. Werner Klinkhart.
4. Vgl. Klee, E. (2003): Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 513.
5. So im Vorwort zur 1937 erschienenen achten Auflage seiner Grundzüge der Vererbungslehre, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik.
6. Vgl. Waldschmidt, A. (1996): Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945-1990. Münster: Westfälisches Dampfboot.
7. Vgl. Joseph, J. (2004): The gene illusion. Genetic research in psychiatry and psychology under the microscope. New York: Algora Pub.
8. Vgl. Faraone, S. V., Tsuang, M. T. & Tsuang, D. W. (1999): Genetics of mental disorders. A guide for students, clinicians, and researchers. New York, London: Guilford Press, oder Kendler, K. S. and Prescott, C. A. (2006): Genes, environment, and psychopathology. Understanding the causes of psychiatric and substance use disorders. New York: Guilford Press.
9. Für einen Überblick über die internationale psychiatrisch-genetische Forschung vgl. www.apa.org/science/genetics (Zugriff: 4.7.2010).
10. Vgl. zum Beispiel Kendler, K. S. (2006): Reflections on the relationship between psychiatric genetics and psychiatric nosology, American Journal of Psychiatry 163 (7), 1138-2198; Caspi, A. and Moffitt, T. E. (2006): Gene-environment interactions in psychiatry. Joining forces in with neuroscience, Nature Reviews Neuroscience 7 (7), 583-590. Gottesman, I. I. and Gould, T. D. (2003): The endophenotype concept in psychiatry. Etymology and strategic intentions, American Journal of Psychiatry 160 (4), 636-645.
11. Vgl. für diese Art der Aneinanderreihung von Ergebnissen aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien mit Kopplungs- und Assoziationsstudien Smoller, J. W., Sheidley, B. R. and Tsuang, M. T. (Hrsg.) (2008): Psychiatric genetics. Applications in clinical practice. Washington: American Psychiatric Pub.
12. Vgl. für diese Art der Aneinanderreihung von Ergebnissen aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien mit Kopplungs- und Assoziationsstudien Smoller, J. W., Sheidley, B. R. and Tsuang, M. T. (Hrsg.) (2008): Psychiatric genetics. Applications in clinical practice. Washington: American Psychiatric Pub.

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Emanzipatorische Bewegungen: Ent-Unterwerfung denken und praktizieren

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011.

Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Annette Schlemm

Warum wehren sich ausgerechnet ausgegrenzte und verarmende Menschen so wenig gegen soziale Zumutungen? Warum fühlt sich das Engagement in linken Gruppierungen und Institutionen oder auch emanzipatorischen Bewegungen oft genau so schlecht an wie der Rest des Lebens in dieser Konkurrenzgesellschaft? Was können wir tun?

Wer jetzt die Weiterführung dieses Textes in Manier der psychologischen Ratgeberbücher erwartet, ist auf der falschen Fährte. Lange genug haben Linke versucht, auf die »stumme Masse« einzuwirken immer wieder neue Strategien der Einflussnahme zu entwickeln. Alle Überlegungen, die darauf hinauslaufen, wie wir »die Leute« besser verstehen können, oder alle Anstrengungen, die Anderen zum richtigen Verhalten zu bringen, hängen in einer Falle fest: Wir dünken uns in der »besseren Position« — und diese Position versetzt »die Anderen« in eine passive Rolle, in der sie nicht mehr als Subjekte ihres Lebens ernst genommen werden.

Eine Theorie für Menschen, nicht über Menschen

Eine wichtige Schlussfolgerung aus der Kritischen Psychologie ist die Orientierung darauf, andere Menschen nicht als Objekt unserer Einflussnahme zu behandeln, wenn wir Emanzipation als Ziel und Weg umsetzen wollen. Der Subjektstandpunkt, der sich grundlegend von einem »Außenstandpunkt« unterscheidet (vgl. S.7), macht den Unterschied aus zwischen einem emanzipatorischen Vorgehen und einem Vorgehen, das die Entmündigung der Menschen in der herrschenden Gesellschaft reproduziert.

Der Subjektstandpunkt ist deshalb nicht nur von Bedeutung für das wissenschaftliche Fachgebiet Psychologie, sondern er hat weitreichende gesellschaftstheoretische und praktische Folgen. Da individuelles Leben gesellschaftlich vermittelt ist, kann es keine von der Theorie der Gesellschaft getrennte Theorie des Individuums geben. Eine Theorie vom gesellschaftlichen Menschen hat die Aufgabe, die vielfach empfundene Kluft zwischen Praxen, in welchen Individuen ihr unmittelbares Leben und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen meistern, und der »großen Politik«, deren Reichweite die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse umfasst, zu durchdringen und sichtbar zu machen, dass die isolierte Privatexistenz ein hergestellter Schein der bürgerlichen Verhältnisse ist.

Aus der gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz folgt, dass es unangemessen ist, Menschen lediglich als Träger von Eigenschaften zu sehen. Biologisierungen, Psychologisierungen oder auch Personifizierungen kappen den Zusammenhang zwischen Menschen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen. Es geht nicht darum, Menschen zu problematisieren, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie sich in der konkreten Lebenslage zeigen. Die Umdeutung von problematischen Situationen zu problematischen Eigenschaften von Menschen (etwa »Egoismus«), lenkt die Lösungsenergie auf das falsche Betätigungsfeld. Im Gegenzug wäre es aber auch falsch, Menschen lediglich als Marionetten ihrer gesellschaftlichen »Prägungen« und Befolger gesellschaftlicher Gesetze und Zwänge zu betrachten. Dann werden sie von vornherein wesentlicher menschlicher Charakteristika beschnitten.

Menschliche Subjektivität hängt eng damit zusammen, dass menschliche Individuen »natürlich gesellschaftlich« sind, dass also ihre »Natur« darin besteht, gesellschaftlich vermittelt zu leben. Durch die Gesellschaftlichkeit entsteht ein spezifischer Möglichkeitsraum: Was für das Ganze notwendig ist, hat für den Einzelnen nur Möglichkeitscharakter. Dabei geht es nicht nur um »Möglichkeiten 1. Ordnung«, also die Möglichkeiten, die sich innerhalb vorgegebener Bedingungen, gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse bieten — sondern es geht auch um die »Möglichkeit 2. Ordnung«: das Verändern der Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Menschen sind Subjekte, insofern »sie sich selbst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß ihren Lebensinteressen erfahren können« (Holzkamp 1983b: 139). Unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen »die Masse der Individuen von der kollektiven Verfügung über ihre Lebensbedingungen ausgeschlossen und auf ihr privates, individuelles Dasein zurückgeworfen ist« (Holzkamp 1980: 212, kursiv A.S.), haben die Individuen zwei mögliche Handlungsausrichtungen: Die eine weist in Richtung einer »gemeinsame[n] Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten« (Holzkamp 1983a: 2) — also in Richtung der Möglichkeit 2. Ordnung, die andere in Richtung eines individuell begründeten Verzichts auf diese Erweiterung, des Sich-Einrichtens in den Möglichkeiten 1. Ordnung. Diese beiden Richtungen — verallgemeinerte und restriktive Handlungsfähigkeit (vgl. S.7) — sind kein äußerer Bewertungsmaßstab, sondern können jedem Individuum dabei helfen, die eigenen Gründe besser zu verstehen und bewusster zu entscheiden.

Menschliches Verhalten ist begründet, nicht nur bedingt

Menschliches Verhalten ist keine marionettenhafte Reaktion auf beherrschende gesellschaftliche Strukturen, sondern Menschen handeln begründet in bzw. gegen diese Strukturen. Dabei sind diese Handlungsgründe die »Scharniere« zwischen den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen wie je ich sie in meiner Lebenslage erfahre und dem individuellen Handeln. Menschliches Verhalten ist nicht in Form von »Bedingungs-Ereignis-Zusammenhängen« zu diskutieren, sondern als »Prämissen-Begründungs-Zusammenhänge« (vgl. Holzkamp 1983a: 352). Prämissen sind dabei jene durch die gesellschaftlichen Bedingungen gegebenen Handlungsmöglichkeiten, die angesichts je meiner gerade vorliegenden Problematik und der vorhandenen konkreten Interessen wichtig werden.

Das Ernstnehmen der jeweils individuellen Prämissen und subjektiven Gründe macht emanzipatorisches Denken und Handeln komplexer als oft angenommen. Es kann nicht darum gehen, »unter welchen Bedingungen« die Menschen vielleicht besser für ihre Rechte kämpfen würden, es kann erst recht nicht darum gehen, ihnen wohlwollend und bevormundend diese Bedingungen stellvertretend zu schaffen. Bedingungen für die Selbstbestimmung können nicht fremdgesetzt werden. Dasselbe gilt auch für vorgegebene Ziele, z.B. in der Bildungsarbeit: »Solange sie Teil einer fremdgesetzten Anordnung […] sind, können sie Probleme der Selbstbestimmung für die Teilnehmenden darstellen« (Kaindl 2009: 144). Jedes Vorgehen, dass von vornherein primär die »Einflussnahme auf Andere« anstrebt, entmächtigt und entsubjektiviert diese Anderen.

Intersubjektivität der wechselseitigen Selbstentfaltung

Es soll hier nicht um moralische Anforderungen gehen, die zu erfüllen sind, sondern darum, welche Vorgehensweisen dem Ziel der Emanzipation dienlich sind oder ihm widersprechen. Fremdbestimmung verhindert Selbstbestimmung. Das gegenseitige Aufeinanderhetzen verhindert kooperative Beziehungen, und wenn man andere Menschen instrumentalisiert, braucht man sich nicht zu wundern, wenn alles nur mit Druck oder gar nicht läuft. Im Einführungsbeitrag (S.7) wurde bereits der Unterschied zwischen Instrumentalbeziehungen und Subjektbeziehungen erläutert. Subjektbeziehungen basieren weniger auf gutem Willen oder angeeigneten Kommunikationstechniken, sondern sie müssen bereits die Vorformen derjenigen gesellschaftlichen Praxis bestimmen, die als Ziel auch die künftigen Gesellschaftsformen konstituieren soll: Die eigenen Freiheitsräume wachsen nicht mehr auf Kosten der Freiheitsräume anderer, sondern die jeweils individuelle Selbstentfaltung bezieht ihre Kraft aus der Selbstentfaltung der Anderen und stärkt wiederum diese. In einer Zukunftswerkstatt mit dem Thema »Ums Menschsein geht es« erarbeiteten die Teilnehmenden als abschließende konkrete Utopie den Satz: »Ich bin selbst ein Puzzle/Teil des Ganzen, ich kann und möchte meinen Platz finden; ich kann ein gutes Teil weitergeben und mich selbst komplettieren«.

Die Kunst der Ent-Unterwerfung

Es gibt eine alte anarchistische Regel: Die Mittel dürfen dem Ziel nicht widersprechen! In unserem Fall muss erst noch begründet werden, warum es erforderlich ist, in den eigenen Bewegungen und Strukturen intersubjektive Beziehungen zu pflegen und Instrumentalisierungen kenntlich zu machen und so weit wie möglich zu verhindern. Wäre es nicht doch sinnvoll, für die »große Politik« primär in Kategorien des Gegeneinander, des konsequenten Kampfes gegen Unrecht und Ausbeutung usw., die Stärkung durch Geschlossenheit der eigenen Reihen anzustreben, um machtvoll und erfolgreich zu werden?

Welche Macht und welchen Erfolg kann man dann aber erwarten? Die historische Erfahrung zeigt: Manche Mittel machen das angestrebte Ziel zunichte, und Menschen zu instrumentalisieren und sich instrumentalisieren zu lassen, bringt keine Emanzipation in die Welt. Ich kann unter Umständen gute Gründe haben, mir selbst das Hintergehen meiner Absichten nicht einzugestehen. Wenn ich monatelang bei den wöchentlichen Montagsdemos von denen, für die ich mich einsetze, vom Eiscafé nebenan nur genervt angeglotzt werde; wenn die Leute nur müde aus dem Fenster linsen, während wir uns bei der Antifademo den Hintern abfrieren… — dann kommen die Fragen hoch: »Was ist nur mit diesen Leuten los? Wie bekommen wir sie auch dazu, dass…?«

Wir bekommen sie mit Sicherheit nicht dazu, wenn wir sie zu etwas bekommen wollen. Fremdbestimmung konterkariert das gute Ziel. Wenn wir uns nicht auf unsere und ihre Gründe einlassen, werden wir trotz aller Bemühungen nicht viel erreichen. Wenn wir also auf diesem Weg nicht weiter kommen, und vielleicht sogar verstehen, dass wir uns durch das Ausschalten ihrer Subjektivität selbst die Beine gestellt haben, können wir auch beginnen, es anders zu versuchen: Es geht darum, die jeweils individuellen Gründe für politisches Handeln ernst zu nehmen. Das heißt noch lange nicht, alle Begründungen zu akzeptieren und hinzunehmen, aber es bietet die Chance, mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten und die Gesellschaft zu verändern, statt letztlich gegen sie.

Wie können wir, ausgehend von der Anerkennung des Begründetseins von menschlichem Handeln, unser Vorgehen erfolgreicher gestalten? Wichtig ist es, jeweils von konkreten Lebensproblemen auszugehen. Die Art und Weise, wie Menschen versuchen, ihr Leben zu realisieren, wird unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen letztlich widersprüchlich sein. Wenn ich ständig um meinen Arbeitsplatz bangen und mich dafür abstrampeln muss, fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass andere auch ohne diese Anstrengung gut leben dürfen. Aber auch mir selbst spreche ich damit diese viel angenehmere Möglichkeit ab. Wenn ich Erfolg in der politischen Arbeit will und mich dabei über die Interessen anderer hinwegsetze, dann schade ich meinem eigentlichen Ziel.

Dann kann es schmerzhaft sein, diese Selbstbehinderungen auch noch zu erkennen — Verdrängung liegt nahe. Wenn ich Glück habe, befinde ich mich unter Menschen, mit denen wir gemeinsam über solche Erfahrungen sprechen können und unter denen es üblich ist, diese Probleme nicht in Form von »Schuldzuweisungen« zu diskutieren, sondern bei denen darüber nachgedacht wird, in welcher Lebenslage ich mich befinde und was für mich Prämissen sind, von denen ausgehend ich meine Entscheidungen getroffen habe. Vielleicht finden wir dann gemeinsam andere Möglichkeiten, das entsprechende Problem zu bewältigen.

»Es wird ein Lachen sein, das Euch besiegt…«

Die große Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen hat ihren Grund nicht primär im Bedürfnis nach einer »Wärmestube«, sondern sie will einen wichtigen Kraftquell für politische Kämpfe speisen. Subjektbeziehungen sind selbst »Kampfbeziehungen gegen Unterdrückung, damit für ihre volle Verallgemeinerbarkeit« (Holzkamp 1979: 14). Ohne Subjektbeziehungen wird das Ziel der Emanzipation in Frage gestellt. Neben der Strategie, Dämme zu bauen gegen die Angriffe und die Zumutungen gegen unsere Lebensinteressen, besteht der dynamischere Teil des Kampfs für neue gesellschaftliche Verhältnisse (oder auch das Erträglichhalten der alten, solange notwendig) darin, bereits im Vorhandenen neue Lebensprinzipien in die Welt zu setzen. Wir bauen damit Schiffe, die uns in eine neue Welt befördern, als Elemente der neuen Welt innerhalb der alten, wie es Marx forderte (Marx MEW 4/Man: 480). Weder beim Dämme- noch beim Schiffebauen kommen wir weit, wenn wir untereinander oder mit anderen Menschen so umgehen, wie es in der alten Welt gang und gäbe ist, nämlich instrumentalisierend und Schuldvorwürfe zuweisend.

Auch im Kampf ist das mitreißende Argument das Erleben einer anderen, befreienden Umgangsweise miteinander. Nicht umsonst bestehen die jahrzehntelangen Kämpfe gegen die Castor-Transporte im Wendland weder aus einer ewigen Trauerfeier noch einem Wutgeheul, sondern Witz und Bauernschläue vereinigen sich mit Emma Goldmanns Prinzip: »Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution«.

Literatur

Holzkamp, Klaus (1979): Zur kritisch-psychologischen Theorie der Subjektivität II: Das Verhältnis individueller Subjekte zu gesellschaftlichen Subjekten und die frühkindliche Genese der Subjektivität. In: Forum Kritische Psychologie 5 (1979): Argument Sonderband 41, Argument-Verlag. S. 7-46. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1979b.html.

Holzkamp, Klaus (1980): Individuum und Organisation. Vortrag, gehalten auf der »Volksuniversität«, West-Berlin, Pfingsten 1980. Veröffentlicht als »Werkstattpapier« in: Forum Kritische Psychologie 7 (1980): Probleme kritisch-psychologisch fundierter therapeutischer Arbeit, Argument Sonderband 59, Argument-Verlag, S. 208-225. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1980a.html.

Holzkamp, Klaus (1983a): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main, New York 1985

Holzkamp, Klaus (1983b): Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen? Oder: Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 136-155.

Kaindl, Christina (2009): Über die Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für Andere zu setzen. Anregung eines kritisch-psychologischen Lernbegriffs für linke Bildungsprozesse. In: Janne Mende, Stefan Müller (Hrsg.): Emanzipation in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2009, S. 135-154.

Osterkamp, Ute (2001): Lebensführung als Problematik von Subjektwissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 43, S. 4-35

Osterkamp, Ute (2003): Kritische Psychologie als Wissenschaft der Ent-Unterwerfung. Journal für Psychologie 11,2 (2003), 176-193.


Kasten: Begriff der Emanzipation

Ohne die Vielfalt der in CONTRASTE vertretenen Bewegungen und Gruppierungen zu schmälern, kann man ihr Anliegen wohl ganz allgemein als eines der Emanzipation von ausbeuterischen, unterdrückerischen und entmündigenden Verhältnissen und Beziehungen verstehen. Der Inhalt der Kategorie »Emanzipation« unterlag, wenn man Wikipedia folgt, einer Bedeutungsverschiebung. Ging es früher um eine Gewährung von Selbstständigkeit, so geht es heute um Selbstbefreiung. Dieser Wandel ist in der politischen Praxis oft noch nicht angekommen; wohlwollende Bevormundung oder auch abwertende Personalisierungen bestärken die häufig vorkommende Praxis von Entmündigung und Entsubjektivierung. Ein Konzept, das als Subjektwissenschaft entstanden ist, kann Aktiven im weiten Feld der Emanzipation hilfreiche Gedankenformen für die notwendige Umorientierung von der »Gewährung der Freiheit« zur »Selbstbefreiung« bieten.

 

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Probleme selbstbestimmten Lernens in der neoliberalen Dienstleistungshochschule am Beispiel eines autonomen Seminars zur Kritischen Psychologie. Ergebnisse eines Forschungspraktikums

Artikel von Marcel Thiel in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Marcel Thiel

Zusammenfassung

Welche Probleme bei der Aneignung Kritischer Psychologie im Rahmen eines autonomen Seminars an der neoliberalen Dienstleistungshochschule auftreten können, analysiert der Autor, Mitinitiator eines solchen an der Universität Trier, im Zuge eines subjektwissenschaftlichen Forschungspraktikums. Seine Ergebnisse stellt er im vorliegenden Artikel auszugsweise dar und zeigt u.a., wie unreflektierte Ansprüche an ein solches Seminar zu lernhinderlichen Erfahrungen führen können und wie intersubjektive Verständigung selbst im Rahmen potenziell selbstbestimmten Lernens gefährdet sein kann.

Summary: Problems of self-determined learning in the neoliberal university using the example of a self-organized seminar on the subject of Critical Psychology. Results of a research internship

The author is the co-iniatior of a self-organized seminar at the University of Trier. He deals with problems of the acquirement of Critical Psychology occurring in such a seminar in the neoliberal university. In this article he presents some of his results. Among other things he shows how unconsidered expectations on such a course can interfere with the learning process, and how intersubjective communication can be in danger even within the scope of potentially self- determined learning.

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Probleme einer wissenschaftlichen Begleitung

Artikel von Kurt Bader in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Kurt Bader

Zusammenfassung

Die wissenschaftliche Begleitung des Umgestaltungsprozesses einer Einrichtung für die Betreuung geistig behinderter Menschen führte zu vielfältigen Problemen. Hierbei steht insbesondere die Frage im Vordergrund, inwieweit die an der Begleitung (Forschung) beteiligten Menschen Mitforscher waren. Aus den vielen Fragen, die dieses Forschungsvorhaben aufwarf, wird die Beziehung zwischen der Forschungsgruppe und den Mitarbeitern der Institution herausgegriffen und am Beispiel einer teilnehmenden Beobachtung konkretisiert.

Summary: Problems of a scientific monitoring process

Several problems were brought up in the process of monitoring the rearrangement of an institution for the mentally handicapped scientifically. Primarily, this article discusses the problem to what extend those, who were involved in the monitoring (research), became co-researchers. From the many questions brought up in the research process the article focuses on the relationship between the research group and the co-workers of the institution. This subject is illustrated by an example of participant observation.

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Integration: Versprechen, Kampffeld und Chimäre

Artikel von Athanasios Marvakis in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Athanasios Marvakis

Zusammenfassung

Migration und Integration werden weitgehend als Prozesse gesehen, die sich mehr oder weniger über die Köpfe der Betroffenen hinweg vollziehen, ihre Spuren in ihnen hinterlassen, aber nicht von ihnen gestaltet werden. Dieser scheinbar selbstverständliche, real aber legitimatorische Diskurs im Alltag wie in der Wissenschaft impliziert die Negierung der Subjektivität der Migranten, die prinzipielle Unterordnung ihrer Interessen und Bedürfnisse unter die der Einheimischen. Der Artikel versucht, diese Funktion herrschender Diskurse über Migration und Integration auf den Begriff zu bringen, um sich auf den verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens mit ihr auseinandersetzen und Handlungsalternativen entwickeln zu können, in denen die Subjektivität aller aufgehoben ist.

Athanasios Marvakis: Integration: promise, struggle and illusions

It is still common to view migration as a process which simply takes place behind someone’s back and which merely affects its passive “objects”, i.e., the migrants. This seemingly harmless and self-evident, but, in fact, legitimatising scientific and every-day discourse necessarily implies denial of the subjectivity of the migrants, and also implies the subordination of their interests and requirements to the needs and ideas of the “locals”. The paper attempts to determine the function of the dominant discourses about migration and integration, in order to make it possible to recognize and deal with it on different levels of societal life, and so finally to think about and formulate alternative notions and procedures, where everyone’s subjectivity is embraced.

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Das sexuell kompetente Kind und Sexualität als Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen

Artikel von Susanne Achterberg in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Susanne Achterberg

Zusammenfassung

Die neue Kindheitssoziologie will Kinder als gesellschaftlich integrierte, sozial kompetente Akteure in ihrer sozialen Wirklichkeit sichtbar machen und sie dabei explizit mit ihren Erfahrungen selbst zu Wort kommen lassen. Die Phase der Kindheit wird als soziale Konstruktion, d.h. als sprach-, zeit- und kulturabhängig aufgefasst. Der Ausschluss von Kindern aus gesellschaftlichen Rechten und aus dem Zugriff auf Ressourcen wird in Frage gestellt. In dieser Tradition diskutiert der Beitrag die Möglichkeit, Kinder – v.a. bezüglich Sexualität – als kompetente Akteure zu begreifen. Zunächst werden Probleme und Grenzen des derzeit vorherrschenden wissenschaftlichen Konsenses über die Besonderheit der kindlichen Sexualität skizziert. Es wird gezeigt, dass dieser auch in sich extrem widersprechenden Ansichten über kindliche Sexualität zu finden ist, z.B. in der Debatte um Kinderschutz vs. Emanzipation vom Tabu sexuellen Verkehrs zwischen Kindern und Erwachsenen. Abschließend werden die Begriffe Subjekt und Kompetenz im Rahmen der neuen Kindheitssoziologie neu bestimmt. Das Konzept des Kindes als sozial kompetenter Akteur wird deutlich vom Sozialisationsparadigma abgegrenzt und in seiner Fundierung in postmodernen Subjektkonzepten und einem entsprechenden Kompetenzbegriff gezeigt. Aus der Perspektive des Konzeptes „sozial kompetentes Kind“ ist Aufklärung als die zurzeit einzige zugelassene Form der sexuellen Artikulation von Erwachsenen in Bezug auf Kinder keine adäquate Reaktion auf deren sexuelle Besonderheiten. Im Gegenteil: Diese sexuelle Aufklärung, auch in ihrer liberalsten Form, kann nur als Zwang und Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung der Kinder verstanden werden.

Summary: The sexually competent child and sexuality as a boundary between children and adults

The new sociology of childhood strives to show children as socially integrated and competent actors. Moreover, its explicit goal is to let children be heard expressing their own experiences. The phase of childhood is seen as a social construction, i.e. as dependent on language, time and culture. The sociology of childhood challenges the practice of denying children social rights and excluding them from the allocation of resources. Drawing upon this approach the article discusses the possibility of seeing children as competent actors primarily with regard to sexuality. First, problems and constraints of the dominant scientific consensus on children’s sexuality are outlined. It is shown that this consensus can be found in contradicting opinions on children ́s sexuality, e.g. in the debate on child protection vs. emancipation from the taboo on sexual relations between children and adults. Finally, the notion of subject and competence is redefined against the background of the sociology of childhood. The concept of the child as a socially competent actor is separated from the socialization paradigm. Further, its foundation in postmodernist notions of subject and a corresponding notion of competence. From the view connected with the notion of the “socially competent child” sexual education is at present the only allowed form of adult ́s sexual articulation with regard to children. Thus, it is not an adequate reaction to children ́s characteristics. Rather, sexual education, even in its most liberal form, can only be understood as coercion and an interference with children’s sexual self-determination.

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Die Medikalisierung von Meinungen: verzerrtes Denken und der klinische gesunde Menschenverstand

Artikel von Diederik F. Janssen in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Diederik F. Janssen

Zusammenfassung

Der vorliegende Artikel enthält eine historische Bewertung und poststrukturalistische Kritik der Vorstellung von der kognitiven Verzerrungen, wie sie in forensisch-psychiatrischen Ansätzen auf Menschen angewendet wird, die Sexualstraftaten gegen Kinder begehen. Dargestellt werden ausgewählte Beobachtungen aus der diskursanalytischen Untersuchung von über 40 Artikeln (1984-2006) und 9 diagnostischen Instrumenten, die spezifisch die Kennzeichnung von Ideenbildung, die sich auf Kindesmissbrauch bezieht, als „gestört“ betreffen. Die Trope der Verzerrung, die verwendet wird, um therapieschädigende Rationalisierungen unangepassten Verhaltens zu bezeichnen, ist wissenschaftlich unfruchtbar und kann besser als Folge der Medikalisierung abweichender Meinungen verstanden werden. Die größte Gefahr eines routinisierten Verständnisses von Kognitionen als „verzerrt“ ist kulturelle Erstarrung: eine ungünstige Rigidität in der Interpretation, in der Verortung und im Umgang mit moralischen Dilemmata.

Summary: The Medicalization of Opinion: On Clouded Cognitions and Clinical Commonsense

This article provides an historical appraisal and poststructural critique of the notion of cognitive distortions as used in forensic psychiatric approaches to sexual offenders against children. Selected observations are offered that derive from an discourse analytic examination of over 40 articles (1984-2006) and 9 diagnostic scales that specifically inform the qualification of child sexual abuse related ideation as ‘distorted’. Trope of distortion, used to indicate countertherapeutic rationalizations of transgressive behavior, is not productive in a scientific sense and can better be identified as a corollary of the medicalization of abject opinion. The ultimate danger of any routinized conception of cognitions as ‘distorted,’ is cultural inertia: an unfortunate rigidity in interpreting, localizing and dealing with moral dilemmas.

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