Reflexionen zu Bindungstheorie und Bindungsforschung

Artikel von Gisela Ulmann in Forum Kritische Psychologie 58 (2014)

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Zusammenfassung

Immer wieder wurde die Redaktion aufgefordert, sich zur Bindungstheorie und Bindungsforschung zu äußern. Die Autorin belegt die These, dass die Änderung des Ehescheidungsgesetzes 1977 psychologische Gutachter veranlasste, sich mit „Bindungen“ zu befassen. Sie weist auf, dass die Mainstream-Psychologen deshalb den „Fremde Situation“-Test von Ainsworth sowie später auch die psychoanalytische (!) Bindungstheorie Bowlbys rezipierten. Diese sowie die der (relativen!) Determinismushypothese Bowlbys verpflichtete Bindungsforschung wird dargestellt. Die Autorin schließt Kritik und (subjektwissenschaftliche) Reinterpretation an und zieht ein Fazit hinsichtlich des Nutzens der Bindungstheorie für die Kinder – und der Gefahr der Bindungsforschung für Erwachsene.

Summary: Reflections on attachment theory and attachment research

Repeatedly the editors were asked to comment on attachment theory and attachment research. The author provides evidence for her thesis according to which the (Western German) law of divorcement in 1977 lead court-appointed psychological experts to address „attachments“. She shows that psychologists in this context dealt first with Ainsworth´s „strange situation“-test, later with Bowlbys psychoanalytic (!) attachment theory. This theory is shortly presented, as well as some assumptions and results of attachment research, a branch of research connected to Bowlbys thesis of (relative!) determinism. The author critically examines and reinterprets both, attachment theory and attachment research. Finally, she draws conclusions concerning the benefits of attachment theory for children – and the dangers of attachment research for adults.

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„Adolf Hitler, ‚Mein Kampf‘ und die Psychologie“

Diskussionsveranstaltung der GsFP mit Dr. phil. habil. Klaus Weber

Zeit: Montag, 01. Dezember 2014, 19 Uhr
Ort: „Familiengarten“, Oranienstr. 34 (Hinterhaus), 10999 Berlin

Klaus Weber unterstützt die Historikergruppe des Instituts für Zeitgeschichte (München) bei der Kommentierung der vierbändigen historisch-kritischen Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ als psychologischer Fachberater. Aus diesem Kontext heraus hat er uns folgenden Einladungstext zukommen lassen:

Um es vorweg zu sagen: Für PersönlichkeitspsychologInnen ist Hitler ein „gefundenes Fressen“. Es gibt haufenweise Material über ihn, quasi alle seine Handlungen, seine Reden und seine Schriften sind verfügbar. Kaum ein Tag seines Lebens (mit größeren blinden Flecken seiner Kindheit und Jugend), der nicht dokumentiert wäre. Mindestens fünf renommierte Historiker haben tausendbändige Biografien über ihn und sein Tun geschrieben.
Wenn die Kritische Psychologie recht hat mit der Grundannahme, dass die Begründungen für subjektives Handeln gemeinsam mit den handelnden, denkenden und fühlenden Menschen erarbeitet werden können, dann wäre bei Hitler genügend Material vorhanden, um verstehen zu können, wie sich Person, Strukturen und Verhältnisse auf eine Art und Weise verändert haben, dass so etwas wie „Faschismus“ mit Hitler möglich wurde. (Es gibt genügend Historiker, die davon ausgehen, ohne Hitler wäre es zum deutschen Faschismus nicht gekommen und falls schon, dann hätte er andere Strukturen und Feindbilder entwickelt).

Mein Vortrag soll

a) die Probleme zeigen, die es gibt, wenn Psychologie und Hitler aufeinandertreffen,
b) Suchbewegungen entwickeln, um kritisch-psychologisch die Person Hitler als Subjekt und als Struktureffekt gesellschaftlicher Logiken zu denken,
c) darstellen, wie Hitler in „Mein Kampf“ ein Programm entwickelt, das er bis 1945 durchzieht,
d) danach fragen, welche ideologischen Muster (Hitler als das „Böse“ schlechthin, die Nazis als Barbaren etc.) aus dem Weg zu räumen sind, um Hitler und den deutschen Faschismus auch kritisch-psychologisch zu verstehen.“

Dr. phil. habil. Klaus Weber ist Professor für Psychologie an der Hochschule München für Angewandte Wissenschaften. U.a. gibt er im Argument-Verlag die Reihe „texte kritische psychologie“ heraus, deren letzter Band „Störungen“ im September 2014 erschienen ist. Seine 2003 erschienene Habilitationsschrift hat den Titel: „Blinde Flecken. Der psychologische Blick auf Faschismus und Neofaschismus“.

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Vom „Ego-Tunnel“ zur „Bewusstseinsrevolution“ – Über das „phänomenale Selbstmodell“ des neurowissenschaftlich inspirierten Philosophen Thomas Metzinger

Marxistische Blätter (2014), Ausgabe 4-14, 49-56, Thema: Bewusstsein. Ein unauflösliches Rätsel?

Michael Zander

Einleitung: „Homo cerebralis“ und Wissenschaft

Handelten die heutigen Neurowissenschaften lediglich von Nervenzellen, dann würden vermutlich nur Fachleute und ein kleiner Kreis interessierter Laien über sie diskutieren. Tatsächlich jedoch avancierten einige ihrer Vertreter zu prominenten Publizisten, die eine große Resonanz erfuhren. Diese erreichte 2004 einen vorläufigen Höhepunkt, als „elf führende Neurowissenschaftler“ ein „Manifest“ über „Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ veröffentlichten (Monyer et al. 2004). Herausgefordert durch die ihnen vor allem aus der Biologie erwachsenen Konkurrenz zogen bald „führende deutsche Psychologen“ nach. Sie schrieben über die „Psychologie des 21. Jahrhunderts“ (Fiedler et al. 2005). Einige der Protagonisten beteiligten sich seinerzeit an einer Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung um die sogenannte Willensfreiheit. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass es auch um gesellschaftliche und politische Fragen ging: Aus seiner Kritik an der Idee der Willensfreiheit folgerte etwa der Neurophysiologe Wolf Singer, dass es weder Schuld noch Verantwortung gebe und deshalb sich die Argumentation der Rechtsprechung ändern müsse. „Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten. Sie muss natürlich weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, dass unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden, sie muss Delinquenten die Chance einräumen, durch Lernen zu angepassteren Entscheidungen zu finden und – wenn all dies erfolglos bleibt –, sich durch Freiheitsentzug schützen.“ (Singer 2004) Die Motive, die der „Delinquent“ einem Gericht vortragen könnte, wären allerdings nur von beschränkter Relevanz, sind sie doch unabhängig von der Person bereits durch unbewusste Prozesse im Gehirn vorbereitet worden. Auch ist der Beklagte in dieser Konstellation offensichtlich nicht Teil „der Gesellschaft“, die über ihn richtet; dass er sich an einer Veränderung ihrer Vorstellungen von Recht und Unrecht beteiligen könnte, wird jedenfalls nicht mitgedacht. Immerhin stellt Singer in einem Interview klar, dass das Gehirn ein „soziales Organ“ ist, das man „nicht isoliert von der Umwelt verstehen“ könne (Schnabel 2008; kritische Untersuchungen zum Thema „Willensfreiheit“ finden sich z.B. bei Maiers 2008 und Laucken 2005).

Ein Jahrzehnt später sieht die Bilanz durchwachsen aus. Versprechungen der Manifest-Autoren hinsichtlich des vor der Tür stehenden Erkenntnisfortschritts haben sich weder erfüllt noch ist ihre Erfüllung absehbar (vgl. Tretter et al. 2014). Trotzdem sind die Neurowissenschaften nach wie vor einflussreich. Dies betrifft nicht nur die Publizistik, sondern auch die akademische Psychologie und ihre Studiengänge sowie die Verteilung von Forschungsmitteln. Zum gesellschaftlichen Phänomen des „Homo cerebralis“ bemerkt Dirk Baecker: „Es ist ja nicht so, als könne man Neuropublizistik, die aus fragwürdigen Forschungsergebnissen noch fragwürdigere Konsequenzen für den Reformbedarf von Schulen, Gerichten, Sendeanstalten und Internetdiensten ableiten, ungestraft aus den Augen lassen. (…) Das Gehirn ist jetzt die Instanz, die man anrufen können muss, wenn man die eigenen Aussagen mit hinreichender Autorität ausstatten möchte. (…) Allenfalls der Computer, die Datenspeicher und die Algorithmen des Internets können dem Gehirn diese Stellung noch streitig machen. Aber auch das ist Teil unseres neu erwachten Interesses am Gehirn: Irgendwie hoffen wir, dass es Fähigkeiten aufweist, die für die Informatik vielleicht maßgebend sein können, aber noch lange nicht verstanden, geschweige denn in Maschinencode umsetzbar sind.“ (Baecker 2014, S. 39)

Ungeachtet dieser Kritik bleibt allerdings festzuhalten, dass die Hirnforschung und die von ihr beeinflussten Disziplinen tatsächliche Erkenntnisse hervorbringen. Zudem vertreten ihre Protagonistinnen und Protagonisten in aller Regel dezidiert „materialistische“ Positionen, wobei allerdings zu klären ist, um welche Art von Materialismus es sich jeweils handelt. Einerseits muss man sich also mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit befassen, andererseits ist dabei zu berücksichtigen, dass man es dabei zugleich mit politischen Fragen zu tun bekommt, die in die Debatte eingeschleust werden. Diesem Widerspruch soll nun an einem Beispiel nachgegangen werden.

Störungsanfälliges Ich

Für die Psychologie und die breite Öffentlichkeit sind solche Ansätze besonders interessant, die sich mit den neuronalen bzw. elementaren Grundlagen menschlicher Subjektivität beschäftigen. Der Philosoph Thomas Metzinger hat sich darauf spezialisiert, ein „autonomes“ oder „phänomenales Selbstmodell“ auszuarbeiten, das sich auf Einsichten der modernen Neurowissenschaften stützt. In der BRD ist er einer der führenden Vertreter der „Philosophie des Geistes“. Diese „umfasst die philosophische Psychologie, die Psychologie der Philosophie sowie den Teil der Metaphysik, in dem es um die Frage nach der ontologischen Natur des Geistigen geht“ (Beckermann 1999). Im Zentrum stehen das sogenannte Leib-Seele-Problem, Willensfreiheit und das Phänomen der personalen Identität (vgl. ebd.).

Metzinger, Jahrgang 1958, lehrt Theoretische Philosophie an der Universität Mainz und ist Leiter des dortigen Arbeitsbereichs „Neuroethik“. In seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ (Metzinger 2009) hat er den Inhalt früherer Publikationen zusammengefasst und popularisiert (die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). Er hoffe, „dem interessierten Laien eine realistische Vorstellung vom neuen Bild des bewussten menschlichen Geistes“ (S. 11) zu vermitteln.

Die Neurowissenschaften inspirierten „Theorien über Emotionen und Empathie, über den Traum und die menschliche Rationalität, neueste Entdeckungen über die Willensfreiheit und die bewusste Steuerung unserer eigenen Handlungen und sogar über künstliches Bewusstsein“ (S. 13). Allerdings fehle es gegenwärtig an einem Gesamtbild und einem allgemeinen Bezugsrahmen für diese Ansätze. „Die neuen Naturwissenschaften vom Geist haben zwar eine Flut wichtiger Daten geliefert, aber keine theoretische Vision, kein generelles Modell, das (…) diese Daten (…) integrieren könnte.“ Vor diesem Hintergrund geht es Metzinger um nichts Geringeres als um ein empirisch fundiertes Modell vom Selbst, um ein autonomes oder phänomenales Selbstmodell. Er stellt sich die Frage, wieso wir uns als ein „Ich“ erleben, als Subjekt unserer Handlungen oder Träume. Dass dieses Erleben nicht selbstverständlich ist, zeigt er uns am Beispiel von neurologischen Syndromen und der subjektiven Erfahrung sogenannter psychischer Krankheiten (s.u.). Bewusstsein ist für Metzinger die Repräsentation oder das „Erscheinen einer Welt“, in der wir selbst vorkommen und von der wir wissen, dass wir sie wahrnehmen. Was wir dabei als Welt und als davon abgesondertes „Ich“ erleben, ist hochselektiv angesichts einer unendlichen Wirklichkeit. Metzinger spricht deshalb auch von einem „Ego-Tunnel“.

Das Selbstmodell charakterisiert er durch eine Reihe von Merkmalen, die hier nur ganz grob und ausschnitthaft skizziert werden können.

Die Welt, in der wir leben, erscheint uns normalerweise als einheitlich, also als eine einzige Welt. Die Wahrnehmung einer einheitlichen Realität ist eine komplexe und voraussetzungsvolle Leistung, die auch scheitern kann. Metzinger nennt als Beispiele psychische Ausnahmezustände, Erlebnisse unter dem Einfluss von Halluzinogenen oder auch Agnosien. Aufgrund von Hirnverletzungen kann man bei einer apperzeptiven Agnosie etwa Formen nicht mehr voneinander, Gegenstände nicht mehr durch Abtasten erkennen oder Teile des eigenen Körpers nicht mehr identifizieren (vgl. S. 48f.).

Dank des Ego-Tunnels verfügen wir über die Fähigkeit, eine subjektive Gegenwart zu erleben, obwohl die physikalische Zeit ein kontinuierlicher Strom ist. Sie ermöglicht uns Erinnerungen an Vergangenes und Entwürfe für eine mögliche Zukunft, die wir von einem Jetzt abgrenzen können. Außerdem nehmen wir die Welt als wirklich war und können sie von Unwirklichem unterscheiden. Metzinger nennt uns „naive Realisten“.  Unsere bewusste Wahrnehmung gilt dem Wahrgenommenen. Die Wahrnehmungsprozesse selbst bleiben uns weitgehend verborgen. Das phänomenale Selbstmodell muss unserer Art einen evolutionären Vorteil verschafft haben, lautet ein weiterer Gedanke. Summarisch nennt Metzinger hier mehrere mögliche Aspekte, darunter die Verbesserung der Sozialkoordination durch Erkennen von Gefühlen und Absichten anderer Menschen, Optimierung des Langzeitgedächtnisses oder der Entwurf von Handlungsplänen. Das Bewusstsein macht relevante Tatsachen für den Organismus global verfügbar, sagt Metzinger. „Höhere Intelligenz besteht (…) nicht nur darin, Offline-Zustände zu besitzen, mit deren Hilfe man potenzielle Bedrohungen oder wünschenswerte Endergebnisse simulieren kann, sondern auch darin, die wirkliche Situation mit einer ganzen Anzahl von möglichen Zielzuständen zu vergleichen. Nachdem man im eigenen Geist einen Pfad von der wirklichen Welt in die wünschenswerteste mögliche Welt gefunden hat, kann man beginnen zu handeln.“ (S. 93)

In der Regel verfügen wir über ein Ich-Bewusstsein. Unser Bewusstsein ist uns unmittelbar nur in der Perspektive der ersten Person zugänglich. Aber selbst diese elementare Erfahrung ist störungsanfällig. Bei dem in der Psychiatrie bekannten Cotard-Syndrom „hören die Patienten manchmal auf, das Pronomen der ersten Person zu verwenden und (…) behaupten, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existieren.“ (S. 99) Unser phänomenales Selbstmodell beinhaltet nicht nur sogenannte geistige Funktionen und Erfahrungen, vielmehr ist es auch verbunden mit einem Körperschema. Normalerweise kennen wir die Grenzen unseres Körpers und können ihn von unserer Umgebung unterscheiden. Allerdings kann diese Kenntnis experimentell manipuliert werden. Die Versuchspersonen betrachten im Experiment eine vor ihnen liegende Gummihand, während ihre eigenen Hände verdeckt sind. Die Gummihand wird rhythmisch mit einem Stäbchen gestreichelt. Nach einer bis anderthalb Minuten gewinnen die Versuchspersonen den Eindruck, dass sie das Streicheln der Gummihand spüren, als sei es ihre eigene Hand. Die Rede ist dann von der sogenannten  Gummihand-Illusion. Die Aktivierung entsprechender Neuronen für visuelle und taktile Rezeptionen kann im Experiment nachgewiesen werden. Es gibt darüber hinaus einen viel älteren Hinweis darauf, dass unser Körperschema im Gehirn verankert und nicht notwendig sensorische Eindrücke in bestimmten Extremitäten voraussetzt. Ich meine Phantomschmerzen, bei denen man ein äußerlich nicht mehr existentes Bein oder einen verlorenen Arm fühlt. Diese Flexibilität unseres Körperschemas – als Teil unseres autonomen Selbstmodells – könnte eine wichtige Rolle in der Evolution des menschlichen Werkzeuggebrauchs gespielt haben. Sie befähigt uns, gleichsam mit dem Werkzeug zu verschmelzen, es als Teil des eigenen Körpers wahrzunehmen und es so geschickt zu benutzen wie die eigene Hand (vgl. S. 118).

Ein weiterer zentraler Aspekt unseres autonomen Selbstmodells ist nach Metzinger die sogenannte Agentivität. Diese „erlaubt uns, Dinge auszuwählen: unsere nächsten Gedanken, den nächsten Wahrnehmungsgegenstand, auf den wir uns konzentrieren möchten, oder unsere nächste körperliche Bewegung.“ (S. 178) Ein „kognitives Subjekt“ sind wir dabei aber nur in geringem Maße. Vielmehr ist „der allergrößte Teil unseres Denkens (…) das ständige Geplapper  eines automatisch ablaufenden inneren Monologs, das Hintergrundgeräusch aus Erinnerungen, Bewertungen und kleinen Geschichten“ (S. 177). Agentivität ist zwar eine Eigenschaft unseres Selbstmodells, sie ist aber nicht stabil und nicht immer zuverlässig. Sie kann eingeschränkt werden oder sukzessive verloren gehen, etwa im Alkoholrausch oder in der Altersdemenz. Sie kann durch Hirnverletzungen beeinträchtigt sein. Dies geschieht im Fall des sogenannten Alien-Hand-Syndroms, wenn Patienten die Erfahrung machen, dass sich ihre Hand gegenüber ihren Absichten verselbständigt und wie von einem eigenen Willen begabt zu sein scheint. Und wie das Körperschema kann Agentivität experimentell manipuliert werden. Unter bestimmten Bedingungen glauben Versuchspersonen, sie hätten eine Cursorbewegung am Computer selbst herbeigeführt, in Wirklichkeit hat dies jedoch ein Verbündeter der Versuchsleitung getan.

Eine letzte Funktion unseres Selbstmodells, von der hier die Rede sein soll, ist die Fähigkeit zur Empathie. Metzinger bezieht sich in seiner Erläuterung auf zwei Arten von Neuronen: Die sogenannten kanonischen Neuronen wurden bei Primaten bereits zu Beginn der 1980er Jahre entdeckt. Ihre Aktivität ermöglicht Bewegungs- und Handlungsschemata. Sie reagieren auf die „visuelle Wahrnehmung von Gegenständen in unserer Umgebung“ (S. 237). „Unser Gehirn registriert nicht einfach einen Stuhl, eine Teetasse, einen Apfel. Es stellt den gesehenen Gegenstand auch sofort als Was-ich-damit-tun-könnte dar – als ein Angebot zum Handeln, als eine Menge von möglichen Verhaltensweisen“ (ebd.). Die zweite Art von Neuronen, die mittlerweile berühmten „Spiegelneuronen“, feuert bei Primat und Mensch nicht nur bei eigenen Handlungen, sondern auch dann, „wenn ein anderer Handelnder dabei beobachtet wird, wenn er Gegenstände auf zielgerichtete Weise benutzt“ (S. 238). Metzinger sieht in dieser neuronalen Aktivität die körperlich-stoffliche Grundlage der Empathie und des intersubjektiven Verstehens. Er spricht von einer „sozialen Neurowissenschaft“ (S. 236), die in Zukunft Ansätze und Befunde aus Soziologie und Biologie integrieren könnte.

Vor uns haben wir jetzt – in sehr groben Zügen – das, was Metzinger als das autonome oder phänomenale Selbstmodell bezeichnet. Demnach erscheint uns in unserem Ego-Tunnel eine einheitliche und als wirklich wahrgenommene Welt, in der wir uns räumlich und zeitlich verorten können. Wir verfügen über ein Ich-Bewusstsein in der ersten Person, das unserer Art einen evolutionären Vorteil verschafft hat. Unser flexibles Körperschema ist Teil des Selbstmodells und war vermutlich in der Geschichte der Menschheit insbesondere beim Werkzeuggebrauch nützlich. Wir erleben Agentivität als die Fähigkeit, unter Gedanken, Bewegungen und Handlungen eine bewusste Wahl zu treffen. „Kanonische Neuronen“ ermöglichen das spontane Erkennen von Handlungsmöglichkeiten, die in einem Gegenstand beschlossen liegen. Und dank der Spiegelneuronen sind wir zur spontanen Einfühlung in Handlungen und Absichten von anderen Menschen in der Lage. All die beschriebenen Fähigkeiten und Funktionen sind jedoch nur begrenzt stabil. Durch psychisches Leiden, Hirnverletzungen, Drogen oder experimentelle Manipulationen sind sie erschütterbar. Metzinger beschreibt dies auf eine faszinierende Weise, in flüssiger Sprache und anhand zahlreicher Beispiele, Befunde und Theorien.

Reduzierter Materialismus und politische Konsequenzen

Allerdings weist das Modell ernsthafte Schwächen auf. Andere Menschen, soweit sie überhaupt vorkommen, existieren in Metzingers Darlegungen nur als ein Gegenüber in unmittelbarer Interaktion. Der Versuch, bei der Erforschung des menschlichen Bewusstseins eine gemeinsame Sprache für Soziologie und Biologie zu entwickeln, muss zum Schaden beider Disziplinen ausfallen, wenn das Soziale auf direkte Kommunikation und Empathie reduziert wird. Das Selbstmodell scheint vom „methodologischen Individualismus“ infiziert zu sein, der den konventionellen Neurowissenschaften von Baecker bescheinigt wird. In der Realität hat man es „nicht mit einem Gehirn, sondern mit vielen Gehirnen in Gesellschaft zu tun“ (Baecker 2014, S. 41). Menschen verfügen über die Fähigkeit, Gesellschaften zu bilden und sich mittels gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion am Leben zu erhalten. Kollektive Praxis ermöglicht es ihnen, ihre Wahrnehmung und die darauf gegründete Praxis zu überprüfen. Dies wird bei Metzinger kaum thematisiert. Auch findet die Tatsache, dass das Bewusstsein eine ontogenetische Entwicklung durchmacht, nur an einer Stelle Berücksichtigung. Der Autor diskutiert den Fall eines kleinen Kindes, das gestolpert ist und an der Reaktion seiner Mutter einzuschätzen versucht, wie es selbst das Ereignis finden soll (vgl. Metzinger a.a.O., S. 232f.). Von einer Entwicklungspsychologie des Selbst ist man damit aber noch weit entfernt.

Dass Metzinger das Thema Gesellschaft meidet, scheint auch biografische Gründe zu haben: „Ich hatte an einem eher traditionell orientierten philosophischen Institut studiert, an dem die politische Philosophie der Frankfurter Schule tonangebend war. Dort schien fast niemand die enormen Fortschritte in der analytischen Philosophie des Geistes zur Kenntnis genommen zu haben. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass in den wirklich überzeugenden, substanziellen Arbeiten an der Forschungsfront der Materialismus schon lange zur herrschenden Lehre, zur orthodoxen Doktrin im Hintergrund geworden war.“ (S. 125) Und dieser Materialismus hat nichts mit dem gesellschaftstheoretischen „Geschichtsmaterialismus“ von Karl Marx und Friedrich Engels zu tun, auf den sich einst auch die Frankfurter Schule berufen hat. Der Materialismus, den Metzinger hier meint, reduziert sich darauf, dass im akademischen Betrieb niemand „auch nur im Entferntesten die Möglichkeit der Existenz einer Seele in Betracht“ zieht (ebd.).

Sieht man vom Inhalt der Theorie insgesamt ab und fokussiert stattdessen die Argumentationsstrategie des Autors, dann fällt zunächst eines auf: Das empirische und theoretische Material, das Metzinger zur Untermauerung seines Modells heranzieht, stammt überwiegend aus dem 20., teilweise sogar aus dem 19. Jahrhundert. Aus den Neurowissenschaften der vergangenen 30 Jahre hätte er kaum etwas zwingend gebraucht. Sigmund Freud (der im Buch unverdient schlecht wegkommt) prägte den Begriff der „Agnosie“ bereits 1891 und untersuchte die entsprechenden Phänomene (vgl. Freud 1992). Der sowjetische Neuropsychologe Alexander Lurija studierte Einschränkungen von Hirnverletzten und erkundete damit die neuronalen Grundlagen subjektiver Erfahrungen. Er berücksichtigte dabei vor allem auch die „Perspektive erster Person“ (z.B. Lurija 1992, siehe auch Zander 2012).

Der Umstand, für seine Argumentation weitgehend nicht auf aktuelle Befunde angewiesen zu sein, spräche keineswegs gegen Metzinger, bestünde dieser nicht darauf, gleichsam an der Front eines empirisch fundierten Erkenntnisfortschritts zu operieren. Dies scheint seine Prognosen mit größerer Autorität auszustatten. Bei Metzinger findet sich die bereits aus dem oben erwähnten Manifest bekannte Rhetorik der großen Ankündigung: Die „moderne Philosophie des Geistes und kognitive Neurowissenschaft“ stünden im Begriff, „den Mythos des Selbst zu zertrümmern“ (Metzinger 2009, S. 13). Eine „Bewusstseinsrevolution“ kündige sich an, die „in den westlichen Gesellschaften das jüdisch-christliche Bild des Menschen im Alltagsleben“ (S. 298) untergrabe und in der „Anthropologie, die Ethik und die politische Philosophie“ (S. 297) an Bedeutung gewönnen. Das sind starke Worte, die uns zu den normativ aufgeladenen Postulaten und Forderungen des Autors führen. Die „Wahrheit einer Behauptung“, so der Verfasser, müsse „unabhängig von ihren psychologischen oder politischen Konsequenzen bewertet werden“ (S. 192). Das stimmt zwar, dennoch kann man fragen, in wessen Interesse politische Konsequenzen sind und ob die Behauptungen vielleicht durch dieses Interesse (mit) diktiert sind.

Im Rahmen seiner „Neuroethik“ erörtert Metzinger zunächst, ob es vertretbar sei, „künstliche Ego-Maschinen“ zu bauen. Er verweist auf Forschungen zur Künstlichen Intelligenz und Robotik, in deren Rahmen Insekten und Ratten elektronische Steuerungseinheiten implantiert werden. Eigentlich geht es ihm jedoch um hypothetische Maschinen der Zukunft, die über ein dem Menschen vergleichbares Selbstmodell verfügen und sich damit „in einen Gegenstand moralischer Überlegungen verwandeln“ (S. 270). Gegen deren Bau macht er einen ebenso überraschenden wie abwegigen Einwand geltend: Die ersten, notwendigerweise noch unvollkommenen Konstruktionen dieser Art „befänden sich in einer Situation, die jener der [in einem vorangegangenen fiktiven Beispiel – M.Z.] gentechnisch manipulierten und geistig behinderten Säuglinge ähnlich wäre“ (S. 273).  Aus ethischen Gründen dürfe man jedoch die „Gesamtmenge des Leidens und der Verwirrung im Universum“ nicht erhöhen (S. 275).

Es handelt sich um ein Vorurteil, dem zufolge „geistige Behinderung“ genuin Leiden bedeutet und jedes Leiden zu vermeiden sei, also nicht etwa auch notwendiger Aspekt allen Lebens und – beispielsweise in gesellschaftlichen Konflikten – mögliche Übergangsphase im Kampf um bessere Lebensbedingungen. Dass Metzinger hier gleich das ganze Universum im Blick hat – und nicht irgendwie empirisch erfassbare Einheiten –, unterstreicht die kolossalen Ansprüche seines Philosophierens. Bezeichnenderweise denkt er nur an den Schaden, der den Maschinen zugefügt werden könnte, aber nicht an die Gefahren, die von Robotern ausgehen. Spekulationen über die ferne Zukunft lenken von den Problemen ab, die sich heute stellen, etwa angesichts „autonomer Waffensysteme“ (vgl. Wagner 2014). Obwohl er den Bau von „Ego-Maschinen“ ablehnt, gerät Metzinger mit seinen hochfliegenden Mutmaßungen über eine technische Zukunft doch in die Nähe des „Transhumanismus“ und der völlig abstrusen Fantasien des Google-Gurus Ray Kurzweil (2005), in denen Roboter die Macht übernehmen und die Menschheitsprobleme, inklusive Sterblichkeit, lösen.

Metzinger scheint psychisches Leiden als primär biologisch verursacht anzusehen und entsprechende Behandlungsweisen als positiv anzusehen: „Wir werden psychiatrische (…) Erkrankungen mit Hilfe neuer Kombinationen aus bildgebenden Verfahren, Chirurgie, Tiefenhirnstimulation und Psychopharmakologie besser behandeln können. (…) Jetzt (…) besteht die Hoffnung, dass neue Generationen von Antidepressiva und neue antipsychotische Medikamente das Leiden verringern können…“ (Metzinger 2009, S. 308f.) Überzeugende Gründe führt er nicht an. Psychopharmaka haben heute zum Teil erhebliche Nebenwirkungen und ihre langfristige Anwendung kann in vielen Fällen die statistische Lebenserwartung senken. Ebenso ungewiss ist die Zukunft leistungssteigernder oder gar persönlichkeitsverändernder Medikamente, die auch nicht ohne Nebenwirkungen zu haben sein werden. Metzinger treibt lediglich die Frage um, welche „Bewusstseinszustände“ legal sind und ob man Dopingtests vor Klausuren an Universitäten einrichten muss. Er problematisiert den Gebrauch von Modafinil durch die US-Armee im Irak-Krieg, nicht aber den Krieg selbst.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise sind für Metzinger unantastbar. Die „Werbe- und die Unterhaltungsindustrien“ seien allgegenwärtige „Aufmerksamkeitsräuber“; als Gegenmaßnahme schlägt er nicht etwa eine Kontrolle dieser Industrien, sondern „flächendeckenden Meditationsunterricht“ an Schulen vor (S. 330). Multinationale Konzerne als wirkliche „Global Player“ hätten „eine Tendenz zu autoritären Führungsstrukturen“, aber auch „ein besseres Management als die meisten demokratischen Nationalstaaten“ (S. 334). Gefahr drohe von „Bevölkerungen in autoritären Gesellschaften mit schwachen Bildungssystemen“ (ebd.), die schneller wüchsen als jener der demokratischen Länder. Es öffne sich eine „Schere zwischen den akademisch gebildeten und gut informierten Teilen der Bevölkerung“ und jenen, die „noch fest in vorwissenschaftlichen Kulturen und Weltbildern verwurzelt“ seien (S. 300). Was Metzinger damit andeutet, ist eine krude Mischung aus Malthusianismus, Aufklärungsrationalismus und ideologischem Führungsanspruch des „Westens“.

Unser Fazit fällt ernüchternd aus. Metzingers Selbstmodell ist durchaus interessant, aber ziemlich unvollständig. Zu seiner empirischen Fundierung wären aktuelle neurowissenschaftliche Befunde nicht zwingend notwendig. Der zugrunde liegende Materialismus reduziert sich auf die Leugnung einer „Seele“. Insofern Metzinger die Gesellschaft als Erkenntnisgegenstand ausklammert, fällt er weit hinter den Geschichtsmaterialismus von Marx und Engels zurück. Obwohl er eine „gemeinsame Sprache“ von Soziologie und Biologie anvisiert, bleibt seine Konzeption tendenziell biologistisch. Politische Ziele tarnt der Autor als Prognose einer angeblich anstehenden „Bewusstseinsrevolution“ und als zwangsläufiges Ergebnis angeblicher oder tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ihrem Inhalt nach stützt sich seine politische Ideologie auf den Kapitalismus, sie verengt den Fortschritt auf technische Entwicklungen und legitimiert den Führungsanspruch der reichen und imperialistischen Länder.

Das alles heißt nicht, dass die Hirnforschung und die von ihr beeinflussten Wissenschaften nicht auch wichtige Erkenntnisse generieren. Aber die populäre Neuropublizistik, für die Metzingers Buch ein Beispiel abgibt, ist überfrachtet mit bürgerlicher Ideologie und daher kein Schlüssel zu einer nicht-reduktionistischen materialistischen Psychologie. Echte Einsichten aus den Neurowissenschaften wären zudem auch nur eine von mehreren möglichen Quellen für eine solche Psychologie. Wichtige Beiträge liefern beispielsweise auch epidemiologische Forschungen zum sozialen Gradienten von (psychischer) Gesundheit und Krankheit (vgl. Marmot 2005), der als „kulturhistorische Theorie“ bekannt gewordene Ansatz Wygotskis und Lurijas oder die Kritische Psychologie, die sich ausführlich mit den evolutionären und gesellschaftlichen Voraussetzungen menschlicher Subjektivität beschäftigt hat (vgl. Markard 2009).

Literatur

Baecker, D. (2014). Neurosoziologie. Ein Versuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Beckermann, A. (1999). Stichwort „Philosophie des Geistes“. http://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/pdg_www.pdf (Abruf: 7.6.2014).

Fiedler, K. et al. (2005). Psychologie des 21. Jahrhunderts. Gehirn & Geist, 7-8/05, S. 56-60.

Freud, S. (1992). Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie. Frankfurt/M.: Fischer.

Kurzweil, R. (2005). The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology. New York: Pengiun.

Laucken, U. (2005). „Gibt es Willensfreiheit?“ Möglichkeiten der psychologischen Vergegenständlichung von „Willens-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit“. Forum Qualitative Sozialforschung, 6 (1), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/523/1132 (Abruf: 7.6.2014).

Lurija, A. (1992). Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten. Reinbek: Rowohlt.

Maiers, W. (2008). Psychologische und neurowissenschaftliche Sichten auf intentionales Handeln: Die Kontroverse um den freien Willen. In L. Huck et al. (Hrsg.), „Abstrakt negiert ist halb kapiert“. Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Morus Markard zum 60. Geburtstag (S. 43-63). Marburg: BdWi-Verlag.

Markard, M. (2009). Einführung in die Kritische Psychologie. Hamburg: Argument.

Marmot, M. (2005). Status Syndrome. London: Bloomsbury.

Metzinger, Th. (2009). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin: Bloomsbury.

Monyer, H. et al. (2004). Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, 6/04, S. 30-37.

Schnabel, U. (2008). „Ein soziales Organ“. Die Zeit, 3.4.2008.

Singer, W. (2004). Keiner kann anders, als er ist. FAZ, 8.1.2004.

Tretter, F. et al. (2014). Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“. http://www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ (Abruf: 7.6.2014).

Wagner, Th. (2014). Intelligente Killermaschinen. Hintergrund, 2/14, S. 4-7.

Zander, M. (2012). Neurologie und Gesellschaft. Porträt. Vor 35 Jahren starb der sowjetische Psychologe Alexander Lurija. junge Welt, 14.8.2012.

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Bewusstsein – ein unauflösliches Rätsel? Dialektisch-materialistische Perspektiven auf das psychophysische Problem

Veröffentlicht in: Marxistische Blätter (2014), Ausgabe 4-14, 27-39, Thema: Bewusstsein Ein unauflösliches Rätsel?

Wolfgang Maiers

Dialektisch-materialistische Perspektiven auf das psychophysische Problem

I. Neurowissenschaft – eine neue Schlüsseldisziplin für die Humanwissenschaften?

Die Neurowissenschaft wird seit einiger Zeit als Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts gehandelt, die das Selbstverständnis des Menschen revolutioniere. Solche Verheißungen finden sich nicht nur im „brain hype“ der Massenmedien und im Feuilleton, sondern markieren auch Bedeutungsverschiebungen im akademischen Diskurs und schlagen sich (etwa durch ungleiche Zuteilung von Forschungsgeldern und Stellen) in den institutionellen Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens nieder. Ist hier tatsächlich ein Paradigmenwechsel im Gange? Und wie tiefgreifend wird dann das wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychologie, die sich historisch als ausgezeichnete Erfahrungswissenschaft vom menschlichen Bewusstsein etablierte, von Behauptungen berührt, dass die neurobiologische Forschung mittlerweile durch den Einsatz bildgebender Verfahren in Kombination mit anderen bewährten Technologien zeigen könne, wo und wie neuronale Prozesse Bewusstseinsphänomene produzieren?

Der Erkenntnisfortschritt der Hirnforschung ist unzweifelhaft, und unter den Prämissen eines in der materialistischen Dialektik verankerten Wissenschaftsprogramms kann es nicht darum gehen, seine Relevanz für die Psychologie herunterzuspielen. Wohl aber kommt es darauf an, die angeführten Geltungsansprüche auf mögliche Tendenzen zu einer Art „Neuro-Logik“ hin zu überprüfen. Aufgeworfen ist die Frage, ob ein Forschungsansatz, der für die gesamtgesellschaftlich-historische Praxis als Konstitutionszusammenhang menschlichen Bewusstseins unzuständig – um nicht zu sagen: blind – ist, fälschlich und mit fatalen Konsequenzen als geeignete Erkenntnisbasis der Humanwissenschaften einschließlich der Psychologie propagiert und wahrgenommen wird. Nimmt man beispielsweise die pointierten Thesen von Hirnforschern wie Gerhard Roth, Wolf Singer u.a. und vor allem ihre Resonanz in unserem Fach ernst, dann drängt sich in der Tat der Verdacht auf, dass innerhalb psychologischer Theoriebildung ein neuer Naturalismus Fuß fasst.

Roth und Kollegen präsentieren ein neurowissenschaftlich begründetes Bild vom Menschen, das „vom vorherrschenden vernunft- und ich-zentrierten Menschenbild stark abweicht“ (Roth 2001, 453). Entgegen der Überzeugung, dass das Bewusstsein „die Krone menschlichen Wesens und (…) die entscheidende Grundlage unseres Handelns“ (a.a.O., 451) ist, sei unser bewusstes Ich „nur ein virtueller Akteur in einer von unserem Gehirn konstruierten Welt“ (a.a.O., 452) und verfüge es über „nur geringe Einsicht in die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens“ (a.a.O., 453). Die Intuition, wir steuerten autonom unsere Handlungen, sei illusionär. „Wir tun nicht,“ so Wolfgang Prinz (1996, 87), „was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun“ – soll heißen: was in nichtbewussten Prozessen einer subpersonalen Informationsverarbeitungsmaschinerie vorfabriziert worden ist, die im Nachhinein als ich-gewollt mental repräsentiert würden.

Wenn es sich mit der neuronalen Determination unseres Verhaltens und Erlebens tatsächlich so verhielte wie behauptet, hätte dies weitreichende Folgen für die Psychologie. Intentionalistische Handlungskonzepte, darunter die kritisch-psychologische Konzeption „subjektiv begründeten Handelns“, wären erledigt, kaum dass sie ihre Erklärungsmächtigkeit gegenüber der theoretischen Subjektverleugnung im psychologischen Mainstream unter Beweis stellen konnten (vgl. hierzu Maiers 1996; 2008).

Naturalistische Gegenstandsverfehlungen in psychologischen Theoriebildungen sind nichts Neues: Naturalismus – darunter verstehe ich hier die Auffassung, dass die Welt ein rein naturhaftes Geschehen ist, infolgedessen die Verkennung der gesellschaftlichen Bestimmtheit menschlichen Handelns und Erlebens – hatte bei uns in wechselnden Erscheinungsformen immer wieder Konjunktur. In dieser Hinsicht schlösse der von mir vermutete neuronale Reduktionismus nahtlos an den Biologismus der sog. Evolutionären Psychologie aus den 90ern (die ihre Vorläufer in der Humanethologie der 60er und der Soziobiologie der 70er Jahre hatte) und den sich durchziehenden genetischen Determinismus an, indem er deren (ultimate) Erklärungen der Verhaltensphylogenese bzw. ‑ontogenese („welche Mechanismen führen dazu, dass sich bestimmte Verhaltensweisen stammesgeschichtlich bzw. individualgeschichtlich so-und-nicht-anders entwickeln?“) durch (proximate) Erklärungen der Aktualgenese des Verhaltens auf Hirnebene („welches sind die biochemisch-physiologischen kausalen Bedingungen eines aktuellen Verhaltens?“) komplettiert (vgl. Maiers 2002).

Neuartig und bemerkenswert an der „Neuro-Logik“ ist aber, dass reduktionistische Auflösungen des psychophysischen Problems wie z.B. der sog. „Eliminative Materialismus“, die bisher eher Streitpositionen innerhalb der (analytischen) Philosophie des Geistes bildeten, ohne durchgreifende Bedeutung für die konkrete Forschungsarbeit zu besitzen, nunmehr als Leitideen für die Gegenstandsbestimmung in den einschlägigen Einzelwissenschaften (Psychologie, Physiologie, Neurobiologie usw.) Einfluss erhalten.

II. Das psychophysische Problem in der Philosophie des Geistes

Die Philosophie des Geistes befasst sich mit der Klärung der ontologischen Natur und der Erkennbarkeit geistiger Phänomene (des Bewusstseins) und ist dabei mit dem sog. „psychophysischen Problem“ konfrontiert, das traditionell unter dem Stichwort „Leib-Seele-Problem“ firmiert. Beim psychophysischen Problem handelt es sich um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen materieller und geistiger, ideeller Welt. Dabei geht es zum einen um die Beziehung zwischen körperlichen Zuständen/Ereignissen, namentlich neurophysiologischen bzw. biochemischen Zuständen/Ereignissen des Gehirns, und Bewusstseins- oder, allgemeiner, psychischen Zuständen/Ereignissen. Diese Facette des psychophysischen Problems – das „Körper-Geist-Problem“ – wird gelegentlich auch als „psychophysiologisches“ oder „psychozerebrales Problem“ bezeichnet. Darüber hinaus geht es um die Beziehung zwischen mentalen Phänomenen und der äußeren materiellen Wirklichkeit. Das psychophysische Problem stellt eines der ältesten Probleme der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte dar. Es ist nicht nur bislang ungelöst geblieben, sondern auch sein Status als solcher ist umstritten. Das Spektrum seiner Bewertungen reicht von der Anerkennung als eines „Zentralproblems unseres Weltverständnisses“ über den Vorbehalt, dass es sich um „kein wissenschaftsfähiges Problem“ handele, da es empirischen Erkenntnismethoden nicht zugänglich sei, bis hin zur Zurückweisung als eines „metaphysischen Scheinproblems”.

Ich sprach vorhin davon, dass es innerhalb der Philosophie des Geistes verschiedene „reduktionistische Auflösungen des psychophysischen Problems“ gebe und nannte als Beispiel den sog. „eliminativen Materialismus“. Damit ist eine starke Variante einer psychophysischen Identitätstheorie gemeint, die Mentales zugunsten des Physika­lischen ausschließen will. In der schwächeren identitätstheoretischen Variante soll dieser Ausschluss nur theoriesprachlich erfolgen: In dem Maße, wie es gelinge, das gesamte (alltags-) psychologische Vokabular durch die physikalische Begrifflichkeit einer noch auszuarbeitenden Neurobiologie zu ersetzen, könne Psychologie hierauf reduziert werden. Demgegenüber bringen die Vertreter des eliminativen Materialismus, z.B. Paul und Patricia Churchland (1981; 1986), Rorty (1965/1993) oder Stich (1996), eine ontologische Lesart von materialistischer Identifikation in die Diskussion ein: Mentales, Bewusstsein existiert nicht. Aus­sagen mit mentalistischen Prädikaten beziehen sich mithin auf keine realen, abgegrenzten Gegebenheiten, sondern auf nichts anderes als physische Zustände und Ereignisse im Gehirn.

Heute nun geben einige (wenn auch längst nicht alle) Neurowissenschaftler (z.B. Francis Crick und Christoph Koch) das Ziel aus, das phänomenal beschreibbare Bewusstsein auf die Funktionsweise des Gehirns, beispielsweise einer umschriebenen Gruppe von Neuronen, vollständig kausal zurückführen zu können. An folgendem Zitat von Crick (1994, 17) wird deutlich, dass der eliminative Materalismus mindestens als Arbeitshypothese übernommen wird: „‘Sie‘, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen“.

Demgegenüber herrschte für die letzten 150 Jahre wissenschaftlicher Forschung im Bereich der Psychologie, Biologie und Medizin als implizite erkenntnisleitende Idee eher ein „naiver“ psychophysischer Parallelismus vor, der lediglich eine Korrelation zwischen den nicht aufeinander zurückführbaren psychischen Phänomenen und neurophysiologischen Strukturen und Prozessen unterstellte. In diesem Sinne lautet beispielsweise das berühmte, vom Göttinger Psychologieprofessor Georg Elias Müller im Jahre 1896 formulierte „erste psycho‑physische Axiom“: „Jedem Zustand des Bewußtseins liegt ein materieller Vorgang, ein sog. psychophysischer Prozeß zugrunde, an dessen Stattfinden das Vorhandensein des Bewußtseinszustandes geknüpft ist.“.

Die eingeschränkte Prämisse einer bloßen, wenngleich strikten, Korrespondenz hatte wissenschaftsgeschichtlich durchaus ihre Vorzüge, da sie gewissermaßen eine „friedliche Koexistenz“ aller mit psychophysischen Zusammenhängen befassten und in ihren heterogenen Zugangsweisen und Diskursformen als komplementär verstandenen Disziplinen verbürgte und so bezüglich jeder der beiden Ereignisreihen die Möglichkeit eröffnete, spezialisiertes Fachwissen anzuhäufen. „Naiv“ nenne ich die parallelistische Arbeitshypothese, weil, anders als in der Gründungszeit der akademischen Psychologie, im Fortgange „normalwissenschaftlichen Arbeitens“ (Kuhn) das psychophysische Problem – obgleich es par excellence das philosophische Zentralproblem aller für Bewusstseins- und Hirnprozesse zuständigen Wissenschaften und damit auch der Psychologie darstellt – kaum mehr explizit reflektiert wurde. Dieses Reflexionsdefizit lässt es zu, dass im Konkreten dann ganz unbefangen Positionen sowohl eines „psychophysischen Dualismus“ als auch eines „Interaktionismus“ vertreten werden, wie sie uns aus der Alltagspsychologie geläufig sind:  Mit intuitiver Gewissheit unterscheiden wir ja zwischen körpereigenen Vorgängen des zentralen und peripheren Nervensystems, des Stoffwechsels, der Herz- und Kreislauftätigkeit, des Bewegungsapparats einerseits und Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen, Absichten etc. ande­rerseits. Zugleich sind wir davon überzeugt, dass das Psychische und das Körperliche nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern aufeinander einwirken: „Er verlässt Türen schlagend den Raum, weil er wütend ist.“ Und umgekehrt: „Sie ist froh, an den Pullover gedacht zu haben, weil es ihr kühl wird.“ Diese Wechselwirkungsthese der gegenseitigen kausalen Beeinflussung scheint uns im Alltag ebenso evident zu sein wie die Dualismusthese der wesensmäßigen Andersartigkeit von psychischen und materiellen Phänomenen (vgl. Goller 2002, 2f.).

Und so hält sich auch die wissenschaftlich-psychologische Theoriebildung nicht streng an den psychophysischen Parallelismus, der nur jeweils innerhalb der Bereiche mentaler und physischer Phänomene, nicht aber zwischen ihnen kausale Beziehungen annimmt. Diese parallelistische Annahme ist ja auch insofern nicht plausibel, als der Bereich des Mentalen offenkundig kein geschlossenes kausales System ist: Wahrnehmungseindrücke z.B. werden im allgemeinen durch die wahrgenommenen Objekte selbst bzw. die damit verbundenen proximalen Stimuli (d.h. Nahreize: die Gesamtheit der vom Objekt – dem sog. distalen Reiz – ausgehenden messbaren physikalischen oder chemischen Einwirkungen auf die jeweiligen Sinneszellen eines Sinnesorgans) hervorgerufen, und wir können auch nicht alle unsere Gefühlsregungen durch Rückgriff auf andere Gefühlserlebnisse oder sonstige (inner-) psychische Phänomene erklären. Generell gilt: „Zu vieles, was nicht selber mental ist, affiziert das Mentale“ (Bieri 1997, 7). Im stillschweigenden Rückgriff auf den dualistischen Interaktionismus wird daher angenommen, dass „mentale Zustände auf physikali­sche einwirken können und umgekehrt. Psychophysiologie, Psychosomatik und Psychopharmakologie setzen diese Wechselwirkung in der Praxis de facto voraus“ (Goller 2002, 10). Ich erwähne als Beispiel nur EEG-Biofeedback-Verfahren, bei denen Personen ihre eigene hirnelektrische Aktivität durch die Steuerung des damit aktuell einhergehenden eigenen Erlebens zu beeinflussen lernen.

Durch die Tatsache der absoluten Hirnabhängigkeit mentaler Phänomene gerät die Wechselwir­kungstheorie freilich in logische Schwierigkeiten (vgl. Goller, ebd.): Von einem Einfluss des bewussten Erlebens als solchen auf neuronale Prozesse zu sprechen, wäre nur statthaft, wenn das Erleben wenigstens teilweise vom Hirngeschehen unabhängig wäre. Ein weiterer Einwand bezieht sich auf die Wesensverschiedenheit physischer und psychischer Vorgänge: Wie sollen so grundverschiedene Gegebenheiten wie beispielsweise Gefühle und Muster neuronalen Feuerns kausal aufeinander einwirken, und wie kann es überhaupt Kausalbeziehungen zwischen raum-zeitlich strukturierten elektrochemischen Gehirnvorgängen mit etwas nicht raum-zeitlich Bestimmbarem, Unausgedehntem geben? Einwänden ist der interaktionistische Dualismus also auch deshalb ausgesetzt, „weil er mit der Annahme, physische Prozesse stünden unter dem Einfluss nicht-physischer, bewusster Prozesse, gegen grundlegende naturwissenschaftliche Grundsätze zu verstoßen scheint, insbesondere gegen die Energieerhaltungssätze sowie gegen das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt, demzufolge es keine nicht-physischen Ursachen gibt“ (Pauen 2006, 41).

Ich kann auf die in der analytischen Philosophie des Geistes erörterten komplexen Lösungsansätze für das psychophysische Problem hier nicht näher eingehen (für einen kurzen Überblick vgl. Goller 2002, für eine umfassende Einführung etwa Beckermann 2008; vgl. ferner die Textsammlungen von Bieri 1997 und Metzinger 2001), will aber exemplarisch und aspekthaft anhand eines kurzen Exkurses zum sog. „Bieri-Trilemma“ den systematischen Zusammenhang wenigstens andeuten.

Mit dieser Überschrift  wird gelegentlich eine Formulierung des Körper-Geist-Problems bezeichnet, die vom Philosophen Peter Bieri (1981/31997, 2ff.) im Hinblick auf das Problem der mentalen Verursachung ausgearbeitet wurde. Bieris Argument beinhaltet drei Annahmen (von denen bereits vorstehend die Rede war): 1. „Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene.“ 2. „Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.“ 3. „Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.“. Auf den ersten Blick ist jede der drei Annahmen plausibel: Bewusstseinstatsachen scheinen durch ihre innere Wirklichkeit  – insbesondere das subjektive Erleben – von jedem physischen Ereignis verschieden und nicht hierauf reduzierbar. Mentale Phänomene scheinen ganz offensichtlich Ursache bzw. Grund von physischen Phänomenen zu sein (etwa wenn wir bleich vor Schreck werden oder aus innerer Überzeugung in bestimmter Weise handeln). Schließlich scheinen in der physischen Welt stets hinreichende physische Ursachen auffindbar zu sein.

Das Trilemma besteht darin, dass zwei der drei Sätze jeweils die Falschheit des dritten implizieren: Wenn mentale Phänomene als nicht-physische Phänomene (Satz 1) auf die physikalische Welt einwirken können (Satz 2), kann diese nicht geschlossen, muss also Satz 3 falsch sein. Treffen dagegen Satz 1 und Satz 3 zu, kann es Satz 2 zum Trotz keine mentale Verursachung innerhalb der physikalischen Welt geben. Und schließlich muss Satz 1 falsch sein, wenn die Sätze 2 und 3 wahr sein sollen. Eine Leugnung der ersten Prämisse (nicht-physische Eigenart des Mentalen) führt zum ontologischen Physikalismus. Die Preisgabe der zweiten Prämisse (kausale Wirksamkeit des Mentalen in der physischen Welt) führt zum Epiphänomenalismus, d.h. zum Prinzip der einseitigen Kausalwirkung physischer/körperlicher Ereignisse auf das Bewusstsein, das damit zu einer folgenlosen Begleiterscheinung – einem bloßen Epiphänomen – des Physischen herabgesetzt wird. Das Bestreiten der dritten Prämisse (kausale Geschlossenheit des physikalischen Bereichs) führt zum ontologischen Dualismus als Interaktionismus von physischen/somatischen und mentalen Prozessen/Zuständen. In der Philosophie des Geistes bleiben die verschiedenen Positionen bis heute umkämpft. Sie ist zu einem wesentlichen Teil eben die Führung dieser Streitdebatte, und die ver­schiedenen monistischen und duali­stischen Positionen in der gegenwärtigen Körper-Geist-Debatte lassen sich als Auflösungsver­suche dieses Trilemmas beschreiben.

In der Hauptsache bieten die Widersprüche des psychophysischen Parallelismus immer wieder Anlass für materialistisch-monistische Eliminationsversuche. Im Gegensatz zur materialistischen Identitätstheorie, die mentale Phänomene mit ganz bestimmten Gehirnzuständen identifiziert, betrachtet der (von Putnam und Fodor begründete) sog. „Funktionalismus“ mentale Zustände als Eigenschaften, die durch ihre kausale Rolle in der Funktionsweise eines Organismus (d.h. durch ihre externen Ursachen, das durch sie hervorgerufene Verhalten und die zwischen ihnen und anderen mentalen Zuständen bestehenden Kausalrelationen) bestimmt sind. Materiell (physikalisch) könnten diese funktionalen Eigenschaften auf verschiedene Weise realisiert werden. „Durch die These, dass beim Menschen mentale Zustände faktisch als Gehirnzustände realisiert sind, wird der Funktionalismus zum funktionalen Materialismus. Es sind die Gehirnzustände, die kausal wirksam sind. Der funktionale Materialismus ist somit eine Spielart der partikularen Identitätstheorie (Tokenidentität).“ (Goller, 2002, 27)

Alle diese physikalistischen Erklärungen eines reduktiven Materalismus berufen sich auf die Fortschritte der modernen Hirnforschung und nehmen für sich in Anspruch, neurowissenschaftlich evidenzbasiert zu sein. Richtig ist, dass die Dualismus- und die Wechselwirkungsthese massiver denn je in Frage gestellt sind, wenn mit neuartigen bildgebenden Registrationsmethoden (Positronen-Emissions-Tomographie, Kernspintomographie und magnetische Kernresonanz-Spektroskopie) zunehmend präzise gezeigt werden kann, wie Erleben und Verhalten kausal an das materielle Substrat eines funktionieren­den zentralen Nervensystems gebunden sind. Einen Beweis für die Richtigkeit physikalistischer Reduktionsargumentationen bietet dies indes nicht – wohl aber einen klaren Hinweis darauf, dass die genannte philosophische Unbedarftheit in den Einzelwissenschaften nicht länger durchgehen kann und auch dort eine Reflexion des psychophysischen Problems gefordert ist.

III. Bewusstsein – aus den Perspektiven erster und dritter Person

Wie steht es nun um die Geltungsreichweite neurowissenschaftlicher Erklärungen? Was lässt sich mit neurowissenschaftlichen Methoden demonstrieren? Einschränkend wird von besonnenen Vertretern der Hirnforschung selbst (so etwa im „Manifest“ elf führender deutscher NeurowissenschaftlerInnen: 2005) angemerkt, dass bedeutende Erkenntnisfortschritte in erster Linie auf der obersten Organisationsebene und im kleinen Maßstab erzielt wurden – also erstens bei der funktionalen Differenzierung von Hirnarealen, deren Zusammenspiel bestimmte psychische Funktionen ermöglicht, und zweitens bei der Struktur- und Prozessanalyse auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle. Demgegenüber stehe ein Verständnis der konkreten Realisation der psychophysischen Zusammenhänge auf der mittleren Organisationsebene, die das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer Zellverbände beschreibt, das letztlich den Funktionen auf der obersten Ebene zu Grunde liegt, weithin noch aus. Ohne diesen „entscheidenden Zwischenschritt“ blieben alle Aussagen über den Zusammenhang zwischen beobachtbaren neuroelektrischen und –chemischen Prozessen und psychischen Leistungen „weiterhin spekulativ“. Um hierüber hinauszugelangen, wird die Hirnforschung v.a. die Untersuchung von neuronalen Prozessen der bisher noch so wenig verstandenen mittleren Ebene, wie sie beispielsweise beim Lernen, beim einsichtigen Lösen von Problemen oder beim Planen von Handlungen vorkommen, in den Mittelpunkt rücken müssen. Noch einmal die Autoren des „Manifests“: „Das ‚Wo‘ im Gehirn, über das uns heute die funktionelle Kernspintomographie Auskunft gibt, sagt uns noch nicht, ‚wie‘ kognitive Leistungen durch neuronale Mechanismen zu beschreiben sind. Für einen echten Fortschritt in diesem Bereich benötigen wir ein Verfahren, das die Registrierung beider Aspekte in einem ermöglicht.“

Voraussetzung für ihre Experimente, die „die räumliche und zeitliche Verteilung von neuronaler Erregung bis auf die Ebene aller beteiligten Neurone in einem Mikroschaltkreis mit bildgebenden Verfahren hoher zeitlicher Auflösung im intakten Nervensystem erfassen“, ist, dass die Versuchstiere bzw. menschlichen Probanden aufgrund nicht behindernder Verfahren ihr natürliches Verhalten zeigen können. Nur so ist es möglich, die „Produktivität und Spontaneität“ ihrer Hirnaktivität beim aktiven Lösen von Aufgaben zu registrieren. Technisch-apparativ ist die Gewinnung einer solchen Einsicht in die Arbeitsweise von Mikroschaltkreisen an die Möglichkeit zu einer detailreichen Modellierung mit Hochleistungsrechnern gebunden.

Vielleicht wird so in den nächsten Jahrzehnten die Hirnforschung tatsächlich „den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind“, wie es die Verfasser des Manifests prognostizieren. Aber, so räumen sie abschließend ein, ein solcher – denkbarer – Erkenntnisdurchbruch wird „nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden“.

Der Grund hierfür liegt in einer prinzipiellen Erkenntnisbeschränkung der naturwissenschaftlichen Bewusstseins- bzw. Hirnforschung. Denn selbst wenn irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt sein sollten, die beispielsweise menschlichem Mitleid oder dem Verliebtsein von Menschen zugrunde liegen, so bleibt die eigenständige Qualität dieser mentalen Zustände dennoch erhalten. Ihre Besonderheit liegt nämlich darin, dass es sich, mit dem Philosophen Thomas Nagel (1974) zu sprechen, „auf eine bestimmte Weise anfühlt“, sie zu haben: Mitleid fühlt sich anders an als Schadenfreude, Verliebtsein anders als Abneigung. Und, um zwei Beispiele für sehr viel subtilere Unterscheidungen verwandter Emotionen anzufügen: Neid erleben wir anders als Eifersucht, Scham anders als Schuld usw. Sich in solchen Bewusstseinszuständen oder ‑lagen aktuell zu befinden, ist etwas anderes als über sie nachzudenken, sich ihrer zu erinnern oder zu glauben, in ihnen zu sein (vgl. Bieri 1997, 173). Und für jeden von uns haben solche Zustände einen je spezifischen Erlebnisgehalt. Diese „Qualia“, so der von Lewis (1929) geprägte philosophische Terminus, bilden das eigentliche Rätsel des Bewusstseins. Das Qualia-Problem verschärft sich noch, bedenkt man das Erleben personaler Einheit und Kontinuität im Strom des Bewusstseins. Die episodischen Zustände unseres Aktualbewusstseins wie Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Gefühlsregungen, Bedürfnisspannungen oder volitive Erlebnisse wie Handlungsvorsätze werden ja zusammengebunden durch und sind gebunden an Zustände eines näher als „Ich- oder Selbstbewusstsein“ zu charakterisierenden Hintergrundbewusstseins, zu dem das Erleben der „Meinigkeit“ des eigenen Körpers, der Urheberschaft und Kontrolle der eigenen Handlungen und Bewusstseinsakte sowie der persönlichen Identität und lebensgeschichtlichen Kontinuität gehört.

„Die Neurowissenschaften“, so ist mit Goller (2001) zu schließen, „erforschen die neuronalen Grundlagen des Erlebens, jedoch nicht das Erleben selbst. Wenn die Hirnforschung z.B. heute schon angeben könnte, mit welchen neuronalen Aktivitätsmustern das Erleben von Freude einhergeht, wüssten wir ohne eigene Freudeerlebnisse immer noch nicht, wie es ist, sich zu freuen.“ Und jemand, der ein vollständiges Wissen über die Neuro­biologie beispielsweise des Schmerzerlebens besäße, wüsste immer noch nicht, was ein Schmerz ist, falls er nicht leidvoll erfahren hätte, wie sich Schmerzempfindungen anfühlen. Eine Theorie über Schmerzen, die im Sinne einer ontologi­schen Reduktion sagte, Schmerz „ist“ in Wirklich­keit „nichts als“ ein neuronales Erregungsmuster, würde genau das auslassen, was uns tangiert: den im phänomenalen Bewusstsein oder subjektiven Erleben gegebenen qualitativen Charakter des Schmerzes (vgl. Searle 1994, 117). „Ein Schmerz ist, so scheint es, nicht deshalb ein Schmerz, weil er durch Gewebeverletzungen verursacht wird und seinerseits ein bestimmtes Schmerzverhalten hervorruft [das wäre die Sicht des Funktionalismus, WM], sondern deshalb, weil er auf eine bestimmte Weise – nämlich als schmerzhaft – erlebt wird.“ (Beckermann 1999, 772)  Erlebnisqualitäten lassen sich, wie Searle (a.a.O.) zu recht betont, nicht dadurch erfassen, dass man sie „naturalisiert“, d.h. auf körperliche Phänomene zurückführt: Keine Beschreibung der objektiven, physiologischen Tatsachen kann den subjektiven Charakter des Schmerzes wiedergeben, weil es differente Merkmale sind.

Zwei zentrale Merkmale des bewussten Erlebens wurden vorstehend geltend gemacht: Erstens ist es subjektiv und privat. Sage ich etwa: „Ich freue mich“, dann beziehe ich mich auf mein Erleben der Freude und nicht auf die mit dieser Erlebnisqualität einhergehenden neuro­nalen Gegebenheiten. Während Verhalten, Körper- und Hirnprozesse öffentlich, d.h. objektiv erfassbar und intersubjektiv verifizierbar sind, ist das eigene Erleben direkt nur jeweils mir zugänglich. Nur die betreffende Person selbst kann sagen, was sie erlebt und wie, auf welche Weise und mit welchem nur von ihr selbst empfundenen persönlichen Sinn, sie es erlebt. Zum Erleben anderer Menschen haben wir keinen direkten Zugang, wir können es nicht beobachten (vgl. Searle 1994, 99). Wir gewinnen allerdings indirekt einen Einblick in die Subjektivität der anderen, indem wir auf Grund ihrer Verhaltensweisen, sprachlichen Äußerungen und Ausdruckserschei­nungen auf ihr Befinden schließen. Zudem sind wir anhand des eigenen Erlebens in ähnlichen Situationen und vermittels einer Theorie des Geistes (Bewusstseinstheorie, theory of mind) fähig, uns vorzustellen, was im anderen vorgeht, wenn er sich in einer bestimmten Situation befindet. Sicheres Wissen indes haben wir hierüber nicht: „Die epistemologische Autorität liegt [ungeachtet möglicher Selbstmissverständnisse, W.M.] bei dem, der von seinem Erleben in der ersten Person berichtet.“ (Goller 2002, 7)
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Die Privatheit und Subjektivität von Bewusstseinsphänomenen im Sinne eines privilegierten epistemischen Zugangs zu unseren je eigenen Erfahrungen anzuerkennen, ist kein Zugeständnis an die Position, Bewusstsein sei reine Innerlichkeit und jeglicher intersubjektiven Zugangsmöglichkeit entzogen. Ein solch idealistischer Solipsismus folgt nur, wenn man die phänomenale Gegebenheitsweise des menschlichen Psychischen überhöht und zur Konzeption eines außerweltlichen (extramundanen) ich-eingeschlossenen Bewusstseins verabsolutiert. Dies verkennt indes sowohl die in der materiellen gesellschaftlichen Praxis der Menschen liegenden Ermöglichungsbedingungen des Bewusstseins als auch die darin geschaffenen gegenständlichen Inhalte, auf die Bewusstseinsphänomene gerichtet sind (die Phänomenologie spricht diesbezüglich von der „Intentionalität“ des Bewusstseins).

Zweitens ist Erleben an eine Perspektive gebunden: Wir erlangen ein Wissen über Bewusstsein durch zwei grundverschiedene Zugangsweisen: aus der Innenperspektive des subjektiven Erlebens, introspektiv oder vom Außenstandpunkt, aus der Beobachterperspektive, z.B. mittels Verhaltensbeobachtung oder Messverfahren der Hirnforschung. Erste-Person- und Dritte-Person-Perspektive lassen sich weder zusammen- noch aufeinander zurückführen. Erlebnisqualitäten sind essentiell mit der subjektiven Perspektive verbunden, die vom Beobachtungsstand­punkt dritter Person aus nicht eingenommen wer­den kann. Erlebnisse sind immer jemandes Erlebnisse. Unser Bewusstsein ist zentriert, sein Mittelpunkt bin je ich selbst als „Intentionalitätszentrum“ (Holzkamp 1983). „Bewusstsein“, so Gollers (2001) Fazit, „hat eine perspektivische Natur, und das müsste Gegenstand jeder überzeugenden wissenschaftlichen Theorie des Bewusstseins sein.“
Kein noch so vollständiges naturwissenschaftliches Wissen über die neurophysiologischen Tatsachen kann jemals ein Wissen vom bewussten Erleben der Person begründen, ihre Erfahrungsperspektive erschließen. Die Hirnforschung ist mit Bezug auf die offensichtlich existierenden nicht-physikalischen Tatsachen epistemologisch doppelt beschränkt: Erstens durch die Unvereinbarkeit der Erste-Person-Perspektive, aus der wir Denken, Fühlen und Wollen phänomenal beschreiben, und der Dritte-Person-Perspektive der naturwissenschaftlichen Beschreibung, in der diese Phänomene gar nicht vorkommen. Und zweitens, weil der geschichtliche Kontext gesellschaftlicher Praxis, in dem die nur scheinbar ich-eingeschlossenen privaten Phänomene „unmittelbarer Erfahrung“ sowohl kommuniziert (und damit intersubjektiver Verständigung zugänglich) als auch überhaupt erst konstituiert werden, sich rein naturwissenschaftlicher Erkenntnis entzieht.

IV. Bewusstsein – ein unauflösliches Rätsel?

Bezüglich zentraler theoretischer Fragen scheinen die Wissenschaften vom Bewusstsein praktisch auf der Stelle zu treten: Wie geht Bewusstsein aus Gehirnprozessen hervor? Bisher ist ungeklärt, wie die Vielfalt der Hirnereignisse so synthetisiert wird, dass sich eine einheitliche bewusste Erfahrung ergibt. Und warum existiert Bewusstsein überhaupt? Was macht es notwendig, dass nicht nur über Hirnprozesse Verhalten reguliert wird, sondern der Mensch, anders als ein Zombie, etwas erlebt und sich als Subjekt seines Handelns er­fährt? Erst wenn wir eine Antwort auf die Frage hätten, wie und warum Hirnprozesse bewusstes Erleben hervorbringen, könnten wir die Erklärungslücke zwischen mentalen Zuständen und ihrem materiellen Korrelat überwinden.

Werden wir das Verhältnis von Geist und Gehirn jemals begreifen? Oder stehen wir, wie der Physiologe Emil Du Bois-Reymond in seiner 1872 auf einer Naturforscherversammlung in Leipzig gehaltenen Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ erklärte, vor einem unauflöslichen Rätsel („Ignorabimus“)? Ich sehe für den agnostizistische Schluss, dass Bewusstsein aus prinzipiellen Gründen unerkennbar bleiben muss, keine Rechtfertigung – auch wenn zuzugeben ist, dass keine der derzeit als Alternativen zu den reduktionistischen und eliminativistischen Strategien verfügbaren Paradigmen eines nicht-reduktiven Materialismus schon eine befriedigende Erklärung böte: der (systemtheoretische) „Emergentismus“ nicht und auch nicht der in der marxistisch fundierten Kritischen Psychologie zugrunde gelegte, von mir vertretene Ansatz der „Psychophylogenese“.

Die Emergenztheorie bezeichnet als „emergente“ Phänomene solche neuartigen Eigenschaften/Strukturen, die auf der Makroebene eines Systems auftauchen, von dessen Mikrostrukturen gesetzmäßig abhängen, deren einzelnen Komponenten jedoch nicht zukommen und auch nicht auf die Mikroebene der Subsyste­me zurückgeführt werden können (vgl. Bunge 1984). Der Mensch wird demgemäß als offenes, zwei Subsysteme – Soma und Psyche – umfassendes System verstanden, wobei der Körper sich aus biologischen bzw. physiologi­schen Subsystemen zusammensetzt, die ihrerseits aus biochemischen und diese wiederum aus chemischen Subsystemen bestehen. Auch das System Bewusstsein lasse sich als emergente Biofunktion begreifen, die auf den Strukturen des Ge­hirns beruhe, dadurch allein aber nicht erklärt werden könne. Eine vergleichbare Idee wird mit dem Begriff der „Supervenienz“ formuliert (vgl. Davidson 1980; Kim 1993): Mentale Zustände supervenieren über physischen Zuständen: sie sind von ihnen abhängig, d.h. können sich nicht verändern, ohne dass sich physische Gegebenheiten verändern, sind aber nicht auf sie zurückführbar. Dafür, warum eine Struktur von bestimmter Komplexität ein emergentes bzw. supervenientes Phänomen erzeuge, gebe es keine befriedigende Erklärung, die sich aus der Analyse dieser Struktur gewinnen lasse. An der Irreduzibilitäts-These des Emergentismus bleibt allerdings unklar, wie ein Sy­stem, das aus vollständig objektiv beschreibbaren Elementen besteht, essentiell subjektive Eigen­schaften entwickeln kann, die etwas so vollständig anderes sind als alles, was wir auf der Ebene der Gehirnmechanismen antreffen. Der Ausdruck „Emergenz“ dient, so gesehen, lediglich als Bezeichnung für einen nichtverstandenen Vorgang. Analog resümiert Kim (a.a.O., 167f.), dass mit der Rede von der „Supervenienz“ das Körper-Geist-Problem nicht gelöst, sondern allererst gestellt sei. (Vgl. zum Vorstehenden Goller 2002, 11f.; für eine ausführliche kritische Diskussion Beckermann 2008, 203ff.)

Das zweitgenannte Paradigma – die „Psychophylogenese“ -, in dem das Verhältnis von Physischem und Psychischem als ein Entwicklungsverhältnis angegangen wird, überwindet immerhin schon vom Ansatz her eine Grundproblematik, nämlich das psychophysische Problem qua „Körper-Geist“-Problem auf seinen psychophysiologischen (psychozerebralen) Aspekt zu verkürzen und damit den übergreifenden Bezug des Bewusstseins zur Außenwelt zu suspendieren. Wenn ich herkömmliche bewusstseinsphilosophische Erörterungen richtig verstehe, wird darin vielfach versäumt, die entscheidende Doppelfrage der Beziehung des Psychischen bzw. Bewusstseins als des Subjektiven/Ideellen zur außerpsychischen Wirklichkeit und seines Zusammenhangs mit Prozessen des organischen, v.a. nervösen, Substrats, zu stellen. Philosophisch ginge es aber darum, den Gedanken der in ihrer Materialität begründeten Einheit der Welt mit dem Prinzip der Widerspiegelung zu verbinden. Das bedeutet für die einschlägigen Einzelwissenschaften, die Erscheinungen des Psychischen im Entwicklungszusammenhang der natürlichen und gesellschaftlichen Realität zu begreifen. Diesen Kerngedanken möchte ich abschließend noch kurz ausführen.

Zunächst halte ich fest: Der unbezweifelbare phänomenale Charakter des Bewusstseins zieht nicht notwendigerweise den im philosophischen Substanzdualismus implizierten Schluss zweier disparater Wirklichkeiten nach sich. Die ontologische Aufspaltung der Welt ist von einem dialektisch-materialistischen Standpunkt aus ebenso unannehmbar wie reduktionistische Identitätstheorien des Bewusstseins mit ihrer vulgärmaterialistischen Bindung des Materiebegriffs an stoffliche Materievorstellungen. Demgegenüber käme es darauf an, die erkenntnistheoretisch absolute Unterscheidung von Materiellem und Ideellem nicht ontologisch zu hypostasieren, sondern – i.S. eines (wohl-, d.h. dialektisch verstandenen) Monismus der Materie – Psychisches bzw. Bewusstsein als spezielle Existenz- und Bewegungsformen der Materie naturhistorisch herzuleiten, deren Funktion in der Widerspiegelung der objektiven Realität und realitätsangepassten Regulation der praktischen Lebenstätigkeit liegt.

Der Gang dieser naturgeschichtlichen Entwicklung ist hier nicht nachzuzeichnen. Zusammengefasst lässt sich festhalten (vgl. Goller 2001): Zuerst gab es das Universum ohne Leben und Bewusstsein, mit der Biogenese und Evolution des Lebens ordnete sich die Materie immer komplexer an und brachte im Resultat das Bewusstsein hervor. Mit seiner Entstehung bilden sich einem mittelpunktlosen objektiven Universum subjektive Universen: Ich-Zentren mit je eigener Perspektive auf die Welt, an die individuelle Räume des inneren Erlebens gebunden sind, je eigene Erlebniswelten, die ihre eigene Geschichte besitzen.

Ich zitiere unseren im Januar dieses Jahres verstorbenen langjährigen Mitstreiter Volker Schurig, der als Biologe an der naturwissenschaftlichen Fundierung der Kritischen Psychologie und ihrer naturgeschichtliche Entwicklungen systematisch einbeziehenden historischen Methode maßgeblichen Anteil hatte: „Nach der Entstehung des Lebens vor zirka 3 Milliarden Jahren führt ein bestimmter Organisationsgrad lebender Systeme zu einer besonderen psychischen Informationsverarbeitung. Biogenese und Psychogenese sind damit nicht identisch, sondern letztere ist bereits selbst wieder ein besonderes Evolutionsprodukt. Für dieses psycho-physische Übergangsfeld, das ca. 1 Milliarde Jahre zurückliegt, lassen sich besondere biologische Kriterien, wie zelluläre Organisation, Ausbildung spezifischer Membransysteme, Entstehung von Receptor- und Nervenzellen und so weiter, anführen. Wesentlich ist auch, daß nicht alle mehrzelligen Organismen die Fähigkeit der psychischen Informationsverarbeitung besitzen, sondern nur Tiere. Im Evolutionsprozeß erfahren die psychischen Funktionen, die zunächst auf der Grundlage verschiedener Nervensystemtypen entstehen, durch ihre positive (arterhaltende) Anpassungsleistung eine immer weitergehende Komplizierung, die im Tier-Mensch-Übergangsfeld schließlich zur Entstehung des Bewußtseins führt. Die einzelnen Stufen der Höherentwicklung und Veränderung können in der Psychophylogenese als Theorie dieser Entwicklung zusammengefaßt werden.“ (Schurig 1977, 95 )

Eine angemessene ultimateErklärung der Bewusstseinsgenese müsste also auf den aktiven Austausch zwischen lebendigen Organismen und ihrer gegenständlichen Umwelt Bezug nehmen, der die Koevolution von Verhaltenssystemen, ihren psychischen Funktionsaspekten und den korrespondierenden körperlichen Grundlagen vorantreibt und in solchen übergreifenden psycho-physischen Einheiten in je artspezifischer Weise widergespiegelt wird. So betrachtet bilden sich Hirnorgane als morphologisch-funktionale Systeme der Widerspiegelung der äußeren Wirklichkeit heraus. Nur in Verbindung mit diesem „psycho-gnoseologischen“Blickwinkel ist die (mit dem psychophysikalischen bzw. psychophysiologischen Problem der „Transduktion“ aufgeworfene) Frage, wie von einem bedeutungsvollen Objekt ausgehende äußere physikalische Reize in ein physiologisches Signal im Organismus umgewandelt und diese wiederum als Repräsentation einer gegenständlichen Bedeutung im subjektiven Erleben entschlüsselt werden, adäquat gestellt. Und nur in dieser weiteren Perspektive auf die Welt als letzten Ursprung psychischer Phänomene lässt sich die rätselhafte Transformation aufklären.

Was speziell das menschliche Bewusstsein anbetrifft, so ist es gewiss nicht das Gehirn, das es, im strengen Sinne des Wortes, „produziert“, denn Bewusstsein ist auf objektive Bedeutungen gerichtet, die es widerspiegelt. Und die Entwicklung gegenständlicher Bedeutungen, handle es sich nun um natürliche Gegebenheiten oder um in menschlicher Arbeit hervorgebrachte Artefakte, ist ein grundlegender Bestandteil menschlicher Geschichte – für deren Begreifen die Erkenntnismittel der Natur- und im besonderen der Neurowissenschaften nicht gemacht sind.

Ich sagte vorhin, dass die Gegebenheitsweise des unmittelbaren Erlebens als „je meine“ Erfahrung und Befindlichkeit „Subjektivität“ oder „individuelles Bewusstsein“ fälschlich als etwas erscheinen lassen könnte, das objektiven methodischen Zugriffen entzogen sei. Die zentrale wissenschaftliche Aufgabe liegt damit darin, die idealistische Unmittelbarkeitsauffassung des Bewusstseins durch Aufhebung seiner „Isolation“ vom Kontext der Lebenstätigkeit zu überwinden. Das Prinzip der Einheit von Bewusstsein und Tätigkeit, der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Bewusstseins im tätigen Lebensprozess der individuellen Subjekte, bildet eine durchgängige methodologische Maxime materialistischer Psychologie. Sie schließt als Voraussetzung eine logisch-historische Rekonstruktion der Psychophylogenese ein, in die Entwicklung des Psychischen als besonderer „subjekthaft“-aktiver Widerspiegelungsbeziehung zur gegenständlichen Realität bis hin zu ihrer „vorläufigen Endform“ als reflexiver Welt- und Selbsterfahrung der in konkreten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen engagierten menschlichen Subjekte empirisch überprüfbar konzeptualisiert wird.

Um zum Abschluss Klaus Holzkamp (1983, 538) sprechen zu lassen: „In unseren Kategorialanalysen hat sich ja ergeben, daß ‚mein‘ Standpunkt zwar der Ausgangspunkt meiner Welt- und Selbsterfahrung, aber damit keine unhintergehbare bzw. ‚in sich‘ selbstgenügsame Letztheit“ sondern „als Ausgangspunkt meiner eigenen Erfahrung seinerseits der Endpunkt einer phylogenetischen bzw. gesellschaftlich-historischen Entwicklung ist, durch welchen er selbst als Aspekt des materiellen gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozesses erst notwendig und möglich wurde: als Charakteristikum der bewußten ‚Möglichkeitsbeziehung‘ von Individuen zu gesellschaftlichen Verhältnissen bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit ihrer Existenz.“

Literatur

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Metzinger, Th. (Hrsg.), (2001). Bewußtsein: Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn: Schöningh

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Searle, J. R. (1994). The Rediscovery of the Mind. Cambridge/Mass.: MIT Press

Stich, S.P. (1996). Deconstructing the Mind. New York/Oxford: Oxford University Press

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Ferienuniversität Kritische Psychologie 16.-20.09.14 an der FU Berlin

Vom 16.-20. September 2014 findet unter dem Motto „Den Gegenstrom schwimmen“ an der Freien Universität Berlin wieder eine Ferienuniversität statt. Ein Kongress mit ca. 90 Veranstaltungen, der zum Kennenlernen und Diskutieren der Kritischen Psychologie im Austausch mit anderen Ansätzen einlädt.

Psychologie ist gesellschaftlich allgegenwärtig und trotzdem prekär: In den Medien erscheint sie oft als Wissenschaft der Selbstoptimierung und unmittelbaren Problemlösung. An den Hochschulen werden kritische Inhalte marginalisiert, und Berufstätige im psychosozialen Sektor sehen sich mit starkem Anpassungsdruck konfrontiert. In dieser Situation scheint es uns dringend geboten, sich über Alternativen zu verständigen. Deshalb laden wir alle Interessierte ein, an der Ferienuniversität 2014 teilzunehmen. Anmeldung  und Kinderbetreuung sind kostenlos.

Neben Einführungsveranstaltungen, aktuellen Forschungsarbeiten und Buchvorstellungen am Vormittag finden nachmittags eine Reihe von Workshops, Diskussionen und Forschungswerkstätten zur Reflexion der eigenen psychosoziale Praxis, Psychotherapie und Beratung, zur Funktion der (Kritischen) Psychologie für emanzipatorische Projekte und soziale Kämpfe, zum Verhältnis von Herrschaft, Verdrängung und dem Unbewussten, zur Kritik an der Psychologie als positivistische Wissenschaft und zu Grundsatzfragen der Kritischen Psychologie statt.

Der Kongress wird von Studierenden, Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen gemeinsam organisiert und möchte zum interdisziplinären Austausch zwischen Theorie und Praxis sowie Lernenden und Lehrenden beitragen.

Die Kritische Psychologie ist eine marxistisch fundierte Subjektwissenschaft, die den Menschen in seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit als begründet handelnd und seine Verhältnisse gestaltend begreift. Sie entstand an der FU Berlin im Rahmen der 68er Studentenbewegung und verbindet seitdem Gesellschafts- und Psychologiekritik mit der Entwicklung einer emanzipatorischen Psychologie vom Subjektstandpunkt.

Weitere Informationen unter: http://2014.ferienuni.de/

Mit vorfreudigen Grüßen

Das Orga-Team 2014

Rubrik: Veranstaltungen |

Forum Kritische Psychologie 58

Mythos Bindung
Prävention und Gesundheit
Friedensengagement in Palästina
Kritik der Verhaltenstherapie
Volker Schurig – Texte aus dem Nachlass

Inhalt

Editorial

Gisela Ulmann
Reflexionen zu Bindungstheorie und Bindungsforschung

Anna Karcher
Entwicklungshilfe oder Friedensindustrie? Praxisreflexionen von Aktivist_innen in den Palästinensischen Gebieten

***

Morus Markard
Prävention und Erziehung oder: Zum Verhältnis von Willen und Wohl

Florian Bödecker
Paarkonflikte bei Demenz

Daniel Sanin
Das Problem „Passivrauchen“ als Extremauswuchs neoliberaler Präventionslogik

Joseph Kuhn
Das Rauchen, die Gesundheit und die Gesellschaft: Ein paar Anmerkungen zum Beitrag „Das Problem ‘Passivrauchen’ als Extremauswuchs neoliberaler Präventionslogik“ von Daniel Sanin

***

Volker Schurig
Hermann Ley – ein verhinderter Reformer des „realen Sozialismus“?

Werkstattpapiere

Felix Blind, Moritz Thede Eckart, Franziska Heinz
Möglichkeiten und Grenzen des S-O-R-[K]-C-Schemas. Eine kritisch-psychologische Reinterpretation

Selina Diehm und Gisela Ulmann
Warum wollen Erwachsene eine AD(H)S-Diagnose?

***

Zusammenfassungen der Beiträge/Summaries

Autorinnen und Autoren

Impressum

 

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Bundeswehr und Psychotherapie

Offener Brief der NGfP an den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer

Wir möchten auf den Offenen Brief der Neuen Gesellschaft für Psychotherapie (NGfP) an den Präsidenten der Bundestherapeutenkammer aufmerksam machen, in dem sich die NGfP gegen eine Zusammenarbeit der Bundespsychotherapeutenkammer mit der Bundeswehr und dem Bundesverteidigungsministerium wendet.

Der Offene Brief der NGfP ist auf deren Homepage dokumentiert.

Wer den Offenen Brief unterzeichnen möchte, kann das unter vorstand(at)ngfp.de tun.

Rubrik: Nachrichten |

„Ich bin hier zu Hause, ich bin in keinem Heim“

Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Pflegebedürftigkeit

Diskussionsveranstaltung der GsFP mit Dr. des. Michael Zander

Zeit: Freitag, 09. Mai 2014, 19 Uhr
Ort: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Seminar-Raum 1

Für viele Menschen, so die Soziologin Stefanie Graefe, ist Pflegebedürftigkeit ein „hochgradig angstbesetztes Thema.“ Ihnen erscheine Pflegebedürftigkeit „als Synonym von ‚Abhängigkeit‘ und ‚Fremdbestimmung‘, wenn nicht sogar als ‚Ende des Lebens‘“. Was es jedoch tatsächlich bedeutet, Hilfe von anderen in Anspruch zu nehmen und nehmen zu müssen, hängt in hohem Maße von gesellschaftlichen Bedingungen und von der Gestaltung sozialer Beziehungen ab. Insofern schränken altersbedingte Funktionsverluste zwar die individuelle Selbstständigkeit, aber nicht notwendigerweise die Selbstbestimmung ein. Unterstützung kann die Verfügung über relevante Lebensbedingungen entweder behindern oder überhaupt erst ermöglichen. „Autonomie“ wäre demnach nicht als Selbstgenügsamkeit oder als individuelle Eigenschaft zu verstehen, sondern als Phänomen, das in kooperativen, arbeitsteiligen Beziehungen gemeinsam hergestellt wird. Der Vortrag erörtert dieses Verständnis unter psychologischen Gesichtspunkten und am Beispiel von qualitativen Interviews mit pflegebedürftigen Menschen.

Dr. des. Michael Zander ist Dipl.-Psychologe, Mitglied der Redaktion des „Forum Kritische Psychologie“, hat zum Thema „Autonomie bei (ambulantem) Pflegebedarf im Alter“ promoviert und arbeitet als freier Autor.

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9. Ferienuniversität Kritische Psychologie

16. bis 20.09.2014 an der FU Berlin

Die Vorbereitungen für die 9. Ferienuniversität Kritische Psychologie „Den Gegenstrom schwimmen“ sind im vollen Gange. Es wird wieder zahlreiche Möglichkeiten zur Aneignung und Reflexion von kritischer Theorie und Praxis, zum Erfahrungsaustausch und zur Vernetzung geben. Dabei geht es uns darum, an der Kritischen Psychologie orientierte Konzepte zu vermitteln, diese weiterzuentwickeln und in Austausch mit anderen Ansätzen zu diskutieren. Damit wollen wir der De-Institutionalisierung Kritischer Psychologie und kritischer Wissenschaften insgesamt entgegenwirken.

Die Schwerpunkte liegen diesmal auf der Einführung in die Kritische Psychologie und ihre Grundlagen, auf Fragen nach einer geeigneten Erkenntnistheorie für die Psychologie, auf Praxisforschung, Psychotherapie und Beratung, auf der Frage nach dem Unbewussten und auf der Reflexion aktueller politischer Kämpfe sowie einer emanzipatorischen Perspektive jenseits des Kapitalismus.

Nach einigen Schwierigkeiten bei der Raumreservierung, wird die Ferienuniversität – wie die Jahre zuvor – an der Freien Universität in der Silberlaube stattfinden.

Das nächste Vorbereitungstreffen findet am 2. und 3. Mai in Berlin statt.

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Psychology from the Standpoint of the Subject

schraube-osterkamp-writings-holzkampSelected Writings of Klaus Holzkamp

Edited by Ernst Schraube and Ute Osterkamp

Klaus Holzkamp (1927-1995) was the founder of German Critical Psychology, working on the fundamental renewal of academic psychology. His ideas inspired generations of young scholars dissatisfied with the socio-political function of psychology and the human sciences. Although his approach has been discussed internationally, much of his work has not previously been available in English. This selection of Holzkamp’s writings provides an introduction to his psychology from the standpoint of the subject.

In Holzkamp’s approach, the object of psychological research is not the individual, but the world as it is experienced and lived by the individuals in their everyday lives. This requires a change of perspective to recognize the function that the common individualistic reduction of human subjectivity and agency has for maintaining established power-relations. The concepts of social self-understanding and generalized agency play a key role in a psychology from the subjects‘ standpoint, as alternatives to subjection can only be realized together, and in accord, with others.

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