Die Frage nach der Konstitution des Subjekts

Grundsatzreferat beim 3. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, Marburg 1984. Dokumentation in: Karl-Heinz Braun/Klaus Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie Marburg 1984, Frankfurt/M. 1985, Campus, S. 60-81. Download (PDF, 439 KB): wfh1985a

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Vgl. dazu auch die weiteren Kongreßbeiträge:

sowie:


Wolfgang Fritz Haug

„Subjektivität als Problem psychologischer Methodik“, unser Kongreß-Thema, wirft sogleich Fragen der Begriffsbildung auf. Jedoch das „Subjekt“ in Frage zu stellen, geht manchem gesunden Menschenverstand gegen den Strich. Daran hängt so viel buchstäblich Selbstverständliches, hängen so viele Formen, in denen wir uns spontan selbst verstehen. Wir fühlen und wissen uns „innen“ und wollen uns „äußern“. Subjekt, unklar übergehend ins Subjektive oder in Subjektivität (1), ist wie ein Fließblatt, das sich vollgesaugt hat mit vielfältigen Bedeutungen: Bewußtsein, Denken, Reflexion … Ich, das Selbst und seine Zusammensetzungen mit Erfahrung, Findung, Verwirklichung … die Person und das Persönliche, übergehend in das Individuelle, je Eigne, vielleicht gar Private … Da sind die konnotativen Seiten des Lebens, des Alltags, der Spontaneität angeschlagen. Die Eiswüste der Abstraktion und das Reich der Herrschaftsverhältnisse scheinen weit entfernt. Um was es hier zu gehen scheint, das bin „ich, wie ich mich und meine Welt hier und jetzt erfahre“. Subjekt-Diskurse fassen einen Schwarm solcher Bedeutungen zusammen und beziehen ihre Selbstverständlichkeit aus dem alltäglichen Selbstverständnis.

Wenn wir vom Subjekt sprechen, springt wie von selbst das Objekt in die Rede. Subjekt/Objekt sind polare Gegensätze, die einander ebenso ausschließen, wie sie unzertrennlich sind. Sie bilden das strukturierende Element eines binären Kodes. Sie fungieren wie ein Verteilungsautomat, der alles Vorkommende ins eine oder ins andere Fach wirft. Wie von selbst bilden sie ein Aggregat mit anderen polaren Paaren. Sie liieren sich mit Person/Sache, innen/außen, ||61| schließlich Bewußtsein/Sein oder Wesen/Erscheinung usw. Daß diese Paare nicht ganz „zueinander passen“, tut der Selbstverständlichkeit, in der sie zu Hause sind (wie sie in ihnen) keinen Abbruch. Ihre Evidenz ist die eines geschlossenen Spiegelsystems: „innen“ ist“ nicht außen“, spiegelt sich also in seinem Gegenteil, wie dieses sich in ihm. Der Versuch, diese Einschließung selber zum Erkenntnisgegenstand zu machen, also das Ideologische als gesellschaftliche – und das heißt „äußere“ – Anordnung zu begreifen, zieht sich alsbald den Verdacht zu, die Individuen würden so „nur noch als passive Objekte ‚des Ideologischen‘ auftauchen“ (Steil 1984, 14). Das Gegenteil ist der Fall. Unter der Charaktermaske des Subjekts und des Objekts müssen erst die handelnden Individuen, ihre Vergesellschaftungsformen und ihre materiellen Lebensbedingungen – naturale wie produzierte – auftauchen.

Manche mögen das Problem der Kategorien abtun als „theorielastig“, um von der Last der Theorie so viel als möglich abzuwerfen. Sie unterschätzen die praktische Macht der Kategorien. Die Kategorien gelten ihnen als Spielmarken, durch Konvention festlegbare, im Grunde beliebige Sprachregelungen, für deren vernünftige Bedeutung sie schon aufkommen zu können glauben. Aber das ist eine Illusion. Die Kategorien bilden ein Netzwerk; einzeln ist ihnen nicht beizukommen. Sie gleichen darin der Anlage einer Stadt. Sie schreiben Wege vor, blockieren hier eine Richtung, kanalisieren dort eine andere. Ihr Ensemble stellt ein Geflecht von Artikulationsmöglichkeiten dar. In ihnen äußern und bewegen sich Praktiken, bilden sich Objekte und Ziele der Erkenntnis wie Projekte des Eingriffs. Wir mögen uns einbilden, wir seien ihre souveränen Subjekte, die über sie verfügen und sich ihrer bedienen. Aber dieses souveräne Subjekt existiert nur in seiner Einbildung. Die Anlagen der Kategoriennetze produzieren unzählige Diskurse. Und wir diskurrieren darin, laufen hin und her in diesem Netz. Unser „Subjekt“ ist eher von dieser Anlage konstituiert, als daß wir über sie verfügten. So unbrauchbar Hegels metaphysisches Schema ist, so recht hat er mit seiner Behauptung von einer Dialektik solcher Ordnungsbegriffe wie Subjekt/Objekt, die auf den gesunden Menschenverstand wirkt wie zum Verlieren desselben. (2) Die spontane Metaphysik der philosophischen Sedimente aufzusprengen, worin jene Kategorien festliegen, wird zur Lebensbedingung für eine Theorie gesellschaftsverändernden Handelns. Die Frage nach den Kategorien ist eine der Strategiefragen im Bereich des Denkens. Beim Denken aber geht es um die Artikulation des Handelns. ||62|

Diese Strategiefrage pflegt nach dem Sprichwort angegangen zu werden: „Jeder Wolf ist König in seinem Walde.“ Oder: Jeder Kritische Psycholog ist sein eigner Philosoph. Wo danach gehandelt wird, kommt es zur spontanen Philosophie der Wissenschaftler, der Althusser 1967 eine höchst geistreiche (auf deutsch erst 1985 im Argument-Verlag erscheinende) Schrift gewidmet hat. Es versteht sich, daß unter Marxisten das Verbellen der jeweils andern als „Philosophen“, die sich gefälligst nicht einmischen sollen, ausgeschlossen sein müßte. Zumal es hier um ein Denken geht, das in ähnlicher Weise Philosophie ist, wie die Anti-Psychiatrie … Psychiatrie.

Wir haben den gemeinsamen theoretischen Rahmen unserer historischen Gesellschaftswissenschaft und den gemeinsamen Bezugspunkt auf das, was Marx seine theoretische Methode nannte. Und eine Kritische Psychologie in unserm Sinn muß unter allen Umständen – und hat das seit ihrem Beginn getan – die ideologische Einwirkung des disziplinären Grenzverlaufs zurückweisen. Was die disziplinäre Arbeitsteilung der bürgerlichen Wissenschaft für die jeweilige Einzelwissenschaft bedeutet, das läßt sich vergleichen mit dem, was die kategorialen Netze im Innern leisten.

Kategorien müssen immer als Knoten (und daher auch Kreuzungspunkte) in einem Begriffsnetz verstanden werden. Sie fungieren im Rahmen ihres jeweiligen Kontexts als Artikulatoren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Wenn wir untersuchen, wie Marx im „Kapital“ die Kategorienfrage methodisch angegangen ist, entdecken wir die andere Seite. Die kapitalistische Ökonomie produziert ihre eignen Kategorien in einer bestimmten Verknüpfung. „Wert“ und „Preis“, „Kapital“, „Arbeitslohn“, „Zins“ usw. „besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt. … Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.“ (Marx/Engels, Werke (MEW) 23, 90). Die Wirtschaftstheorie bleibt bürgerliche Ideologie, wo nicht gar vulgärökonomische Legitimationswissenschaft, solange sie diese Kategorien ohne Kritik, wie Marx sagt, aufgreift. Wenn wir uns die Macht und Wirkung dieser Kategorien erklären wollen, können wir sagen: sie sind objektive Gedankenformen, weil Formen gesellschaft-||63|licher Praxis. Und als gesellschaftliche Praxisformen sind sie eingeschrieben ins Institutionengefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sich die Individuen selbsttätig verhalten. Anders gesagt: indem die Individuen die Praxisformen der Tauschverhältnisse tätig ausfüllen, frei in diesen Formen ihren Vorteil suchen und miteinander konkurrieren, machen sie sich zu kleinen Subjekten dieser Verhältnisse.

Die Frage der Subjektivität – und mit ihr die Idee des Subjekts, von der sie nicht zu trennen ist – beinhaltet grundwesentliche Dimensionen und Ansprüche. Das „Wir“, und zwar als „wir selber“, steht dabei auf dem Spiel. Die menschliche Emanzipation, d.h. die Befreiung von Herrschaft und jeder Form der Vorenthaltung von Selbstbestimmung hat sich traditionell darin artikuliert. Freilich, wenn dies alles (und mehr Unverzichtbares) in diesen Kategorien artikuliert ist, dann müssen wir fragen: Wie? Es wäre ein Wunder, wenn gerade die Kategorie des Subjekts historisch unschuldig wäre und wir sie ohne alle Kritik aufnehmen dürften. Wir müssen daher fragen nach ihren Bedeutungen, Verflechtungen, ihrer Geschichte. Wir sollten fragen: gehört das Subjekt samt kategorialer Verwandtschaft zu den „gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise“ (s.o.), des Kapitalismus? Läßt sich das „Subjekt“ als institutionalisierte bürgerliche Praxisform begreifen?

Lektorski eröffnet seine Darstellung des „Subjekt-Objekt-Problems in der … bürgerlichen Philosophie“ folgendermaßen:

„Als ‚Subjekt‘ bezeichnen wir in der Erkenntnistheorie das erkennende Wesen, als ‚Objekt‘ den Gegenstand seiner Erkenntnistätigkeit. (…) Gehen wir terminologisch an unser Thema heran, so können wir bald feststellen, daß mit den angegebenen Bedeutungen der Termini ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ unser Problem erst in der klassischen deutschen Philosophie formuliert wurde, und zwar zuerst in der Philosophie Kants.“ (Lektorski 1968, 9)

In der Tat hatten dieselben Ausdrücke zuvor völlig andere Bedeutungen. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich von der enormen Wirksamkeit Kants, dieses bürgerlichsten aller deutschen Philosophen, auf dem Feld der Terminologie verblüffen zu lassen: Der historische Vergleich der Terminologie „vorher und nachher“, sowie, noch frappierender vielleicht, der linguistische Vergleich. Um einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, greifen wir zu Lalande, dem repräsentativen französischen Wörterbuch der Philosophie. Schlagen wir nach unter: SUJET. ||64|

Wer ein Freund klarer Verhältnisse ist und gern jederzeit eindeutig gesagt haben möchte, was rechts und was links ist, wird keine Freude haben. Lalande gibt dankenswerterweise die deutschen Äquivalente. Sujet übersetzt sich demnach also mit Subjekt, auch Person, und soweit so gut. Aber in erster Linie ist es Gegenstand, also Objekt, auch Versuchsperson, dazu anatomisch der sezierte Leichnam, schließlich politisch der Untertan.

Bei J.J. Rousseau heißt es: „Les associes … prennent collectivement le nom de peuple, et s’appellent en particulier citoyens comme participant à l’autorité souveraine, et sujets comme soumis aux lois de l’Etat.“ (Contrat social, 1.1, Kap. VI) – Ich übersetze versuchsweise: „Die assoziierten Individuen … geben sich kollektiv den Namen Volk und nennen sich im Besonderen Staatsbürger, insofern sie an der souveränen Autorität teilhaben, und Subjekte, insofern sie den Gesetzen des Staats unterworfen sind.“

Wie nun? Subjekt heißt in der Nachbarsprache plötzlich Objekt, Freiheit Untertänigkeit. So springen im selben Wort die Bestimmungen nach der Logik des Gegenteils um, anscheinend willkürlich. Wäre es zum Glück nur bei den Franzosen so? Flüchten wir zu den Engländern! Heißt es doch schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei Hobbes klassisch vertraut, ein Gedanke sei „a representation or appearance, of some quality … of a body without us, which is commonly called an object.“ (Leviathan, 1. Kap.). Die Welt scheint nach Innen/Außen geordnet, und „ein Körper außerhalb von uns heißt gemeinhin Objekt“. Aber die Frage nach dem Subjekt bringt uns schnell darauf, daß es im Englischen – mit deutschem Maßstab gemessen – keineswegs ordentlicher zugeht als im Französischen. Die erste Bedeutung, die das Oxford Dictionary unter „subject“ verzeichnet, ist die „Person subject to political rule“, der Untertan, wie das dazugehörige Tätigkeitswort, „to subject“, unterwerfen bedeutet. Dann folgt ein Reigen divergierender Bedeutungen, der sich kaum von der semantischen Springprozession des französischen Äquivalents unterscheidet. In der gewöhnlichen Sprache ist the subject zunächst der Gegenstand, Stoff, die behandelte Materie oder einfach das Thema. In den entsprechenden Sondersprachen bezeichnet es auch das logische, das grammatische und das metaphysische Subjekt. Aber Vorsicht! Ist auch das Wort gleich, so keineswegs die Sache. Subjekt der Grammatik, nicht Subjekt der Logik, und dieses nicht – sowenig wie das erste – Subjekt der Metaphysik … Wenn auch das deutsche „Subjekt“ äquivok diese Unterschiede überdeckt, so hat hier doch die philo-||65|sophische Terminologie gesiegt. Eine sprachliche Zusammenfassung verschiedener regionaler Bedeutungen, die in gewisser Weise analog sind (oder dadurch vollends analogisiert wurden), ist hier erfolgt. Eine genauere historische Untersuchung (vgl. dazu Haug 1984) zeigt, daß diese Bündelung das funktionale Produkt einer typisch bürgerlichen Konstellation ist. Die Verdrängung der anderen, älteren Bedeutungen durch die neue bürgerliche scheint – auf diesem Feld – eine deutsche Besonderheit, die in andere Sprachen nicht ohne weiteres übersetzbar ist.

Es mag für deutsche Ohren schmeichelhaft klingen, wenn ein sowjetischer Autor seine spezifisch deutsche Entwicklung zum universellen Entwicklungsmaßstab macht, ja sogar die gesamte Geschichte der Philosophie rückwirkend in das Subjekt-Objekt-Artikulationsmuster, das ihr ganz fremd war, hineinpreßt. Marxisten werden freilich wissen wollen: Nachdem nun heraus ist, daß die Subjekt-Objekt-Artikulation alles andere als selbstverständlich-natürlich ist, nachdem wir gelernt haben, daß sie in der bürgerlichen Philosophie Deutschlands geprägt und zum Sieg geführt worden ist, wie ist sie dann bestimmt von den Produktions- wie [von] den Politikverhältnissen dieser Tradition? Auf keinen Fall kann sie ohne Kritik in die marxistische Theorie aufgenommen werden.

Kant vergleicht in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sein Projekt mit dem des Kopernikus. Die Wende, die Kant in der Problematik der Erkenntnis herbeiführen will, bringt er auf folgende Quintessenz: „Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten …“ Er behauptet: „Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“ (KrV, B VI f.) Was sonst als Drehung der Sterne erscheint, ist jetzt Drehung des Beobachtungsobjekts. Der Vergleich ist beim zweiten Hinblicken merkwürdig unpassend. Der Zuschauer oder Kontemplator, wie es bei Kopernikus heißt, war ja durch jene Wende relativiert worden. Sein Beobachterstandpunkt wurde in das astronomische Geschehen einbezogen. Kopernikus hatte die Problematik nach außen, in den Weltraum übersetzt. Er rekonstruierte die Beobachtungen unter Bezug auf einen Standort auf dem „Raumschiff Erde“. Die Kantianische Wende hat einen ganz anderen Sinn. Sie restauriert einen Kontempla-||66|tor, um den sich neuerdings wieder alles dreht. Es ist freilich ein neuer Typ, der sich da artikuliert als Vernunft oder Subjekt. „Sein ‚transzendentales Subjekt'“, sagt Lektorski, „ist das, was der empirischen Wirklichkeit, der Natur, der Welt der Gegenstände zugrunde liegt. Sein ‚Objekt‘ ist das Produkt der Tätigkeit dieses Subjekts, dessen transzendentale Konstruktion.“ (Lektorski, 11). Entsprechend der kritizistischen Philosophie Kants bildete sich damals auch eine „Kritische Psychologie“ (oder „Reflexive Psychologie“ genannt).Ähnlich wie bei Kant figuriert dort das Subjekt als das Sein, welches erkennt etc., und zwar nicht individuell-besonders, sondern als notwendige Bedingung der Einheit der Vorstellungen, die als einheitliche dadurch zum Objekt konstituiert werden. Das Subjekt ist also objektkonstituierende Instanz. Freilich: die wirklich-sinnlichen, empirischen „Subjekte“ oder Individuen gelten damit nur als Lizenzen dieses transzendentalen Subjekts. Liegt es da nahe, Kant kurzerhand dergestalt zu beerben, daß wir dem transzendentalen Subjekt die Gesellschaft unterschieben? Diesen Weg gehen Heinz Wagner und eben auch Lektorski, um nur die beiden zu nennen. Oder wie Dieter Wittich im Vorwort zu Lektorskis Buch schreibt: „In Übereinstimmung mit einer Reihe von Autoren unserer Republik versteht Lektorski unter ‚Subjekt‘ die gesellschaftlich organisierte Menschheit und unter ‚Objekt‘ den Bereich der objektiven Realität, welcher der praktischen Einwirkung des Subjekts unterliegt.“ Aber kann man eine ideologische Schlüsselkategorie des Bürgertums marxistisch einfach beibehalten und nur mit einer anderen Bedeutung versehen? Kein Zweifel, die Bedeutung, die der Subjektkategorie hier zugeordnet wird, wollen wir hochhalten und verteidigen. Die gesellschaftlich organisierte Menschheit oder die menschlich organisierte Gesellschaft ist schon in den Feuerbachthesen von Marx als Orientierung seiner neuen Auffassung genannt worden. Aber muß sich diese Bedeutung nicht ändern, wenn sie in die alte bürgerliche Artikulation kanalisiert wird? Zumal, wenn die Bedeutungen derart verteilt werden, daß die wesentlichen Elemente des Sozialismus sich folgendermaßen darstellen: „die objektiven Bedingungen …, das Bewußtsein der Arbeiterklasse …, der subjektive Faktor, der Staat …“ (Oelßner 1959, 28 f.). Erinnern wir uns demgegenüber ans Marx‘ Hegel-Kritik: „Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivirten Staat.“ Und: „Wäre Hegel von den wirklichen Subjekten (Plural!), als den Basen des Staats ausgegangen, so hätte er nicht nöthig, auf eine mystische Weise den Staat sich versubjek-||67|tiviren zu lassen.“ (Marx/Engels, Gesamtausgabe [MEGA], I.2, 31 24; MEW 3, 231, 224.)

Wer Subjekt sagt, sagt Subjekt-Objekt und bewegt sich damit in einer binären Struktur. Dies gilt – mit Modifikationen – auch für die Hegelsche Überwindung des subjektiven Idealismus. Hegel wirft Kant vor, er habe „den Geist als Bewußtsein aufgefaßt“ (Enzykl. III, § 415) und sich damit an die Erscheinungsebene gehalten. Die Kantische Philosophie „betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes“ (ebd.).

Hegel faßt das Bewußtsein als eine Gestalt des subjektiven Geistes, das sich auf objektiven Geist bezieht.

In einer knappen Notiz von Marx, die überschrieben ist: Hegelsche Konstruktion der Phänomenologie, heißt es: „1. Selbstbewußtsein statt des Menschen. Subjekt-Objekt. 2. Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung … gefaßt wird. … 3. Aufhebung der Entfremdung identifiziert mit Aufhebung der Gegenständlichkeit … 4. Deine Aufhebung des vorgestellten Gegenstandes … identifiziert mit der … realen Tätigkeit …“ (MEW 3, 536).Diese Kritik ist ebenso treffend wie später immer wieder auf neue Weise aktuell angesichts bestimmter Entwicklungen im Marxismus. Lukacs‘ Generationen-faszinierender, immer wieder die Stichworte gebender Text von 1923, Geschichte und Klassenbewußtsein, der nicht nur die Frankfurter Schule mitgeprägt hat, fällt genau unter diese Kritik. Rückblickend kritisiert Lukacs 1967 diese Schrift: „ihre letzte philosophische Grundlage“, sagt er, „bildet das im Geschichtsprozeß sich realisierende identische Subjekt-Objekt.“ (Werke 2, 24 f.). Das Proletariat auf die Position des Subjekt-Objekts einzusetzen sei „ein Überhegeln Hegels“ (25).Den Hauptfehler sieht Lukacs darin, daß er die Vergegenständlichung des Subjekts mit seiner Entfremdung gleichsetzte. Er hätte weitergehen müssen. Sein Grund-Rückfall hinter das von Marx erreichte Niveau bestand darin, daß er – näher bei Dilthey – nach dem Subjekt-Objektivations-Muster dachte. Dieses Ausdrucksdenken drückt ein spontanes Selbstbild der interpretierenden und gestaltenden Berufe aus. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird so die „Zirkulation“ des Geistes gedacht: Hervorgehen aus dem Subjekt in die Objektivation oder Entäußerung – Re-Interiorisierung ins Subjekt als Verstehen. Dieses Muster wirkte auch unter Marxisten weiter. Ja, es wurde zum Artikulationsmuster revolutionärer Hoffnungen. Die Revolution wurde von den revolutionären Hermeneuten gedacht wie ein hermeneutischer Akt: als das endgültige Verstehen. ||68| Freilich gibt es auch in diesem Rahmen wieder große Unterschiede. Während die einen in der Subjekt-Objekt-Vermittlung das Entscheidende sehen, träumen die andern von der Abschaffung der Objektivität. Für Bloch galt der Kommunismus als „Entäußerung der Entäußerung“, „Objektivwerdung der Subjekte, Subjektvermittlung der Objekte“. (3) Dem jungen Oscar Negt bedeutete dieselbe Perspektive die Auflösung aller dem Subjekt gegen über selbständigen Objektivität.

Nicht anders äußerte sich gelegentlich der junge Marx, der sozusagen vormarxistische. In den Gründungsdokumenten der neuen Auffassung von Marx dagegen wird ein mehrfacher Bruch vollzogen: mit Feuerbach und mit Hegel. Vor allem aber wird von Anfang an eine historisch-materialistische Skizze gegeben, welche die gesellschaftliche Position der Philosophie als solcher aufweist, ihren Raum im Gefüge von Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und den großen ideologischen Institutionen, allen voran der Staat. In dieser komplexen Struktur sieht er die den ideologischen Mächten wie Recht, Religion, Philosophie etc. eingeräumten Positionen derart bestimmt, daß sie spontan einem strukturellen Idealismus verfallen. Die Regelung der gesellschaftlichen Dinge wird aus Ideen oder Idealen, aus der Heiligen Schrift oder dem Code Napoleon abgeleitet. Insofern scheint die Gesellschaft Kopf zu stehen. Die Ursachen der ideologischen Formen liegen aber in der realen Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens. Oder die ideologische Verkehrung, ihr Imaginäres, ist auch real.

„Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebens­prozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf ihrer Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“ (MEW 3, 26)

Auch die ideologischen Mächte mit ihren Praxen und Formen gehören zum wirklichen Lebensprozeß im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. So sehr wie Staat und Justiz, Schule und Psychiatrie Mächte des wirklichen Lebens sind, so sehr gehören die von ihnen unterhaltenen Formen des Imaginären zur „Sprache des wirklichen Lebens“. Nur wenn man sie abstrakt als „Bewußtsein“ faßt, entsteht die Einbildung zweiten Grades, daß hier autonome Ideen herrschen. Diese Einbildung kann sich überlagern mit der spontanen Ideologie der Ideologen, in der diese abbilden und idealisieren, was sie tatsächlich tun. Marx bringt das Beispiel vom Richter, der das Gesetzbuch vom Geist des Gesetzes her auslegt und auf die Gesellschaft anwendet, wenn sein Urteil auf deren individuelle Mitglieder niederfällt. ||69|

Das Beispiel – wie viele andere – soll zeigen, wie ein durchaus „äußeres“ Arrangement im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ derartige Innen-Außen-Praxen und ihre Ideologien generiert. „Historischer Materialismus“ wird zum Losungswort der Kritik solcher Ideologien (inklusive der des „abstrakten Spiritualismus der Materie“). Doch nicht nur auf dem Feld der Geschichte mußte Marx gegen solche Ideologien angehen. Sie hielten auch das Feld des Redens über Arbeit besetzt. Hier gilt das Produkt als Vergegenständlichung des Arbeitersubjekts. Marx fuhr mit wahrem Furioso dazwischen. Allein die Bourgeoisie hat Interesse daran, ein derartiges imaginäres Subjekt der Arbeit aufzubauen und „der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten“ und die Naturgrundlage der Produktivkräfte wie allen materiellen Reichtums zu unterschlagen.

„Denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, … der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben.“ (MEW 19, 15)

Der Lohnarbeiter könnte sich allenfalls als „Subjekt“ einer „gespenstigen Wertgallerte“ ansehen. Wie im letzten Beispiel und in den weiter oben zitierten Auffassungen die Natur weggedacht wird, so schlägt das Denken im Subjekt-Objektivations-Schema das ganze Multiversum des gesellschaftlichen Lebens ins Einerlei. Welche politische Praxis dem entsprechen könnte, sollte man sich rechtzeitig klarmachen.

Wie recht hatte Marx mit seiner Hegel-Kritik: „Die Unterschiede der Sachen unwichtig, weil die Substanz als Selbstunterscheidung gefasst … wird.“

Verfolgen wir einige der Unterschiede auf dem Feld des Subjekt-Diskurses selbst. Denn zur Stärke der Subjektideologie trägt bei, daß die unterschiedlichen „Subjekt“-Bedeutungen miteinander verzurrt sind. Wir beginnen mit dem grammatikalischen Subjekt. Spontan ist man geneigt, das grammatikalische Subjekt mit dem logischen Subjekt zu verwechseln, bzw. beide für identisch zu halten; womöglich wirft man sie überdies noch mit dem Subjekt einer Handlung zusammen. Das mag einen ersten Eindruck vom Äquivokationsproblem der Rede vom Subjekt geben. Der Status eines grammatikalischen Subjekts verdankt sich der Positionierung in einer propositionalen Form. Lalande bringt als Beispiel folgende Proposition: „Nichts ist schön als das Wahre allein.“ Dazu: 1) Es geht um keine Handlung (allenfalls mag man die Aussage als propositionalen Akt auffassen, ||70| dessen Subjekt indes nicht erscheint). 2) Das grammatikalische Subjekt („Wer oder was?“) ist: „Nichts“. 3) Das logische Subjekt ist „das Wahre“. 4) Das Beispiel weist nicht einmal ein Real-„Subjekt“ im aristotelischen Sinn (ousía próte), auf, d.h. ein real-existent zugrundeliegendes, notwendigerweise immer individuelles Sein, das Handlungen produziert oder der Sitz der ausgesagten Bestimmungen ist …

Wir wechseln über ins juristische Feld mit seinem Subjekt. Zum Einstieg soll ein Bundesgerichtsurteil dienen. Dabei geht es um Peep-Shows. 1982 wurden sie in der Bundesrepublik für ungesetzlich erklärt – und zwar in spezifischer Differenz zum Striptease. Das Verbot des einen und die Freigabe des andern Phänomens wurde mit Begriffen des Subjekt/Objekt-Schemas artikuliert. In der Peep-Show würde der Frau eine „objekthafte Rolle“ zugewiesen, in der sie „als bloßes Anregungsobjekt zur Befriedigung sexueller Interessen angeboten werde“ (FAZ, 15.2.82: „Die Frau soll nicht ein Objekt sein“).Aber trifft dies nicht auch auf den Striptease zu? Nein, hier sahen die Richter grundlegende Unterschiede: 1) das Publikum wird „vor ihr wahrgenommen“; 2) sie „bewege sich in einem Rahmen, der in der Tradition der herkömmlichen Bühnen- oder Tanzschau“ bleibe; 3) dieser Rahmen lasse „nach dem hier maßgeblichen regelmäßigen Erscheinungsbild die personale Subjektsituation der Darstellerin unberührt“ (Aktenzeichen BVerwg 1 C 232.79).

Das Beispiel zeigt: das „personale Subjekt“ ist (zumindest auch) eine institutionalisierte Form und als solche allgemeines Rechtsgut unserer Rechtsordnung. Die Sklaverei ist verboten. Die Individualform „personales Subjekt“ ist nicht nur schutzwürdig, sondern sie ist Pflicht; kein Individuum besitzt, juristisch gesehen, die Kompetenz, diesen Status zu veräußern. Wir erinnern uns, daß auch die Kirche mit ihren Formen und mit denselben Begriffen energisch dafür eintritt. Der gegenwärtige Papst hat in seiner Sexualethik die Artikulationsform des personalen Subjekts weiter ausgearbeitet. „Person“, woran das „Subjekt“ hängt, fungiert als zentraler Artikulator in seiner Moraltheologie. Dies alles deutet darauf hin; daß wir es hier mit einer Form des von den übergeordneten Institutionen (Recht, Religion, aber bei näherer Untersuchung wird sich die Liste verlängern) in Pflicht genommenen Individuums zu tun haben.

Dem gewöhnlichen Bewußtsein entgeht diese Tatsache, daß das, was ihm als Privatform gilt, nichts Privates ist, sondern Rechtsgut und Theologie in einem. Im Krisenfall (Konflikt in der und vor allem Verstoß gegen die Ordnung) tritt dies so schlagend hervor wie eine Verhaftung. Dann ||71| bedarf es des Personalpapiers zwecks Identifikation des Subjekts einer Untat. Ihr Subjektsein heißt, daß sie einem zurechenbar ist, sofern man im Augenblick ihres Vollzugs zurechnungsfähig war. Das Subjekt begegnet hier als das aristotelische Realsubjekt der Justiz: als das, woran (oder an dessen Eigentum) man sich halten kann. Auch das ist dem gesunden Menschenverstand sonnenklar, gilt ihm als selbstverständliche Naturform. Wir müssen uns also nach Beispielen umsehen, die diese Selbstverständlichkeit erschüttern. Auf den Flugblättern steht z. B. in der Regel ein Name mit dem Zusatz: „Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes“. Es ist nicht nötig, daß der Betreffende den Text inhaltlich verantwortet oder auch nur kennt, umgangssprachlich gesprochen. Der Justiz genügt es, jemanden zu haben, an den sie sich im Zweifelsfall halten kann. Es gab einmal eine Zeit in Deutschland, als die linken Organe Scheinredakteure angestellt hatten und im Impressum führten, die im Falle der häufig von Amts wegen angestrengten Majestätsbeleidigungsverfahren stellvertretend die Haft absitzen mußten, sogenannte „Sitzredakteure“. Sie sind juristische Subjekte, und das wirft ein Licht darauf, daß vielleicht „das Subjekt“ ganz allgemein auch ein Sitzredakteur der Verhältnisse ist.

Eine erhöhte Erkenntnischance bieten auch die Übergänge zwischen Mündigkeit und Unmündigkeit, die rituelle Passage über die Un-/Mündigkeitsgrenze. Überhaupt müssen wir die Vormund-Mündel-Verhältnisse hinzunehmen, um die naive Metaphysik des Alltags zu erschüttern. Wenn wir so weiterfragen, fächert sich uns die Frage nach dem Subjekt auf in Fragen der Schulpflicht & Erziehungsberechtigung, der Status des Zöglings muß in seiner Beziehung zum Subjektstatus untersucht werden; Vertrags- und Schuldfähigkeit(en) aller Art geraten in den Blick; die Heiratsfähigkeit, das Wahlrecht usw. Wir lernen daraus: Weder ist ein Individuum notwendig ein Rechtssubjekt, noch ein Rechtssubjekt notwendig ein Individuum (z.B. die Psychiatrische Anstalt, in die ein unzurechnungsfähiges Individuum eingeliefert wurde, tritt als Rechtssubjekt auf).

Ein Rechtssubjekt ist positiv der Besitzer eines Rechts (was hier gleich Macht ist) zur Befriedigung eines Interesses. Personen (als Rechtssubjekte betrachtet) sind nicht konkrete Individuen, sondern gelten „als Aktoren des sozialen Lebens in einer bestimmten Beziehung“ (Colin & Capitant, vol. I, p. 101). Die juristische Person hebt folgerichtig vollends ab vom Individuum. Für unsern Zweck genügt es, drei qualitativ heterogene Gruppen von Rechtssubjektivi-||72|täten zu unterscheiden, die in der Kategorie des Subjekts gebündelt sind und einander überdeterminieren: 1) Das zivilrechtliche Subjekt, bei dem es im wesentlichen um Übertragung von Eigentumsrechten in Form von Verträgen geht; eine besondere Untergruppe ist das Subjekt von Schulden. 2) Schuld in der Einzahl ist eine Zentralkategorie des Strafrechts, dessen Subjekt der Täter der kriminellen Tat ist. 3) Das verfassungsrechtliche Subjekt ist der Staatsbürger, mit Rechten und Pflichten eingeschrieben in den Staat, gegen dessen Verfassungsorgane in bestimmter Weise abgegrenzt und ihnen zugleich unterstellt. Wir sehen: Allein schon das Rechtssubjekt ist ein Kreuzungspunkt von Beziehungen in einem mehrdimensionalen juristischen Universum. Und darüber hinaus ist dieses Gefüge seinerseits verfugt oder verknüpft mit einem komplexen Netzwerk von Institutionen, die sich wechselseitig als Zulieferanten und Abnehmer begegnen. Das einzelne „Subjekt“ zeigt sich nun als der Knoten punkt vieler Linien im Individuum oder als juristische Person (etwa eine Aktiengesellschaft oder eine politische Partei). Als Subjekt-Dispositiv taucht auf der Staat, die politisch rechtliche Gestalt der Produktionsverhältnisse.

Was für ein Quid pro quo in ein- und derselben Kategorie: Subjekt – ist nicht mehr der Brenn- und Mittelpunkt des Subjektiven, Innersten, Eigensten, Individuellsten, dessen, was wir je selbst sind, was sich selbst das nächste ist, dieser Verbindung aus Interesse und Gefühl. Ist es die Staats- und Rechtsform des Individuums (oder kollektiver Aktoren)? Wäre es zudem entscheidend geprägt durch bürgerliche Besitzverhältnisse? Wäre Subjekt am Ende das in den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen festgehaltene Individuum?

Lassen wir uns für einen Augenblick erschüttern! Flüchten wir in die frühklassische Fassung der Kritischen Psychologie, d.h. zu Klaus Holzkamps „Sinnlicher Erkenntnis“ von 1973! Dort treffen wir auf einen Satz von Begriffen, der um die Artikulation von Individuum, Handeln, Fähigkeiten, Lebensbedingungen, Gesellschaft usw. gruppiert ist (vgl. dazu Haug 1983, 38-42). Zielbegriff ist das gesellschaftlich handlungsfähige Individuum. Seine Handlungsfähigkeit wird begriffen als Teilnahme an der Kontrolle seiner gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Sind wir hier vor der juristischen Ideologie sicher? Nein, nicht ohne weiteres. Betrachten wir das Element Handlungsfähigkeit (HF), finden wir das Recht schon wieder zur Stelle. Die juristische Besetzung dieser Stelle lautet etwa: „Unter HF ist die Möglichkeit zu verstehen, durch eigenes verantwortliches Handeln Rechts-||73|wirkungen hervorzurufen … Die Rechtslehre gliedert die HF … in die Geschäftsfähigkeit …, in die Deliktfähigkeit … und in die Verschuldensfähigkeit … Fehlt die HF (insbesondere bei Minderjährigen), so steht diese regelmäßig einem gesetzlichen Vertreter zu … Dagegen besteht heute keine Beschränkung der HF einer Frau, insbes. einer Ehefrau mehr …“ (Creifelds 1973, 543). Die Kritische Psychologie muß derartige institutionelle Handlungsbedingungen (die sich in bestimmter Hinsicht als ideologische In-/Kompetenz-Verhältnisse denken lassen) in Theorie und Praxis berücksichtigen und darauf achten, daß ihr Begriff von Handlungsfähigkeit nicht mit dem juristischen verfließt.

Sollten Psychologen sich im rechtsfreien Raum fühlen, müßten sie zumindest sehen, daß dieser Raum Wände hat und daß diese Wände juristisch konstruiert sind. Geht man nur einen Schritt weiter, wird man darauf aufmerksam, daß auch der Raum der Psychologie keine völlig schwarze, abgedunkelte Kammer ist; sondern wie die Camera obscura ihre Einlaß-Stellen mit dem Effekt einer bestimmten Kodierung des Eingelassenen hat. Die Um-Verhältnisse projizieren ihre Effekte in diesen Raum – mit der nötigen Verkehrung und Imaginarität, versteht sich. Was für die Psychologie, gilt auch für das Psychische, Um das zu verstehen, muß man sich die Art und Weise ansehen, in der das Individuum in die Ordnung eingelassen ist. Auch das Individuum ist institutionell vielfach „eingeräumt“. Es ist „erwartet“ von Positionen. Die beruflich-erwerbsmäßige ist nur eine aus einer Pluralität von Positionierungen ökonomischer, politisch-juristischer, religiöser etc. Art. Das Individuum ist immer selbsttätig in diesen Formen, seines Un-/Glückes Schmied – solange es kein „Sozialfall“ ist, Selbsttätigkeit und plurale institutionelle Konstituiertheit von oben verdichten sich im -Subjekt.

Die ideologischen Mächte sind bestrebt, das Individuum durchzuformen. Ihre spezifischen Kompetenzen – für die Rechtmäßigkeit, das Seelenheil, den Geschmack, den Körper, etc. – reflektieren sich als innere Gliederung des Individuums. Daß diese Gliederung und ihre Bestimmungen von innen nach außen gelebt werden und daß ihr Innerstes, wo sie alle zusammenlaufen, aber imaginär entquellen, das Subjekt ist, besitzt die gesellschaftliche Gültigkeit einer objektiven Gedankenform, Wie wir von Marx gelernt haben, daß der ideologische Grundfehler der bürgerlichen Wirtschaftstheorie darin besteht, daß sie die objektiven Gedankenformen des kapitalistischen Alltags ohne weitere Kritik aufgreift und zu ihren Begriffen macht, so werden wir verste-||74|hen, daß Entsprechendes für die Subjekt-Kategorie gilt. Bei Freud, der die innere Topographie aufgenommen hat, finden sich allenfalls metaphorische Bezüge zu den Mächten, die sich Stützpunkte im Individuum einrichten. So etwa, wenn er die „religiöse Neurose“ mit einem „Staat im Staat“ vergleicht.

Das Stabilitätsgeheimnis der Subjektkategorie ist ihre Überdeterminierung, die Tatsache, daß durch diesen Knotenpunkt so viele unterschiedliche Linien laufen. Sloterdijk erklärt: „… was in der Neuzeit Subjekt heißt, ist in Wahrheit jenes Selbsterhaltungs-Ich“ (650). Das ist eine reduktionistische Verabsolutierung einer von vielen Schalen des Subjekts. (4) Und wie die Zwiebel zwar sieben Häute, aber keinen Kern besitzt, so existiert das Subjekt nur als eine Folge von Schalen. Das Innerste ist – – nur ein spekulativer Reflex dieser Schalen, ihr metaphysischer Überbau-nach-innen, ansonsten leer.

Um nicht zurückzufallen in die alte Subjektphilosophie muß die Subjektwissenschaft die Kategorie Subjekt einer entsprechend radikalen Kritik unterziehen, wie Marx dies mit den Kategorien der politischen Okonomie gemacht hat. In der Sache entspricht dem: SUBJEKT darf nicht im metaphysischen Singular bleiben. „Das Subjekt“ gibt es nicht. Zu analysieren sind Subjekte, im Plural. Nicht einmal das einzelne Individuum, jeder von uns für sich selbst, erfährt sich als „DAS SUBJEKT“. Schon gar nicht darf, wie Marx an Hegel kritisierte, der Staat „versubjektivirt“ werden, während man „die wirklichen Subjekte“, wie Marx sagt, zu „anderes bedeutenden … Momenten“ macht. (MEGA 1.2 8; MEW 3, 206)

Vor allem aber müssen die Subjekte als sozial konstituierte begriffen bzw. untersucht werden. Ihre Konstitution ist ein elementarer Erkenntnisgegenstand einer im historisch-materialistischen Sinn Kritischen Psychologie und zuvor ihrer sozialtheoretischen und historischen Fundierung. Würden sie hingegen nicht in ihrer Konstitution analysiert, sondern als selber konstituierende gesetzt, fiele die Psychologie wieder in die alte, kritizistische Position des Kantianismus zurück.

Würde sie aber statt dessen die Wende zu Hegel wiederholen, Subjekt und Objekt aus ihrer Entgegengesetztheit herausholen und in eine einzige Bewegung werfen, in der das Objektive als Objektivation des Subjekts erscheint, fiele sie aus dem ideologischen Regen in die ideologische Traufe. ||75|

Vorgeschlagen sei, die Rede von „Subjektivität“ oder vom „Subjektiven“ sorgsam zu unterscheiden von der Rede vom „Subjekt“.

Die Kategorie „Subjektivität“ artikuliert ein ganzes Feld von Bedeutungen. ohne notwendig ein einheitliches, immer schon gegebenes Sein zu unterstellen, dessen bloße Erscheinungsformen sie mithin wären. Der Begriff faßt dann die Formen zusammen. in denen die wirklichen, vergänglichen Individuen sich selbst betätigen und erfahren bzw. selbst fremde Einwirkung oder den Druck der Verhältnisse erleiden. Wer wir aber wirklich sind oder werden, wie wir unser Leben leben, was wir lernen, wie wir uns organisieren, was und wie wir arbeiten, wie wir die Widersprüche unserer Lage verarbeiten, wie wir uns äußern, verständigen, was wir verdrängen, wo wir uns anpassen, wo wir Widerstand leisten usw. usf. -kurz, welche Handlungsfähigkeiten wir entwickeln, individuelle, kollektive, private oder gemeinschaftliche, mit welchen Restriktionen, welchem Verhältnis kurzfristiger und langfristiger Handlungschancen usw., dies alles stellt einen vielgestaltigen Prozeß dar, ein widersprüchliches Feld von unterschiedlich realisierten Handlungsmöglichkeiten, mit Konflikten und Verdrängungen, Freiräumen und Zwängen und vielen offenen, in absehbarer Zeit quälend unlösbaren Fragen.

Die Kritische Psychologie im neuen, historisch-materialistischen Sinn, muß diese Prozesse und Verhältnisse mit ihren Formen fassen können. Sie hat kein fertiges Subjekt und keine allgemeine Struktur vorzuweisen, zu denen sie die Individuen nur hinzuführen hätte, damit sie an ihnen gesunden.

Sie ist darin zu messen, wie sie die gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit der Individuen selbst fördern kann. Der unkritische Gebrauch der Subjektkategorie würde an dieser entscheidenden Stelle die Unterschiede, auf die es im individuellen Leben wie in der politischen Praxis vor allem ankommt, verwischen.

Die Subjektkategorie ist hingegen unentbehrlich für eine kritische Analyse der ideologische Mächte. „Das Subjekt“ – das ist in der Realität unserer Gesellschaft eine vielfach determinierte objektive Gedankenform, weil Praxisform, genauer: Form institutionalisierter ideologischer Praxen, allen voran und in allen andern unvermutet immer wieder durchschlagend die juristische Ideologie. Ist sie Ideologie, so ist sie nichtsdestoweniger real.

Viele der Formen und Gestalten, mit denen wir es zu tun haben, sind juristisch überformt. Auch ein Konzept ||76| wie Handlungsfähigkeit ist, wie wir gesehen haben, schon von der Justiz besetzt. Man muß sich vorsehen. „Volle gesellschaftliche Handlungsfähigkeit“ z.B., ein Konzept, das durch einige Texte der kritischen Psychologie spukt, ergibt in ihr, wo sie sich nicht selbst entfremdet, keinen Sinn. Die Aneignung und Weiterentwicklung des Sozialerbes, zumal unter antagonistischen Verhältnissen, ist ein unabschließbarer Prozeß, zudem einer, der, wie Sève gezeigt hat, desto mehr Mannigfaltigkeit der individuellen Unterschiede ermöglicht, je höher das gesellschaftliche Entwicklungsniveau ist. Kein Individuum kann je das Ganze sich zueigen machen. Mehr als alles andere wäre dieses personifizierte Ganze, mit Marx zu reden, „eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte“ (MEW 3, 27).Wobei freilich nicht unterschätzt werden soll die Macht imaginärer Aktionen imaginärer Subjekte. So kritisierte schon Marx die Artikulationsweise der staatlichen Ideologie bei Hegel: „Die Idee wird versubjektivirt und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginaire Thätigkeit gefasst. … Sie sind die eigentlich thätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt.“ (MEGA, 1.2, 8; MEW 3, 206). Diese Umkehrung, sei sie auch imaginär, ist nichtsdestoweniger real. Die Kritische Psychologie beginnt, wo sie die Effekte dieser ideologischen Verhältnisse kritisiert und praktische Anstrengungen orientiert, die Vergesellschaftung von oben zurückzudrängen zugunsten der unterschiedlichen politischen, kulturellen und sonstigen sozialen Formen der Selbstvergesellschaftung von unten.

Entscheidend ist ein analytisches Instrumentarium, das erlaubt, die unterschiedlichen Formen, Bedingungen und Probleme individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit, sozialer, kultureller, auch gedanklich-theoretischer und politischer Handlungsfähigkeit zu begreifen, auseinanderzuhalten, ihre unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten und Problematiken zu begreifen und überall die Effekte der herrschenden Ideologie aufzudecken und zurückzudrängen. Dazu muß an der hierarchischen Verteilung der Kompetenzen gerüttelt werden. Es gilt anzugehen gegen jede strukturelle Passivierung der Individuen, aus denen schließlich die berühmten Massen, auf deren Kräfte es in der Geschichte ankommt, sich zusammensetzen. Die Klassenherrschaft und die herrschende Ideologie hängen darüber zusammen, daß und wie sie die Kompetenzen in der gesellschaftlichen Handlungsstruktur aufteilen. Jede Konzentration spezifischer Kompetenzen erzeugt um sich herum Räume der Kompetenz-||77|verdünnung oder des Kompetenzentzugs. Diese Umgebung der Kompetenz durch Inkompetenz nimmt eine andere Bedeutung an je nach Bereich – ob Privatunternehmen oder Justiz oder Kirche oder Politik oder Psychiatrie usw. – und je nach Klassenlage und Status – ob Lohnarbeiter oder Selbständiger usw., ob Laie oder Priester Jurist, Arzt, Politiker usw. – Je nach Stellung und Mobilität im „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nimmt die Kompetenz/Inkompetenz-Struktur eine andere Bedeutung an für die jeweiligen Individuen. Nie aber ist das Verhältnis nur eine Einbahnstraße der Macht, auch nicht für die Mächtigsten. Zwar entzieht die Anhäufung und institutionelle Sicherung von Kompetenz dieselbe allen außerhalb der Grenzen der jeweiligen Institution gelegnen Gebieten. Aber keine Institution ist allein auf der Welt, und aus den andern Institutionen wird mit gleicher Münze gezahlt. Vom faschistischen Staat, insbesondere von seinem „Führer“, ist gesagt worden, er habe die „Kompetenz-Kompetenz“ beansprucht – und das ist gewiß nicht von der Hand zu weisen. Aber selbst in diesem Extremfall blieb der Anspruch auf Kompetenz-Kompetenz (d.h. auf die grenzenlose Zuständigkeit, über Kompetenzen zu verfügen, ohne selber durch irgendeine Kompetenzgrenze eingeschränkt zu sein) eine Imagination der Allmacht. Ökonomisch blieben die Kapitalkompetenzen weithin unangetastet, wurden sogar teilweise entgrenzt. Auf den meisten ideologischen Gebieten resultierte die Macht der Nazis aus einer beachtlichen hegemonialen Fähigkeit, rechtspopulistische Kompromisse auszubilden. Und auf kirchlichem Gebiet erlitt der deutsche Faschismus mehrere lehrreiche partielle Niederlagen beim Versuch, die ideologischen Kompetenzen anzutasten (vgl. die Untersuchung von Rehmann).

Jede spezifische ideologische Kompetenz ist im doppelten Sinn von Inkompetenzen umgrenzt. Die Priester jeder dieser symbolischen Herrschaftsordnungen machen alle andern zu Laien. Aber da sind immer auch andere Ordnungen, die ihnen: auf ihrer Ebene nichts schuldig bleiben. So ist selbst jede Kompetenzanhäufung von vielfachem Kompetenzentzug umgrenzt. Wieviel mehr gilt dies auf den unteren Rängen der Gesellschaft. Hier erfährt man sich von allen höheren Mächten zur Ordnung gerufen. Das Sub- in „Subjekt“ erhält seine Bedeutung wie das Unten in „Unterdrückung“ und „Unterwerfung“. Beim Militär, sagte Hegel, „kann der Soldat geprügelt werden, er ist also eine Kanaille. So gilt der gemeine Soldat dem Offizier für das Abstraktum eines prügelbaren Subjekts, mit dem ein Herr, der Uniform ||78| und Portepee hat, sich abgeben muß, und das ist, um sich dem Teufel zu ergeben.“ In Haseks Schwejk und zuvor in Büchners Woyzeck werden die Unterworfenen, dieses letzte Subjekt, gestaltet. Büchner verfährt nach dem Lehrbuch der Psychiatrie. „Das hypnotisierte Subjekt“, heißt es bei Ribot, Maladies de la personnalite, „macht man nacheinander glauben, es sei eine Bäurin, eine Schauspielerin, ein General, ein Erzbischof …“ (131; z.n. Lalande, Sujet). Durch Gewalt und Imagination produziert sich die Ordnung. Die Individuen erscheinen als die der Ordnung zugrundeliegende Plastik, Zugerichtete und, wenn sie keinen Widerstand leisten, Zugrundegerichtete. Der plebejische Blick, wie ihn Hasek und Brecht literarisch gestaltet haben, wie er aber vielgestaltig in jedem Volk, in jeder Generation immer wieder aufs Neue sich ausbildet, bringt das Unmögliche zustande, von unten auf die Oberen herabzublicken. Freilich ist es so einfach nicht, und Oben/Unten ist nur ein vereinfachender Nenner, auf den man alle Kompetenz/Inkompetenz-Verhältnisse gebracht hat. Das ist eine Formel des Widerstands, der Ob-jektion gegen das Subjekt der Herrschaft, keine zureichende Formel der wirksamen Zurückdrängung oder gar des Sturzes von Herrschaft.

Betrachten wir noch einmal – auf unserm zugestandenermaßen abstrakten Niveau – das Problem: Die Kompetenz in der umfassenden Inkompetenz – das ist die allgemeinste ideologische Individualitätsform. Sie erhält in den bürgerlichen Gesellschaften ihre – je nach Entwicklungsstand, kulturellen Formen, demokratischen versus obrigkeitsstaatlichen Traditionen, Kräfteverhältnissen im Klassenkampf und politischer Regierungsform etc. abgewandelte – Spezifik. Diese allgemeinste ideologische Individualitätsform ist indes, die revolutionären Hoffnungen von 1917 enttäuschend, nicht auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Den schärfsten, schmerzlichsten, dabei poetischsten Ausdruck haben nicht grundlos Dichter aus sozialistischen Ländern der Problematik gegeben. Ich erwähne nur Tschingis Aitmatow. Sein 1982 in der DDR veröffentlichter Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ sollte ihm eine Professur honoris causae in Kritischer Psychologie und Philosophie zugleich einbringen. Er führt dort die mythische Gestalt des Mankurt ein, des Individuums, das in eine staatliche Zwangshaut gesteckt ist, die sich unwiderstehlich zuzieht, ihm jegliche Erinnerung auspreßt und jede Fähigkeit zum Widerstand erdrückt und es wahrhaft zum bloßen Staatssubjekt komprimiert. Und eine zweite Erfindung aus diesem Buch verdient, weiterberichtet zu werden. Wo es zum Konflikt kommt zwischen ||79| hierarchischer Struktur und der Kultur der einfachen Menschen, da redet der Vertreter der Staatsmacht den Arbeiter Edige folgendermaßen an: „Ich erkläre Ihnen noch einmal, Genosse Unbefugter, hier hat keiner Zutritt.“ (368) Die Botschaft Aitmatows ist die: die Unbefugtheit der großen Mehrzahl für die Fragen der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit, unserer Vergesellschaftung, wenn man so will, wird zu einem Unfug, der die Menschheit an den Rand ihres Untergangs geführt hat. Die „Genossen Unbefugten“ müssen sich Zutritt verschaffen zu den Prozessen der Vergesellschaftung, der Produktion wie der Geschlechterverhältnisse, des Mensch-Natur-Verhältnisses wie der Hochrüstungspolitik beider Blöcke.

Die Kritische Psychologie wird ihre Rolle spielen in den Anstrengungen zur Wiedereroberung der „Kompetenzen“. Freilich wird sie alle List und Umsicht brauchen, um nicht in die Falle der Psy-Kompetenz zu gehen, die jenen Psy-Markt unterhält, dessen Gefüge und Geschiebe Francoise und Robert Castel so erhellend analysiert haben. Nirgendwo macht die Subjektivität mehr von sich reden, als wo sie zur restringierten Psycho-Betroffenheit geworden ist, zum für sich selbst unzuständig gemachten Innern. Die Logik dieses Kompetenzentzugs ist. verflixt eingängig. Sie ordnet Handlungen und Situationen so an, daß sie sich von innen nach außen erklären. Damit bewegen sie sich auf der Spur des allgemeinsten ideologischen Subjekteffekts, der eben darin besteht, daß das Individuum für sich sein „Schicksal“ nach innen nimmt und die Verhältnisse von innen nach außen lebt und verantwortet. Natürlich wird so jedes Einzelleben zu einer imaginären Aktion eines imaginären Subjekts, und die Unkosten und der Druck auf die solcherart überdeterminierte „Psyche“ sind außerordentlich. Diese imaginäre Überzuständigkeit des Innern schlägt notwendig um in Unzuständigkeit fürs Innerste. Hier springen die Anbieter auf den Psy-Märkten ein. Die Kritische Psychologie muß die Kritik dieser Art sekundärer Ausbeutung der Subjekt-Effekte zu einer ihrer Aufgaben machen, nicht vor allem in der Theorie, sondern in ihrer Praxis der Förderung der Kompetenzaneignung und gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit der „Genossen Unbefugten“. ||80|

Anmerkungen

* (Vieles von dem, was im folgenden nur gestreift werden kann, ist ausführlich entwickelt und belegt in der „Camera obscura des Bewußtseins“ (Haug 1984).)

  1. Um zu verstehen, daß „Subjektivität“ nicht einfach eine semantische Gegebenheit, sondern ein sich wandelnder und umkämpfter diskursiver Prozeß ist, muß man nur Karen Ruoffs „Rückblick auf die Wende zur ‚Neuen Subjektivität'“ (1983) lesen.
  2. Selbst „Objektivität“ als beschwörender Ausdruck subjektunabhängiger Verläßlichkeit schillert ins Gegenteil hinüber. Das „Objektiv“ ist 1) das Einfallstor des Lichts in die Camera obscura und die optische Determinante des Lichts; 2) das Ziel, in der Militärsprache der „point vers lequel on dirige son attaque“ (Littre). Kurz, das Objektiv konstituiert das Objektive.
  3. Mithilfe eines Stalinzitats verdächtigt Bloch damals noch die Hegelkritiker als Anarchisten. Indem die Anarchisten gegen den konservativen Hegel wettern, „wollen (sie) die dialektische Methode widerlegen“ (Stalin), zit. b. Bloch 1952, 49). Im Kontext wendet sich Bloch gegen die „Unterschätzer des klassischen deutschen Kulturerbes“ (ebd.).
  4. Andrerseits reduziert sich für Sloterdijk das Subjektive auf eine Funktion der auf Informationsverarbeitung beruhenden Steuerungsautomatik. Die computerisierten, mit flexiblen Orientierungssystemen ausgestatteten Flugkörper verhalten sich in seiner Sicht „zum gegnerischen Ziel ’subjektiv'“ (650).

Literatur

Aitmatow, T. (1982): Der Tag zieht den Jahrhundertweg. Berlin/DDR.

Bloch, E. (1952): Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin/DDR und Weimar.

Castel, F.; R. Castel; A. Lovell (1982): Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Frankfurt/M.

Colin; Capitant: Cours elementaires de droit francais. 2e edition.

Creifelds, C., u.a.: Rechtswörterbuch. München. 3. Aufl. 1973.

Haug, F. (1983): Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch, in: Argument 141, 653-73. ||81|

Haug, W. F. (1983): Hält das ideologische Subjekt Einzug in die Kritische Psychologie? in: Forum Kritische Psychologie 11 (=AS 93: Argument-Sonderband), 24-55.

– (1984): Die Camera obscura des Bewußtseins. Zur Kritik der Subjekt-Objekt-Artikulation im Marxismus. In: Projekt Ideologie-Theorie 1984, 9-95.

Hobbes, Th.: Leviathan (1651). Zit.n.: W. Molesworth (Ed.), The English Works of Thomas Hobbes …, London 1839, Vol. VIII.

Lalande, A. (Hg.) (1968): Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Paris.

Lektorski, W.A. (1968): Das Subjekt-Objekt-Problem in der klassischen und modernen bürgerlichen Philosophie. Berlin/DDR.

Oelßner, F. (1959): Die Rolle der Staatsmacht beim Aufbau des Sozialismus, in: Probleme der politischen Ökonomie. Jahrbuch des Instituts für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 2, Berlin/DDR.

Projekt Ideologie-Theorie (1984): Die Camera obscura der Ideologie. Philosophie/Ökonomie/ Wissenschaft. Drei Bereichsstudien von Stuart Hall, Wolfgang Fritz Haug und Veikko Pietilä (= AS 70: Argument-Sonderband).WestBerlin.

Rehmann, J.C.: Staat und Kirchen im Dritten Reich. Ursachen und Formen ihrer Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, in: Ideologische Mächte im deutschen Faschismus, Argument-Sonderband AS 80 (in Druck).

Ruoff, K. (1983): Rückblick auf die Wende zur Neuen Subjektivität, in: Argument 142, 802-820.

Sloterdijk, P. (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/M.

Steil, A. (1984): Die imaginäre Revolte. Untersuchungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger. Marburg.

Wagner, H. (1976): Recht als Widerspiegelung und Handlungsinstrument. Beitrag zu einer materialistischen Rechtstheorie. Köln.

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Phänomenologische Analytik und experimentelle Methodik in der Psychologie – das Problem der Vermittlung

Gundsatzreferat beim 3. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, Marburg 1984. Dokumentation in: Karl-Heinz Braun/Klaus Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie Marburg 1984, Frankfurt/M. 1985, Campus, S. 38-58. Download (PDF, 434 KB): cfg1985a

[Editorischer Hinweis: Die Angabe ||39| etc. verweist auf die Seitenumbrüche und -zahlen in der Originalquelle. Es wird die jeweils ab der Markierung neue Seite angezeigt]


Vgl. dazu auch die weiteren Kongreßbeiträge:

sowie:


Carl Friedrich Graumann

1. Zum Begriff der phänomenologischen Analyse

1.1. Phänomenologie: Wortgebrauch und -mißbrauch

Überraschungen sind in der Regel freudig oder unangenehm. Die Überraschung, die die Einladung auslöste, auf einem Kongreß für Kritische Psychologie mit einem Vortrag über phänomenologische Analyse aufzutreten, stimmte weder schlicht freudig, noch war sie bloß unangenehm: Sie war von Anfang an mit Skepsis durchsetzt. Womit ich nicht die Skepsis meine, die man so gegen über der Kritischen Psychologie hegt und mancherorten sogar pflegt. Ich meine die Skepsis, die jeden, der phänomenologische Analytik ernst nimmt, immer dann befällt, wenn andere von Phänomenologie reden. Und damit meine ich keineswegs nur, nicht einmal in erster Linie, die Gegner einer Phänomenologie.

Der Begriff Phänomenologie oder phänomenologische Analyse, der ja seine eigene Geschichte hat, allein im modernen Verständnis eine etwa hundertjährige, mit den entsprechen den Bedeutungsveränderungen, hat so viele Mißdeutungen erfahren, darunter hartnäckige, kaum ausrottbare, daß man unwillkürlich zusammenzuckt, wenn einer „Phänomenologe“ zu einem sagt. Ich will von vorneherein erklären, daß die Phänomenologen (ohnehin mehr „Bewegung“ als ordentliche „Schule“) ihr Teil dazu beigetragen haben, zumindest was das Fenster zum Hof der Humanwissenschaften betrifft. Von allen Beziehungen, die die Phänomenologie zu den Humanwissenschaften unterhält, ist die zur Psychologie die zwar historisch älteste und thematisch innigste, aber, was das Zusammenleben betrifft, die unglücklichste geblieben. Warum das so ist, hat mehrere Gründe; von einem wird hier die Rede sein. ||39|

Ich kann nicht auf alle Mißverständnisse von Phänomenologie eingehen, die die Beziehung zu den Humanwissenschaften belastet haben; immerhin hat Giorgi in einem 1983 erschienenen Beitrag über phänomenologische Forschung zehn Fehlidentifikationen aufgezählt und kritisiert. Einige davon mögen für Amerika und den langjährigen Herrschaftsbereich des Behaviorismus besonders charakteristisch sein. Aber abgesehen davon, daß auch in unserer Provinz der Behaviorismus noch gar nicht so weit weg ist – schon gar nicht der „kognitive“, der „gewendete“ -, sind manche der Fehlidentifikationen auch bei uns üblich, vor allem aber auch aufschlußreich für unser Thema, die Problematik der Vermittlung. Ich will aber nur die wichtigsten [Vorurteile] herausgreifen, nämlich die[jenigen] Fehlidentifikationen, die dazu dienen sollen, der phänomenologischen Analytik ihre „Wissenschaftlichkeit“ abzusprechen und sie damit in der Distanz zu halten, in der man die Historie, die Philologie, die Literatur und die Kunst weiß – liebenswerte, der allgemeinen Bildung bekömmliche, stellenweise sogar unterhaltsame Kulturprodukte, die aber nichts im streng gehüteten Revier der Wissenschaft verloren haben.

Da ist etwa die Identifikation von phänomenologischer Methode mit „Introspektion“. Phänomenologie, das „weiß“ man, befaßt sich mit dem Bewußtsein; das Bewußtsein, das „weiß“ man, ist innen; ergo ist die Methode der Phänomenologie die Innenschau, die Introspektion. Was hier fast wie eine Schlußfolgerung aussieht (wenn auch aus der Klasse der Fehlschlüsse), wird durch die unausgesprochene Bewertung der Introspektion als Methode zur endgültigen Aburteilung der synonym behandelten Phänomenologie.

Eng damit zusammen hängt, lediglich vom Methodischen aufs Thematische gewendet, die Gleichsetzung von phänomenologischen und privaten, weil inneren „Daten“. Fast schon selbstverständlich ist dem Psychologen (und nicht nur ihm) die Metaphorik von innen und außen, die er ebenso selbstverständlich mit der Polarität von privat und öffentlich verbindet. Der um Objektivität bemühte Psychologe hat sich immer entschieden auf die Seite des Äußeren und Öffentlichen geschlagen aus Gründen, die wiederum im Methodologischen, letztlich aber in einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis liegen (zur Innen-Metapher vgl. [Ch.] Taylor 1964, 57).

Wiederum wird, in einer dritten weitverbreiteten Gleichsetzung, das Phänomenologische als das bloß Subjektive charakterisiert und disqualifiziert (Giorgi, a.a.O., 134 ff.). Richtig daran ist, daß die phänomenologische Analyse sich ||40| vornehmlich den Strukturen der Subjektivität widmet. Aber weder ist sie darauf beschränkt, noch ist ihre Vorgehensweise selbst „subjektiv“ in dem pejorativen Sinne des Nicht-Objektiven bzw. keiner Objektivität Verpflichteten.

Daß aber gerade letzteres von einigen Kritikern, besser: Gegnern des phänomenologischen Ansatzes gemeint ist, zeigt die Generalisierung dieser Fehlidentifikation zu der Gleichung von phänomenologisch und antiwissenschaftlich. Das „Körnchen Wahrheit“, das sich in allen Fehlidentifikationen finden ließ und durch einseitige Übertreibung zu dem jeweiligen Mißverständnis der Phänomenologie führte, ist hier besonders klein geraten. Die phänomenologische Analyse, die an sich keine Antiposition darstellt, läßt sich am ehesten in Gegensatz zum Szientismus bringen (a.a.O., 140).

Schließlich hat die Wortschöpfung „phänomenologisch“ selbst zu einer Irreführung verleitet, wenn als Gegenstand dieser Analyse das bloß Phänomenale angesehen wird; das Phänomenale aber ist bloßer „Schein“, nicht die dahinter liegende und oft verborgene „Wirklichkeit“, beziehungsweise ist bloße Erscheinung, die auf ein nicht erkennbares (physisches oder psychisches) Sein verweist. Phänomenologie wird, hier mit Phänomenalismus verwechselt, einer Position des frühen Positivismus, die jedoch als Spielart eines subjektiven Idealismus realistischer Kritik verfiel.

Genug der Gleichsetzungen und Verwechslungen, an denen – ich wiederhole das noch einmal – immer wieder Philosophen und Wissenschaftler, die sich selbst als „Phänomenologen“ bezeichneten, mitgewirkt haben. Das gilt ganz besonders für die Vertreter zweier Spielarten, die, bei manchen Gemeinsamkeiten, doch klar von der Phänomenologie abgegrenzt werden sollten: die Existenzialisten und die Humanisten (vgl. hierzu Graumann 1980).

Mit den Hinweisen auf das, was Phänomenologie und phänomenologische Methode nicht sind, ist noch nicht klar, geworden, was sie sind, oder besser, als was ich sie verstehe. Klar geworden ist aber vielleicht, weshalb man so leicht mißtrauisch wird, wenn man als „Phänomenologe“ angesprochen wird. Es spricht manches dafür, nicht die phänomenologische Orientierung und die ihr entsprechende Methodik, wohl aber die Bezeichnung „phänomenologisch“ aufzugeben. Doch ist dies hier nicht der Ort. Ich bin mit diesem Reizwort hierher geholt worden und werde, jetzt positiv, Position beziehen. Diese Position ist einer Reihe von phänomenologischen Philosophen und Humanwissenschaftlern verpflichtet. Als Ertrag meiner kritischen Auseinandersetzung mit ihnen und meiner Aneignung ihrer Gedanken in Assimilation und ||41| Akkomodation lassen sich die nachfolgenden Thesen und Konzepte nicht immer eindeutig einem der gemeinten Autoren zuordnen, unter denen ich vor allem Husserl, Merleau-Ponty, Gurwitsch, Schütz, aber auch E. Straus, Buytendijk und Linschoten nenne. Und Position beziehen will ich in dem Sinne, daß ich versuche darzustellen, was „phänomenologisch“ für mich in erster Linie bedeutet: Nicht eine philosophische Schule oder eine psychologische Metatheorie oder gar Theorie, sondern eine methodologische Haltung, humanwissenschaftliche Probleme zu sehen, zu reflektieren und entsprechend Fragen zu stellen. Als problemzentrierte Haltung ist sie nicht fixiert, deshalb auch nicht im Sinne eines Methodenkanons kodifiziert. Ihre Offenheit ist ihre Stärke und Schwäche.

1.2. Phänomenologische Analyse als Strukturanalyse der intentionalen Person-Umwelt-Interaktion

Durch alle Variationen phänomenologischer Analysen hindurch hält sich die Kernannahme der intentionalen Person-Umwelt-Beziehung (im Sinne von Herrmanns selbst nicht zur Disposition stehender Annahme über einen Forschungsbereich (Herrmann 1974) ). Intentionalität bezeichnet einen Grundzug menschlichen Bewußtseins (Erlebens) und Handelns (Verhaltens), nämlich sein Gerichtetsein auf etwas, das als vom jeweiligen Gerichtetsein unabhängig gemeint wird. Dies gilt für die sinnlichen und nicht-sinnlichen Modalitäten des Bewußtseins wie für die unterschiedlichen sonstigen Modi des Sich-zu-etwas-Verhaltens (Graumann 1960; 1984).

Während der Begriff des Sichverhaltens immer ein intentionales Korrelat impliziert (ganz im Unterschied zum behavior-Begriff, dessen Paradigma der unbedingte Reflex war), gibt es mentale Zustände, wie z. B. Stimmungen, über deren intentionalen Charakter man streiten kann. Ich will auf diese von Husserl (1900/01; 1968) bis Searle (1983) reichende Kontroverse hier nicht näher eingehen; ich sehe auch in den bspw. von Searle ausgenommenen Zuständen der Erleichterung, Verstimmung und Angst das (vielleicht unspezifische, weil generalisierte, und dem Verstimmten und Ängstlichen nicht unbedingt bewußte) intentionale Korrelat der verstimmenden und Angst machenden Welt.

Für mein heutiges Thema beschränke ich mich auf die Artikulation der Kernannahme der durchgängigen Intentionalität subjektiver Existenz, gleich ob es sich um bewußte ||42| oder unbewußte, absichtliche oder unabsichtliche Modi des (Lewin’sch gesprochen) realen oder irrealen Sichverhaltens handelt. Dadurch, daß jedem dieser intentionalen Zustände und Akte ein Korrelat (Objekt) zugeordnet ist, zu dem sich das intentionale Subjekt (die Person) als zu einem unabhängig vom jeweiligen Zustand oder Akt Existierenden verhält, ist Intentionalität die Bezeichnung für ein aktives Verhältnis, dessen Relate, Person und Umwelt genannt, prinzipiell zusammen gesehen werden müssen: Personen, ob als Individuen oder Gruppen genommen, immer auf ihre Umwelten bezogen; Umwelten im Wortsinne immer um Personen und Gruppen, für sie existierend. Diese prinzipielle intentionale Verklammerung von Person und Umwelt impliziert ein erstes methodologisches Postulat phänomenologischer Analytik. Deren Einheit ist nicht das Individuum für sich genommen, in seinem „Erleben“ und „Verhalten“, in diesem oder jenem objektiv für sich genommenen Weltausschnitt („Reizkonstellation“), sondern diese intentionale Person-Umwelt-Relation. Bei aller notwendig werdenden Zergliederung darf also der relationale Charakter nicht „aufgelöst“ werden: Wer sich für Personen (Individuen, Gruppen oder Klassen von Personen) interessiert, sucht in der phänomenologischen Einstellung deren Umwelten auf, und umgekehrt werden Umwelten als person-, gruppen-, klassen- oder auch artspezifische Korrelate des jeweiligen Verhaltens aufgesucht und rein in dem Maße und in den Grenzen untersucht, wie die entsprechenden Subjekte sich dazu verhalten. Mit anderen Worten läuft Intentionalanalyse immer auf Situationsanalyse hinaus, weil das intentionale Subjekt als prinzipiell situiert verstanden wird. Ich komme darauf zurück. Zuvor will ich auf zwei Implikationen der Intentionalitätsannahme hinweisen, die zugleich den Unterschied der phänomenologischen zu subjektivistischen und objektivistischen Orientierungen deutlich machen sollen.

1. Wenn im phänomenologischen Verständnis Verhalten immer meint, daß ich mich zu etwas verhalte, das ich als unabhängig von diesem Verhalten intendiere, dann kommt der Intentionalität des Verhaltens insofern objektivierende Funktion zu, als ich mich darauf verlasse, daß ich mich ein und derselben Sache in wechselnden Akten und Sichtwelsen als einer identisch bleibenden zuwenden kann, wieder auf dasselbe zurückkommen kann, mit anderen darüber reden, mich verständigen und auseinandersetzen kann, daß der Sache, etwa einem Wahrnehmungsding, etwas zustoßen kann usw. Durch die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsweisen ||43| bewahre ich intentional die Sache selbst in ihrem Sinn, auch über ihre (beispielsweise physische) Existenz hinaus. Alle Objektivationsleistungen philosophischer Reflexion wie vor allem wissenschaftlicher Forschung sind in dieser objektivierenden Funktion intentionalen Verhaltens fundiert. Andererseits wird die (noematische) Identität eines Gegenstandes oder Sachverhalts als dessen Sinn immer nur in der Phänomenalität der Abschattungen und Aspekte erfahren, die der jeweiligen Perspektive der Person entsprechen. Es gibt kein davon abgelöstes Erkennen oder Erfassen eines Sinnes; Sinn ist also, phänomenologisch verstanden, weder etwas, das in der Innerlichkeit eines Subjektes noch in der Natur von Objekten zu suchen ist, sondern wird in der intentionalen Auseinandersetzung von Person und Umwelt konstituiert.

2. Die zweite Implikation der Intentionalitätsannahme ist damit bereits deutlich geworden. Im gleichen Maß, wie in der Intentionalität des Verhaltens die subjektunabhängige „Objektivität“ der Verhaltensumwelt gewahrt ist, wird in ihr die potentielle Sinnhaftigkeit konstituiert. Umwelt erscheint primär als „sinnhaft-für“ (in den Modalitäten des Sinnvollen, Sinnlosen, Sinnwidrigen etc.), wiederum für einzelne wie für soziale Gruppen, Kategorien, Kulturen. Sichverhalten heißt dann prinzipiell, sich zu Sinnhaftem verhalten, [Sichverhalten] ist die Schaffung, Wahrung oder Veränderung eines Sinn-Verhältnisses zu realen oder idealen Personen oder Objekten.

Muß ich anfügen, daß eines der Sinnkorrelate unseres Verhaltens die eigene Person in einem ihrer Aspekte sein kann? Alle Bestimmungen der Intentionalität treffen voll auf das (reflexive) „Selbstverhältnis“ zu.

Ich habe eingangs die intentionale Person-Umwelt-Beziehung in Abweichung vom traditionellen phänomenologischen Sprachgebrauch als Interaktion bezeichnet. Dieser Begriff bedarf der Erläuterung; denn Intentionalität darf nur menschlichem (und tierlichem) Bewußtsein und Verhalten, nicht aber den Dingen unserer Umwelt zugeschrieben werden. Gleichwohl wirken diese Dinge auf uns in „purer Kontingenz“: das Auto bleibt uns plötzlich stehen, das Messer schneidet mir in den Finger, ein Familienmitglied wird krank und stirbt. In Ärger, Schmerz und Trauer sind wir (intentional) betroffen über das, was uns widerfährt. Waldenfels (1980, 98 ff. ) hat an Beispielen der Widerfahrnis die Gegenüberstellung von Intentionalität und Kausalität reflektiert und damit die Reinheit der Scheidung von personalistischer ||44| und naturalistischer Einstellung, wie sie Husserl (1952) im Interesse einer Phänomenologie vollzog, in Frage gestellt. Ich will von dieser Grenzfrage nur einen Aspekt aufgreifen, der das Verständnis von Intentionalität anreichern soll. Es gehört zu unserer Erfahrung von Welt, daß den Dingen wie Personen ein Eigenleben bzw. eine für uns opake Eigenständigkeit und Eigenaktivität zukommt, die, meist unvorhersehbar, als Kontingenz des Faktischen uns überfällt. Diesen sinnfreien Rest, der, wenn wir ihm begegnen, nachträgliche Sinngebung geradezu verlangt, ordnen wir als Möglichkeit, und sei es als Zufall, in den Horizont aller Erfahrung ein. Das bringt uns zu einer weiteren Explikation der Intentionalitätsannahme, die uns den Charakter phänomenologischer Analyse als Strukturanalyse von Situationen verdeutlichen kann.

1.3. Phänomenologische Analyse als Strukturanalyse von Situationen

Man kann die intentionale Person-UmweIt-Relation bereits als das für eine Situation konstitutive Element ansehen. Der Charakter der Situiertheit ergibt sich aber auch aus dem weiteren Kontext. Er ist einmal dadurch konstituiert, daß jede einzelne Erfahrung, jede einzelne Praxis, wie Husserl (I, 1948, 25) es formuliert hat, ein Weltbewußtsein „im Modus der Glaubensgewißheit“ voraussetzt, ohne dessen „passive Vorgegebenheit“ eine einzelne. Zuwendung des erkennenden oder praktischen Interesses nicht möglich wäre. In diesem Sinne ist keine Leistung ohne Vorerfahrung, ohne Voraussetzung. Jede Erfahrung hat aber auch insofern ihren Horizont, als das, was sich mir in seiner Identität jetzt so zeigt, sich schon so und so gezeigt hat und auf weitere Möglichkeiten seiner Erfahrbarkeit verweist. Das ist unmittelbar einsichtig bei der Wahrnehmung von Personen und Dingen, gilt aber für alle Erkenntnis, wobei phänomenologisch die Entgegensetzung von Erkennen und Handeln wegen der durchgängigen intentionalen Struktur entfällt: Sie gilt für präreflexives Tun, planvolles Handeln wie für habitualisiertes Verhalten. Der Horizont der Erfahrung ist also wesentlich der „Spielraum von Möglichkeiten“ (Husserl, a.a.O., 27) für weitere Erfahrung. Am „Innenhorizont“ desselben Objekts und am „Außenhorizont“ der Mitobjekte, auf die ein Subjekt perspektivisch verwiesen wird, kann sich die als antizipatorisch gekennzeichnete Erfahrung bestätigen. ||45|

Zum phänomenologisch verstandenen Verhalten gehören also gleichwesentliche Verhaltensmöglichkeiten, das intentionale Korrelat solchen Verhaltens ist horizonthaft, also potentiell offen. Zum Gesehenen gehört das Ungesehene; das Sichtbare wird vom Nichtsichtbaren, das Sinnliche vom Nichtsinnlichen, allgemein das Wirkliche vom Möglichen mitkonstituiert. In diesem Sinne ist alle Erfahrung induktiv; es gibt kein letztes.

So ist die Welt, aus der heraus und zu der wir uns verhalten, als Möglichkeitsraum offen. Zugleich aber ist sie uns vorgegeben als selbstverständlich geltende. Im Ausgang von der alltäglichen Praxis, den phänomenologische Analyse nimmt, treffen wir auf die Fülle der als selbstverständlich, als „natürlich“ geltenden, d.h. nicht zu Erkenntniszwecken eigens thematisierten und herausgestellten Dinge und Sachverhalte, von denen der Einzelne „alltäglich“ als etwas Gegebenem ausgeht. Husserl nennt diese „Lebenswelt“ die der anonymen Subjektivität (Husserl 1962, 114).Die alles andere als „natürliche“ oder „objektive“ Bedeutung oder Funktion vieler Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt muß in der phänomenologischen Analyse auf ihre Konstitution geprüft und damit aus der (verdinglichten, versachlichten) Anonymität herausgehoben werden. Die Lebenswelt, für Husserl der „Rechtsgrund“ auch aller Wissenschaft, ist, vor allem in ihrer sozialen Struktur und ihren Realitätsgraden von Schütz (1971) bzw. Schütz & Luckmann (1979/1984) sehr detailliert und – ich glaube – für eine soziale Sozialpsychologie sehr fruchtbar analysiert worden.

Die Lebenswelt, etwa in konkreten Situationen der Arbeit, der Freizeit, des Lernens usw., bleibt thematisch der Ausgangspunkt phänomenologischer Analytik.

Ich muß es mir versagen, die aus der Grundannahme der Intentionalität sich herleitende Horizontstruktur lebensweltlicher Situationen weiter auszufalten, möchte jedoch auf einige thematische Implikationen aufmerksam machen, die sich aus der skizzierten Struktur für die phänomenologische Strukturanalyse ergeben. Da dies bereits an anderen Stellen dargestellt worden ist, müssen Hinweise genügen (Graumann 1960, 1984; Graumann & Metraux 1977; Graumann & Wintermantel 1984; Linschoten 1953).

1. Die unverkürzte Deskription des situierten Subjekts muß ausgehen von seiner Leiblichkeit. Nicht nur, weil Subjekte einen Ort haben, von wo aus sie wahrnehmen und handeln und ihm entsprechend ihre Umwelt wahrnehmen und behandeln. Auch der körperlichen Verfassung entsprechend stellt sich der Sinn von Dingen, Ereignissen, Zustän-||46|den je anders dar, etwa dem Gesunden, dem Kranken, der Schwangeren, der Kleinen, dem Übergewichtigen, dem Körperbehinderten usw. Die Psychologie mit ihrer cartesianischen Leib-Seele-Trennung hat sich ja auf mentale Zustände und „Prozesse“ beschränkt und das „Somatische“ der Medizin überlassen. Für die intentionale Person-Welt-Verklammerung hingegen ist die dichotome Trennung von Physis und Psyche fragwürdig, die Unterscheidung sekundär. Die durch Scheler vorbereitete, durch Merleau-Ponty ausgeführte Bestimmung des phänomenologischen Subjekts als Leib-Subjekt (Merleau-Ponty 1966; vgl. Plügge 1967), lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf den gelebten Leib, den ein im übrigen geistiges Subjekt „auch“ hat und unmittelbar erfährt. Sie bewahrt – im Unterschied zu anderen subjektwissenschaftlichen Konzeptionen davor, die „kognitive “ oder „reflexive“ Kompetenz des Subjekts zu verabsolutieren. Vielmehr liegt in der Kontinuität von der leiblichen „vorprädikativen“ Erfahrung bis zum reflektierten Erfassen eine Fundierungsannahme, die nicht nur phylogenetische Hominisierung und historische Humanisierung zu vereinbaren gestattet, sondern auch dazu geeignet ist, die Barriere zwischen den Konzeptualisierungen von bewußtem und unbewußtem Seelenleben abzutragen.

2. Das Korrelat der Leiblichkeit des phänomenologischen Subjekts ist die Materialität und Räumlichkeit der intentionalen Umwelt (Taylor 1964), die sich uns als nah oder fern, handhabbar, greifbar, zu Fuß oder per Auto erreichbar, unerreichbar, als fruchtbar-unfruchtbar, eßbar-ungenießbar, brauchbar-unbrauchbar, aber auch als abstoßend-häßlich, verlockend-schön, als Mittel und als Zweck darbietet, aufzwängt, beziehungsweise von uns so bestimmt wird. Es sind diese menschlichen Qualitäten und Valenzen der dinglich-räumlichen Umwelt, in denen sich Art und Maß unserer Aneignung, aber auch Entfremdung zeigen. Linschoten hat, um die. menschliche Qualität der intentionalen Umwelt zu kennzeichnen und sie von der naturwissenschaftlich konzipierten Geographie abzuheben, von „Landschaft“ gesprochen (Linschoten 1953).

Als Korrelat meiner intentionalen Zustände (der Hoffnung und Befürchtung, des Liebens und Hassens), meines geistigen Verhaltens (Nachdenkens, Zweifelns, Träumens) „ist“ die intentionale Umwelt auch geistige Welt, Traumwelt, Phantasielandschaft, meine Wahrnehmungswelt durchdringend, überlagernd, über sie hinausführend.

3. Das in der Horizontstruktur beschlossene Zusammenwirken des Wirklichen mit dem Möglichen bringt die Zeitlich-||47|keit der Erfahrung, allgemeiner die Historizität des Situiertseins zum Vorschein. Nicht nur die eigene Erfahrung fundiert jede weitere eigene und läßt noch weitere antizipieren. Andere Personen wie die Dinge selbst „haben“ ihre Geschichte in der sich durch alle Erscheinungsweisen durchhaltenden Identität. Ihre Geschichte ist nicht meine, aber sie werden mit ihrem Alter Teile meiner Geschichte. Menschen werden so in die Geschichten anderer „verstrickt“, wie es Schapp (1976 b) formuliert hat.

Für ihn, der sich von einer Phänomenologie der Wahrnehmung (Schapp 1910/1976a) zu einer Philosophie der Geschichte (Schapp 1975) entwickelt hat, in der alles, Mensch wie Ding, primär und nur in Geschichten erfahrbar ist, fallen „Welt und Geschichte, in die wir verstrickt sind, zusammen“ (1975, 143). Erfahrbar aber heißt hier, kann nur heißen, erlebbar und deutbar. Über diese geschichtliche Welt kann sich niemand erheben; das aber heißt. auch, den Schatten der Sprache nicht überspringen (vgl. Welter, i. Dr.). Geschichte und Sprache sind nicht trennbar. Das bringt uns zu einer letzten Thematisierung intentional verstandener Situationen, zu ihrer prinzipiellen Sozialität.

4. Zu unserer Geschichte – „meine“ Geschichte gibt es streng genommen nicht (Schapp 1975, 180) – gehören nicht nur immer von Anfang an die Anderen, mit denen wir, soweit wir denken, in Kommunikation stehen, ihre, das heißt wiederum unsere Sprache sprechend. Unser Erfahrungshorizont wird durch den Horizont der Mitmenschen eröffnet, erweitert, beschränkt. Jeder Mensch hat von Anfang an seine – wie es Husserl (1962, 369) nannte – „Mitmenschheit“ und damit Anteil am „Menschheitshorizont“. Dazu gehört und ihn legt aus die Sprache. „Menschheit ist vorweg als unmittelbare und mittelbare Sprachgemeinschaft bewußt“ (ebda.). Alles, was sich im „Wir-Horizont“ einer Sprachgemeinschaft findet und ansprechbar ist, ist „da“, existiert, prinzipiell erfahrbar, verfügbar. Welt für alle setzt Menschen in ihrer allgemeinen Sprache voraus (Husserl, a.a.O., 370). Aussprechbar ist aber auch, was nicht ist oder nicht so ist, wie es Sprache nahelegt. Sprache selbst fungiert nicht nur als Medium und Organon, sondern wird selbst zum intentionalen Korrelat, das die Noemata der Anschauung, der unmittelbaren Erfahrung überlagern, eine Art zweite Wirklichkeit schaffen kann (vgl. Husserls „Verführung der Sprache“, a.a.O., 372).

Ich habe das Intentionalitätskriterium der Sozialität, das kommunikative personale Situiertsein, zuletzt genannt, weil die erstgenannten Kriterien in es eingehen. Doch es ||48| gilt wechselseitige Bedingtheit: Die Leiblichkeit intentionaler Subjekte erfahren wir zuerst an anderen bzw. durch andere an uns; die intentionale Umwelt bewohnen wir mit anderen und haben gelernt, sie uns anzueignen durch Arbeit, Sprache und Kunst. Was vor allem Merleau-Ponty (1976) in seiner phänomenologischen Strukturanalyse des Verhaltens als die „Dialektik“ der „menschlichen Ordnung“ bezeichnet, ist durch das Wechselspiel der genannten einander bedingen- den Strukturelemente charakterisiert, entscheidend aber durch die in der Horizontstruktur von Situationen begründeten Fähigkeit, alle Gebilde, sozialen oder kulturellen Strukturen, die uns, wenn sie einmal geschaffen sind, begrenzen und einengen, „zu negieren und zu übersteigen“ (a.a.O., 202).Erst darin wird die menschliche Freiheit, sich zu verhalten, deutlich und vom animalischen, an Auslösebedingungen gebundenen Verhalten unterscheidbar, wird die dieser Freiheit entsprechende Horizontstruktur, das heißt Offenheit intentionaler Umwelten einsichtig, die die relative Gebundenheit tierlicher Umwelten prinzipiell transzendiert.

So weit die Ausfaltung des Intentionalitätskonzepts, mit deren Hilfe die Ansätze zu einer Phänomenologie des Sichverhaltens als Person-UmweIt-Interaktion skizziert werden sollten.

2. Zur phänomenologischen Methode

Auch wenn bisher explizit von Konzepten und Themen phänomenologischer Analytik die Rede war, dürften methodologische Gebote und sicher auch Verbote erkennbar geworden sein. Ich will, um dem Problem der Vermittlung zwischen phänomenologischer Analyse und experimenteller Methodik näherzukommen, einige Funktionen der phänomenologischen Arbeitsweise voranstellen, von denen ich glaube, daß sie zwar völlig anders sind als die des experimentellen Verfahrens, nicht aber dazu im Widerspruch stehen.

2.1. Die kritische Funktion

Mir ist klar, daß man gerade im Rahmen eines Kongresses für Kritische Psychologie, mit dem Begriff „kritisch“ eine ähnliche Skepsis hervorrufen kann wie mir gegenüber mit ||49| „phänomenologisch“. Also was heißt phänomenologisch „kritisch“? Nicht mehr, aber auch nicht weniger als die gründliche Bewußtmachung und Prüfung der eigenen Voraussetzungen und Vorannahmen. Das Ziel dieser kritischen Prüfung ist nicht die „Voraussetzungslosigkeit“, sondern die Voraussetzungsbewußtheit, natürlich gepaart mit der Bereitschaft, aus dieser Bewußtheit gegebenenfalls methodologische Konsequenzen zu ziehen.

Ich weiß, daß sich dieses methodologische Postulat für manche Forscherkollegen (vor allem für die forschen) problemlos anhört, weil sie glauben, dies eh immer zu tun. Sie haben und kennen ihre Theorie oder ihr Modell und machen, frei nach Duncker, Problemanalyse, Zielanalyse und Mittelanalyse, generieren daraus ihre Hypothese, wählen sorgfältig ihr Design, wissen genau, welcher Datentyp welche Prüfverfahren gestattet, suchen das optimale (oder gleich mehrere) aus und geben am Schluß eine „zurückhaltende“ Diskussion – alles lege artis; die Veröffentlichung im Fachjournal ist ziemlich sicher.

Andere – und ich denke, eine wachsende Zahl von Fachkollegen – wissen, daß die sechs oder acht Verfahrensschritte, die ich eben gemeint habe, ebenso viele Fallen sind, bzw. daß die Tücken in den Verhältnissen zwischen den Schritten, etwa zwischen Theorie und Methode, stecken. Für sie ist das obige methodische Postulat alles andere als harmlos; es ist geradezu forschungsbehindernd. Tatsächlich ist das Bewußtmachen der in eine Problemstellung eingehenden Vorannahmen deswegen nicht leicht, weil wir uns allzuoft der Annahmen nicht bewußt sind, oder wenn, dann nicht ihrer möglichen ideologischen Funktion. Hans Linschoten, der von der Wirksamkeit der „silent assumptions“ überzeugt war, hat einmal gescherzt, daß man, um da ranzukommen, eine kleine Psychoanalyse brauche. Aber die Klärung der wissenschaftlichen Voraussetzungen muß nicht bis zur Motivforschung, bis zur Psychologisierung der Wissenschaft als Handlung, getrieben werden. Was jedoch seit Husserl für die phänomenologische Arbeitsweise, auch von Wissenschaftlern, immer wieder gefordert wurde, ist die Reflexion auf die Theorie, die Begrifflichkeit, und die Wahl des Zugangs und der Methode, sowie nicht zuletzt deren Verhältnisse untereinander. Reflexion heißt hier vor allem, Implikationen erkennen. Robert MacLeod (1947) sah im „phänomenologischen Ansatz zur Sozialpsychologie“ wesentlich die kritische Aufklärung von „impliziten Annahmen“ wie z. B. das organizistische Vorurteil, das genetizistische, den Soziologismus, Logizismus, Reduktionismus, Relativismus. ||50|

Wer heute die impliziten Annahmen derjenigen, die sich kognitiv oder Kognitivisten nennen, auflistete, käme auf eine nicht minder bunte (und deprimierende) Liste. Man kann aber, auch noch ohne Psychoanalyse, hinter die Ismen zurückfragen und, wie es Billig 1982, ebenfalls für die heute beliebtesten sozialpsychologischen Theorien und Theoretten, getan hat, die ideologische Herkunft bzw. Funktion des durchgängigen Individualismus herausarbeiten, was bezeichnenderweise nur dadurch möglich war, daß er die historisch immer wieder durchbrechende ideologische Funktion des Ideologiekonzeptes selbst aufdeckte. Mir ist klar, daß die oft genüßliche Aufdeckung latenter Annahmen der anderen ein weitverbreitetes Spiel ist. Demgegenüber wird der phänomenologische Rückgang auf das „irreflechi“ der Forschung vom Forscher selbst, also als Bemühung um Selbstkritik, gefordert. Dazu gehört, wie es vor allem Giorgi (1970) versucht hat, auch die ausdrückliche Einbeziehung des eigenen Ansatzes in die Problemstellung.

Schließlich – und das ist im Rahmen unseres Themas von besonderer Wichtigkeit – ist die Klärung der Voraussetzungen der eigenen Methode selbst Voraussetzung für die Entscheidung, wann und in welchen Grenzen die phänomenologische mit anderen Methoden kombiniert werden darf.

Daß die Kritik sich gegen liebgewordene Denkweisen und Begriffe richtet, ist auch ein direkter Beitrag zu der zweiten, immer als besonders wichtig angesehenen Funktion phänomenologischer Analyse, der deskriptiven.

2.2. Die deskriptive Funktion

Die ausführliche Explikation der Intentionalität des Verhaltens sollte dazu dienen klarzumachen, daß phänomenologische Deskription etwas wesentlich anderes ist als übliche Verhaltensbeobachtung und -beschreibung. Daß wir uns zu etwas immer in einem bestimmten Sinne verhalten, oder pointiert: zum Sinn von etwas verhalten (wobei ich vereinfachend Bedeutung, Wert, Zweck, Funktion unter Sinn subsumiere), hat mehrere methodologische Implikationen, für die Art der Beobachtung wie die der Beschreibung. ||51|

[2.2.1.] Beobachtung

Die Beobachtung kann keine rein äußere sein. für die das Verhalten und sein Gegenstand schon voll konstituiert sind oder gar – wie im Fall der Verwendung eines theoretisch deduzierten Kategoriensystems – vorgegeben konstruiert sind. Vielmehr ist die phänomenologische Beobachtung auf die (Sinn-)Konstitution selbst gerichtet. wie sie sich im konkreten Verhaltensakt vollzieht. Das objektiv („geographisch“) identische Objekt wird vom gleichen Subjekt nicht immer im gleichen Sinn behandelt bzw. „interpretiert“. Daß dies manchmal durch die Art und Weise, wie ein Ding behandelt wird. manifest = beobachtbar wird, manchmal nur durch zusätzliche kommunikative Vergewisserung bei der handelnden Person deutlich wird. ist bekannt; doch es gibt aus ebenso bekannten. weil psychologisch recht gut aufgeklärten Gründen eine Fülle von Situationen, wo die Beobachtung nicht ausreicht, die Befragung nicht möglich oder nicht sinnvoll ist. Hier greift der Psychologe, wenn er kann, zur experimentellen Manipulation der Bedingungen oder, wenn er nicht kann, ersatzweise oder vorläufig zur Korrelation von objektiv fixierten Merkmalen; beides im naturwissenschaftlichen Verständnis Verlängerungen oder Varianten systematischer Beobachtung.

Für die Orientierung an der Intentionalität bzw. Sinnhaftigkeit des Verhaltens wäre beides keine Alternative (ob ein Komplement, bleibt zu diskutieren). Wie bei der Frage, ob ein beobachtbares Verhalten eine bestimmte Handlung ist, wird in der phänomenologischen Orientierung die Interpretation verlangt, deren Bewährung auf verschiedenen Wegen versucht werden kann, die aber prinzipiell offen bleibt.

Dabei bleibt die möglichst enge Bindung an die Beobachtung (Anschauung) eine Grundforderung phänomenologischer Forschung. die sich aus der Auffassung begründet, daß ohnehin, was wir gemeinhin „Beobachtung“ und was wir „Interpretation“ nennen, im konkreten Vollzug untrennbar ist, aber durch die Prüfung der Vorannahmen (tendenziell) aufklärbar.

Das Bewusstsein, letzte Gewißheit über die (Subjekt-)Angemessenheit einer Interpretation nicht erreichen zu können, das in der Regel den um Objektivität und Sicherheit bemühten Wissenschaftler davon abhält, überhaupt „Sinnfragen“ zu stellen, muß den phänomenologisch Arbeitenden dazu führen, in der wechselseitigen Kontrolle von Anschauung und Reflexion diese Angemessenheit zu approximieren. ||52|

Anschauung und Reflexion (dies nur als Anmerkung) werden wohl als Grundlagen wissenschaftlicher Methodik akzeptiert, als Methoden spielen sie keine Rolle; sie werden nicht gelehrt. Die Verbindung der kritischen mit der deskriptiven Funktion hat im übrigen in den phänomenologisch orientierten Humanwissenschaften zu einer methodischen Haltung geführt, die man die „ethnologische“ oder „ethnographische“ nennen kann: Handlungsweisen und Situationen, vor allem von alltäglicher Vertrautheit, so zu beobachten und zu beschreiben, wie es ein Ethnologe tun muß, der mit einer fremden Kultur in allererste Berührung kommt, also ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse über Religion, Sitte, Produktionsweise, Sozialstruktur. Das ist natürlich nur (und in Grenzen) möglich durch eine Technik der Epoche, d.h. der bewußten „Einklammerung“ der als gültig geltenden Theorien und Überzeugungen über den jeweiligen Sachverhalt. Eine derartige „anthropologische Attitüde“ würde beispielsweise der Sozialpsychologie neue Erkenntnisse bescheren; zu einer Anthropologie des Wissens und der Wissenschaft liegen bereits Ansätze vor (Mendelsohn & Elkana 1981); ein ethnologisch geschulter teilnehmender Beobachter dieses Kongresses müßte mit Hilfe der Technik der Epoché zu einer anderen Beschreibung kommen als ein noch so geschulter Beobachter, der auch als Beobachter immer weiß, was ein Kongreß „ist“.

[2.2.2.] Beschreibung

Beobachtung, sagen wir in der Wissenschaft, dient der Beschreibung; denn nur diese geht, wenn überhaupt, in den Corpus der Wissenschaft ein. Der Phänomenologe tendiert dazu, es umgekehrt zu sehen, wenn er in der Anschauung den letzten Rechtsgrund aller Erkenntnis sieht. Damit ist prinzipiell das Problem des Verhältnisses von Anschauung und Sprache aufgeworfen, das in der Weiterentwicklung der Phänomenologie bis zum heutigen Tage an Gewicht gewonnen hat und nicht ausdiskutiert ist. Ich kann auf dieses Problem und damit auf die Phänomenologie der Sprache, der Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, hier nicht eingehen, aber für die methodologische Absicht dieses Beitrages auf einige Implikationen der Husserlschen Forderung nach getreuer Begrifflichkeit aufmerksam machen.

„Getreu“ meint hier phänomengetreu, und das heißt zu versuchen, die Art und Weise, wie etwas jemandem erscheint und Sinn für ihn hat, auch sprachlich möglichst adäquat ||53| zu fassen, um nicht (und das entspricht wieder der kritischen Funktion) durch gängige, aber vielleicht unreflektierte Bedeutungen von Alltagswörtern oder Fachausdrücken gerade das zu verdecken, was man ans Licht bringen will. Die Angemessenheit einer Deskription findet nicht ihre Rechtfertigung in der Übereinstimmung mit wissenschaftlichen (theoretischen) Konstrukten. Aus phänomenologischer Sicht müssen sich wissenschaftliche Begriffe gegenüber der sprachlich adäquat ausgelegten Erfahrung ausweisen und durch sie legitimieren lassen; übrigens ein phänomenologisches Grundverständnis von Empirie.

Für die Human- bzw. Sprachwissenschaften ergibt sich hieraus eine sehr wesentliche Konsequenz, die vor allem A. Schütz , der wohl bedeutendste Vermittler zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaften, expliziert hat. Bei der Ausfaltung der Struktur intentionaler Situationen war festzuhalten, daß unsere originäre Welterfahrung immer schon, das heißt von klein auf und von je her, sprachlich vermittelte und damit in der Sprache interpretierte Erfahrung ist, die wir mit anderen (in einem empirisch zu prüfenden Ausmaß) teilen. Wie Schütz (1971; vgl. Schütz & Luckmann 1979/1984) im einzelnen gezeigt hat, „enthält“ die lebensweltliche Sprache nicht nur die Benennungen der Personen, Dinge und Sachverhalte unserer engeren und weiteren, realen und idealen Umwelt, sondern auch die Normen und Regeln für unseren Umgang mit anderen, anderem und uns selbst, kurz: das „verfügbare Wissen“. In dem Maße, wie der Sozialwissenschaftler, an diesem Wissen, den Normen und Regeln interessiert, zu entsprechenden wissenschaftlichen Konstruktionen kommt, sind derartige Konstruktionen sekundär gegenüber den schon lebensweltlich geltenden. Als Konstruktionen von Konstruktionen ist ihr Fundierungsverhältnis (das die Naturwissenschaft nicht kennt) auszuweisen. Insofern sind im Unterschied zur Naturwissenschaft „besondere methodologische Verfahren“ gefordert: Verfahren letztlich, die die Rekonstruktion des Sinnes sichern, den das Handeln und die Situationen für diejenigen haben, auf deren Verhalten und Werke sozialwissenschaftliche Forschung gerichtet ist: die in ihrer sozialen Identität auf ihre intentionale Umwelt bezogenen Subjekte. ||54|

3. Phänomenologische und experimentelle Analytik: Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung

Ich habe die phänomenologische Analyse mit der Skizzierung der kritischen und der deskriptiven Funktion sehr selektiv behandelt, einmal aus dem Interesse der Humanwissenschaft heraus, zum anderen in Hinblick auf mein vorgegebenes Thema. Deswegen will ich auch abschließend das Problem der Vermittlung von der kritisch-deskriptiven Leistung der phänomenologischen Analytik her ansprechen.

Wir kennen das wohlwollende Diktum: „Phänomenologie zur Beschreibung ist gut (aber teuer, weil zeitaufwendig), Wissenschaft aber muß erklären, kann also bei der Beschreibung nicht stehen bleiben. Wichtiger als Deskription ist die Bedingungsanalyse.“ Dagegen ist wenig zu sagen; aber ein paar Fragen sind angebracht. Sicher, Beschreiben ist nicht Erklären. Aber inwieweit ist das zweierlei? Es wird zweierlei, wenn Beschreiben zur wissenschaftlichen Deskription purifiziert wird, in der nur noch Objekte und Bewegungen als rein und intersubjektiv observable vorkommen. Alles, was nach Interpretation aussieht, fliegt raus. An deren Stelle tritt, nach der Deskription, die Kausalanalyse (etwa des Experiments). Das Dumme ist, die Sprache spielt da nicht mit; sie ist primär nicht Beobachtungssprache, sondern Umgangssprache. Wenn mir einer den Umgang mit dem neuen Rechner, die Konstruktion einer Luftpumpe oder den Weg zum Bahnhof beschreibt, hat er mir alles erklärt, was ich für mein alltägliches Handeln aber auch für meine alltägliche Neugierde, wie was funktioniert, brauche.

Aber wie ist das mit dem „Psychischen“? Wenn einer sagt, er habe jetzt Hunger, beschreibt er da, wie ihm zumute, ist, oder erklärt er etwas, das deskriptiv „Magenkontraktion“ o.ä. heißen müßte, oder ist nicht vielmehr die Magenkontraktion eine Erklärung für das, was der Laie „Hunger“ nennt? Die Frage scheint falsch gestellt, weil sie mit der Vermengung zweier Diskursarten spielt. Der Satz meines Gesprächspartners, „Ich hab jetzt Hunger“, ist weder eine Beschreibung noch eine Erklärung, sondern die Bekundung der Intention „Ich gehe jetzt essen“, was je nach Situation die Frage impliziert „Gehst Du mit?“. Ich als Gesprächspartner „verstehe“ nicht nur diese Intention, sondern jetzt auch, warum der andere unruhig geworden war, auf die Uhr guckte etc., also den Sinn dieses Verhaltens (vgl. Graumann & Wintermantel 1984).

Beläßt man dem Verhalten den Sinn und damit seine prinzipielle Verstehbarkeit (was der behavior-Begriff aus-||55|schloß) und akzeptiert das so verstandene Verhalten in Situationen als Thema und die Rekonstruktion der Sinnstruktur situativen Sichverhaltens als methodische Aufgabe auch der Psychologie (und nicht nur der Soziologie, Anthropologie, Ethnomethodologie etc.), dann entfällt für die phänomenologische Analyse die Entgegensetzung von Beschreibung und Erklärung. Die Erklärung liegt in der intentionalen Beschreibung.

Nun ist üblich gewesen, hier von „Verstehen“ zu sprechen, und den Begriff der Erklärung der Kausalanalyse vorzubehalten. Lassen wir, ganz unreflektiert, gelten, daß Sinnverstehen und Kausalerklärung tatsächlich die wissenschaftshistorisch gängige Dichotomie bilden, dann lohnt sich für den Psychologen, der Frage einmal ernsthaft nachzugehen, wie viele sogenannte psychologischen Probleme sich lösen, wenn wir verstanden haben, aus welchen Gründen (allerdings tatsächlichen Gründen) Menschen so und nicht anders handeln, wenn wir rekonstruieren können, wie sie ihre Lage sehen und entsprechend handeln oder resignieren. Daß diese Probleme anderer Art sind als das der Bestimmung von Unterschiedsschwellen, des Intelligenzquotienten und der Ursachen für den „Tunneleffekt“, sei unbestritten, und ich mache mich nicht anheischig, den einen Problemtypus in den anderen zu überführen. Ich gebe aber zu bedenken, ob nicht Anzahl und Bedeutsamkeit der ersteren Probleme größer sind, als es die Fachliteratur erkennen läßt – und damit auch das Feld möglicher phänomenologischer Arbeitsweisen.

Die Darstellung der Intentionalanalyse sollte trotz der Kürze klar gemacht haben, daß eine Vermengung von phänomenologischer Beschreibung und (natur-)wissenschaftlicher Kausalerklärung unzulässig ist. Das heißt aber nur, daß im Vollzug intentionaler Deskription wissenschaftliche Konstrukte illegitim sind, nicht aber, daß phänomenologische Analyse und experimentelle Bedingungsanalyse inkommensurabel wären.

Sie sind es schon deswegen nicht, weil phänomenologische Beschreibung experimenteller Analyse nicht nur normalerweise vorangehen wird, sondern sich die experimentelle Fragestellung als eine gegenüber der phänomenologischen eingeengte durchaus aus ihr herleiten läßt. Das aber ist nur dann möglich und legitim, wenn das Prinzip der ersteren Methode nicht durch die anschließende in Frage gestellt wird.

Es gibt bekanntlich trotz großer Verschiedenheit keinen prinzipiellen Dissens zwischen statistischem und experimen-||56|tellem Verfahren. Das erste verspricht kontingente Zusammenhänge, das zweite, spezieller, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Korrelative Zusammenhänge können kausaler Art sein; aber das Verfahren gestattet keine Aussage darüber. Beide Verfahrensweisen können Zusammenhänge liefern, die man als Sinnzusammenhänge interpretieren kann; keines der beiden Verfahren gestattet eine Aussage darüber. Denn die Strukturen oder Zusammenhänge, die die phänomenologische Analyse sichtbar macht, haben ihre Legitimation in der explizit gemachten Subjektivität der Untersuchten, von denen die anderen Verfahren zugunsten objektiver „Merkmale“ absehen. Aber das alleine ergäbe noch keine Inkompatibilität. Denn die Subjekte der phänomenologischen Analyse sind ja ebenso objektiv da und antreffbar, wie ihre intentionalen Umwelten da sind und zwar nicht nur für sie, sondern prinzipiell auch für die anderen, mit denen sie in einer (Sprach-)Gemeinschaft in Kommunikation stehen. Deshalb, gilt – nach dem von Schütz (1971) herausgearbeiteten Prinzip der Reziprozität der Perspektiven – auch, daß wir, die wir die anderen an Merkmalen erkennen und nach Merkmalen klassifizieren (und diskriminieren), auch uns selbst als an Merkmalen erkennbare Mitglieder dieser oder Jener Gruppe verstehen lernen. Daß diese Merkmale als objektive auch zählbar, meßbar, aber in Grenzen auch mach bar (manipulierbar) sind, zählt zum alltäglichen „Wissensvorrat“. Dies in der Analyse reiner Erfahrung aufzuweisen, stellt keine Sprengung des phänomenologischen Diskursrahmens dar.

Der Schritt von der Sinnexplikation zur Experimentalanalyse ist in anzugebenden Grenzen möglich und in vielen Fällen nötig. Die phänomenologische Beschreibung legt die rein intentionale Struktur frei, innerhalb derer etwas oder jemand für genauer zu beschreibende Subjekte einen bestimmten Sinn (z.B. eine „Valenz“) hat. Wenn das, was beispielsweise – ausweichlich der phänomenologischen Deskription – eine bei Kindern eines bestimmten Alters „Neugier“ weckende „Valenz“ hat, unter Sicherung dieser Valenz als Bedingung in eine Situation eingebracht wird, in der die Kinder das, was phänomenologisch Neugierde heißt, zeigen können, und für die Möglichkeit gesorgt ist, daß sie sich diesem wie auch anderen Dingen gegenüber auch anders verhalten können, ist weder gegen die Kontrolle noch gegen eine systematische Variation der „Valenzen“ noch auch des Spielraums der Verhaltensmöglichkeiten ein Inkommensurabilitätseinwand möglich. Ihn muß man dann erheben, wenn eine physikalische Manipulation an die Stelle systematischer ||57| Sinnvariation gesetzt wird und das intentionale Verhalten ihr gegenüber verkürzt und verfälscht, als ausschließlich von außen zu beobachtende „Reaktion“, das heißt Wirkung einer letztlich physikalischen Ursache, interpretiert wird.

Ich schließe, das Problem der Vermittlung zwischen phänomenologischer und experimentell-statistischer Methode reduziert sich auf das der Vereinbarkeit wissenschaftlicher Intentionen. Nicht ein Verfahren als solches, quasi als hardware, sondern die Intention, in der ich es einsetze und die mit ihm gewonnenen Ergebnisse auslege, entscheidet über die Vereinbarkeit, wobei ich zugebe, daß es Verfahren gibt, die reine Objektivationen der Phänomenologie entgegengesetzter Intentionen sind (z. B. Täuschungsszenarios, nicht aber die darin eingebetteten Experimentalbedingungen). Kurz: Zwischen Verfahren, die die Intentionalität des Verhaltens, die unzerstörbar ist, außer Acht lassen oder methodisch außer Kraft zu setzen versuchen, und der phänomenologischen Analyse ist keine Vermittlung zu rechtfertigen. Demgegenüber ist die kritische und deskriptive Leistung der phänomenologischen Analyse mit allen Verfahren vereinbar, die es zumindest zulassen, die vom Subjekt ausgehende Interpretation der Situation, also auch der Forschungssituation, zu rekonstruieren. Es gibt‘ heute mehr Ansätze in dieser Richtung als Bezugnahmen auf eine phänomenologische Herkunft oder Orientierung. Aber Namen sollten minder wichtig sein als das wissenschaftliche Selbstverständnis, das dahinter steht und das oft genug erst „intentionalanalytisch“ rekonstruiert werden muß.

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Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität: Unaufhebbarer Widerspruch?

Grundsatzreferat beim 3. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, Marburg 1984. Dokumentation in: Karl-Heinz Braun/Klaus Holzkamp (Hg.), Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß Kritische Psychologie Marburg 1984, Frankfurt/M. 1985, Campus, S. 16-36. Download (PDF, 317 KB): kh1985b

[Editorischer Hinweis: Die Angabe ||17| etc. verweist auf die Seitenumbrüche und -zahlen in der Originalquelle. Es wird die jeweils ab der Markierung neue Seite angezeigt]


Vgl. dazu auch die weiteren Kongreßbeiträge:

sowie:


Klaus Holzkamp

1.

In der Zeit vor 1968 gab es an unserem Institut eine Einrichtung. die „Semestereröffnungstee“ genannt wurde und den Zweck hatte, bei Kerzenschein und Keksen die Erstsemester mit dem Lehrpersonal bekannt zu machen und in das Psychologiestudium einzustimmen. Aus diesem Anlaß hielt der Institutsdirektor jedesmal eine launige kleine Ansprache mit folgender Quintessenz: Die Erstsemester mögen vergessen, was sie bisher über Psychologie gehört und gemeint hatten, von nun an sei alles ganz anders. Insbesondere sollten sie die Hoffnung fahren lassen, das Psychologiestudium hätte etwas mit ihnen, ihren persönlichen Erfahrungen und Problemen zu tun, oder könne ihnen gar bei der Überwindung ihrer individuellen Schwierigkeiten und Ängste helfen. Solche Ansichten seien vorwissenschaftlich und für den Erwerb einer angemessenen Studienmotivation eher schädlich. Vielmehr gälte es nun zu begreifen, daß die Psychologie eine Wissenschaft wie jede andere sei, und als solche auf objektive Erkenntnis gerichtet, und wer diese Wissenschaft erlernen und ausüben wolle, müsse dem gemäß sein subjektives Meinen, das, was er aus eigener Erfahrung schon zu wissen glaube, zugunsten des nunmehr allein angezeigten wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zurückstellen, und so fort in diesem Sinne.

Mit solchen Worten unseres damaligen Institutsdirektors ist sicherlich auch noch das heutige methodologische Selbstverständnis des Hauptstroms der grundwissenschaftlichen Psychologie auf den Punkt gebracht. Jedoch sind es nicht nur die Studenten und immer mehr Psychologen, die sich mit der Forderung der Subjektverleugnung als Voraussetzung wissenschaftlicher Psychologie nicht abfinden wollen. Vielmehr sehen sich mit solchen Methodenvorstellungen ganze Zweige psychologischer Forschung und Praxis in ihrer Wissenschaftlichkeit angezweifelt, so insbesondere die klinische Psycho-||17|logie, die ohne die Einbeziehung und Reflexion der Selbsterfahrung auch des Therapeuten immer weniger auskommt. Ein solches Verdikt der Unwissenschaftlichkeit versieht den faktischen Bruch zwischen Grund- und Hauptstudium und den sich darin ausdrückenden Bruch zwischen grundwissenschaftlicher und praxisbezogener Psychologie nun auch noch mit wissenschaftstheoretischen Weihen und stellt ihn so als notwendig und unabänderlich hin. So wundert es nicht, daß in neuerer Zeit immer ausgeprägter alternative Vorstellungen von Psychologie, gemäß welchen die Subjektivität, der Alltag, das Leben, die Spontaneität etc. in die psychologische Forschung Eingang finden sollen, sich herausgebildet haben und verbreiten.

Was allerdings noch weitgehend unklar ist und in neuerer Zeit nicht klarer wurde, ist das Problem, wie sich die solcherart verfochtene Einbeziehung der Subjektivität in die Psychologie denn nun zur Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität verhält? Bleibt die Annahme eines Ausschließlichkeitsverhältnisses zwischen Subjektivität und Objektivität unangetastet und sieht man sich deshalb gezwungen, um der Subjektivität willen den Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit der Psychologie zurückzuweisen oder einzuschränken (gemäß dem bekannten Diktum der Humanistischen Psychologie, daß die amerikanische Psychologie die Wissenschaftlichkeit „übertreibt“)? Oder ist innerhalb der Psychologie die Entwicklung eines Konzeptes von wissenschaftlicher Objektivität möglich, die nicht die nicht die Ausschaltung der subjektiven Selbsterfahrung einschließt? Und sind von da aus vielleicht sogar Zweifel darüber angebracht, wieweit die traditionelle Psychologie die Wissenschaftlichkeit, die sie auf Kosten der Subjektivität anstrebt, überhaupt erreicht?

Solche Fragen werden selten präzise gestellt, geschweige denn hinreichend beantwortet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit unseres Kongreßthemas: „Subjektivität als Problem psychologischer Methodik“. Ich hoffe, daß wir auf dieser Tagung einige Klärungsarbeit zu dieser Problematik leisten können und will nun versuchen, ein paar einleitende Überlegungen dazu beizusteuern.

2.

Zunächst soll das erwähnte grundwissenschaftliche Postulat, daß in der Psychologie objektive Erkenntnis die Ausschaltung ||18| oder Kontrolle von Subjektivität einschließt, etwas genauer diskutiert werden: Wie wird dieses Postulat innerhalb der gängigen experimentell-statistischen Psychologie begründet? Welche Vorstellungen von Subjektivität sind dabei vorausgesetzt? Und wieweit ist der Anspruch, mit der Eliminierung des Subjektiven wissenschaftliche Strenge und Verbindlichkeit psychologischer Forschung zu erreichen, tatsächlich gerechtfertigt?

Mit dem gebräuchlichen experimentell-statistischen Untersuchungsschema sollen bekanntlich theoretische Annahmen über den Zusammenhang zwischen bestimmten Bedingungen unter die Individuen gestellt sind, und bestimmten Verhaltensweisen der Individuen empirisch geprüft werden. Dazu werden die Bedingungen im Experiment als unabhängige Variable und die Verhaltensweisen als abhängige Variable operationalisiert. Die methodischen Vorkehrungen der experimentellen Bedingungskontrolle sollen so weit wie möglich sicherstellen, daß die Daten über das Verhalten der Versuchspersonen nicht durch andere Faktoren als die eingeführten experimentellen Bedingungen, sogenannte „störende Bedingungen“, beeinflußt sind, weil nur so die Befunde tatsächlich als empirische Prüfung der jeweiligen theoretischen Zusammenhangsannahme interpretierbar seien. Im heute üblichen Verständnis erfordert. die Bedingungskontrolle eine Herstellung von Häufigkeitsverteilungen, meist durch Untersuchung mehrerer Individuen innerhalb der gleichen Anordnung. Da die Bedingungskontrolle zudem die Störfaktoren nicht total ausschalten kann, liegen die experimentellen Verhaltensdaten (abhängigen Variablen) normalerweise als um einen Mittelwert „streuende“ Verteilung vor, der man mit bloßem Auge nicht ohne weiteres ansehen kann, wieweit sie mit den eingeführten experimentellen Bedingungen (unabhängigen Variablen) zusammenhängt. Hier springt nun die schließende Statistik, sog. „Inferenz-Statistik“ ein, die die streuenden Verteilungen als Resultat der zufälligen Variabilität voneinander unabhängiger Elemente interpretiert und unter dieser Prämisse bestimmte wahrscheinlichkeitstheoretische Konstruktionen darauf anwendet. Auf diese Weise soll beurteilbar werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit in den experimentellen Daten eine Bestätigung der zu prüfenden Zusammenhangsannahme gesehen werden darf (bzw. gemäß der traditionellen „Nullhypothesen“-Logik: mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gegenhypothese, daß die Verteilung der experimentellen Verhaltensdaten nur zufällig gegenüber den eingeführten experimentellen Bedingungen variiert, zurückgewiesen werden kann). ||19|

Wir haben dieses experimentell-statistische Untersuchungsschema im Anschluß an Blumer „Variablenpsychologie“ genannt. Gemeint ist damit die skizzierte Grundvorstellung von der Logik psychologischer Forschung. Historisch entstanden ist die so gefaßte „Variablenpsychologie“ in der Folge der funktionalistisch-behavioristischen Wende, wobei sie heute zwar keineswegs die Methodologie der gesamten Psychologie deckt, aber das Kernstück der Wissenschaftlichkeitsvorstellungen gerade der akademischen Psychologie bildet. Die „Variablenpsychologje“ als implizite oder explizite Forschungslogik ist somit nicht durch einheitliche theoretische Konzeptionen gekennzeichnet. Vielmehr haben sich die zugeordneten Theorien sehr gewandelt und differenziert. Entscheidend ist aber, daß die Theorien, auch wenn sie inhaltlich über die variablenpsychologischen Beschränkungen weit hinausgehen, bei ihrer experimentellen Prüfung dann doch in ihrem Empiriebezug durch das Variablenschema reduziert sind, so daß die darüber hinausgehenden theoretischen Inhalte notwendig zu einem empirisch nicht gedeckten theoretischen theoretischen Überhang werden. So ist dann innerhalb psychologischen Methodenkontroversen immer wieder dafür votiert worden, diesen Überhang (als „surplus meaning“) wegzulassen, was stets auf den Widerspruch derer stieß, denen klar war, daß damit die inhaltliche Bedeutsamkeit psychologischer Forschung weitgehend preisgegeben würde Ich kann die komplexen Rückwirkungen des Variablenschemas auf die Eigenart und Geschichte der psychologischen Theorienbildung hier nicht näher diskutieren.

Aufgrund meiner Kurzdarstellung der variablenpsychologischen Forschungslogik kann ich die in diesem Rahmen gegebene Begründung für die methodische Notwendigkeit der Ausschaltung von Subjektivität zugunsten wissenschaftlicher Objektivität nun gleich in deren Begriffen formulieren. „Subjektivität“ wie sie hier verstanden wird, ist die zentrale Quelle jener Störbedingungen, die eliminiert oder neutralisiert werden müssen, wenn die experimentell-statistische Prüfung theoretischer Annahmen in der beschriebenen Weise möglich sein soll.

So hat sich bei der Vervollkommnung der variablenpsychologischen Verfahrensweisen immer deutlicher herausgestellt, daß bereits die Subjektivität des Versuchsleiters in verschiedener Hinsicht zur experimentellen Störquelle werden kann. Daraus resultierten mannigfache Vorkehrungen, die Wirkung des Versuchsleiters, seiner Person, seiner Erwartungen etc. durch Standardisierung bzw. Reduzierung seines Umgangs mit den Versuchsperson zu kontrollieren. Viel wichtiger sind ||20| aber die Vorstellungen der Variablenpsychologie über die Subjektivität der Versuchsperson als zu eliminierende oder zu neutralisierenden Störfaktor. Dies soll nun genauer dar gestellt werden. Dazu muß ich etwas weiter ausholen:

In das experimentell-statistische Variablenschema ist, unabhängig davon, wieweit man in den Theorien darüber hinaus ist, die methodische Grundaussage des Behaviorismus eingefroren, daß nur Reizbedingungen und äußerlich registrierbare Verhaltensweisen intersubjektiv zugänglich seien. Die subjektiven Erfahrungen, das Bewußtsein, des einzelnen werden dabei faktisch so behandelt, als ob sie seine nur ihm gegebenen Privatangelegenheit, demnach nicht intersubjektiv zugänglich, also auch nicht wissenschaftlich objektivierbar und verallgemeinerbar seien.

Innerhalb des Variablenschemas ergibt sich dadurch folgende Konstellation: Zwischen den objektiven, wissenschaftlich zugänglichen Instanzen der Reizbedingungen und den in raumzeitlichen Meßgrößen faßbaren Verhaltensweisen also den unabhängigen und den abhängigen Variablen, steht die subjektive Erfahrung bzw. das Bewußtsein der Versuchsperson, worüber man vorgeblich unmittelbar nichts wissen und sagen kann, und die demgemäß mit dem schönen Terminus „black box“ bezeichnet wurde.

Die mannigfachen Brüche und Widersprüche, die sich aus der Diskrepanz zwischen theoretischen Aussagen über subjektive Erfahrungstatbestände wie“ Angst“ „Emotionalität“, „Motivation“ etc. und der methodischen Leugnung ihrer unmittelbaren empirischen Erfaßbarkeit (qua Hypostasierung der „black box“) ergaben, führten zu ausgedehnten, diffizilen Kontroversen, die sich um die Konzepte „hypothetische Konstrukts“ und „intervenierende Variablen“ zentrierten. Ich brauche darauf hier nicht einzugehen: Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert lediglich die Frage, in welchem Sinne die so gefaßte Subjektivität der Versuchsperson als zu eliminierender Störfaktor erscheinen muß.

Die subjektive Erfahrung, das Bewußtsein, etc. der Versuchsperson erscheint innerhalb der variablenpsychologischen Vorstellungswelt so lange nicht als Störfaktor, sondern im Gegenteil als eigentliches Thema der Theorienbildung, wie man davon ausgehen zu können glaubt, daß dieses Bewußtsein tatsächlich durch die vom Experimentator eingeführten unabhängigen Variablen bedingt ist: Man kann in die „black box“ zwar nicht unmittelbar hineinschauen, aber man kann aus dem, was in die „black box“ hineinwirkt und aus der Art, wie es wieder herauskommt, erschließen oder vermuten, was darin passiert sein muß und sich seinen ||21| theoretischen Vers darauf machen.. Problematisch wird einem die Sache hier erst dann, wenn man sich der Einsicht nicht verschließt, daß – mindestens, sobald man die unspezifische Ebene automatischer physiologischer oder physiologienaher Reaktionen in Richtung auf eigentlich psychologische Fragestellungen überschreitet – die vom Experimentator eingeführten Bedingungen ja nicht direkt auf die Versuchsperson einwirken, sondern in dem Grade und der Art, wie die Versuchsperson Diese Bedingungen auffaßt und in Aktivitäten umsetzt. Das „Bewußtsein“ der Versuchsperson schließt eben auch ein, daß sie sich zum Experiment und den Versuchsbedingungen bewußt ins setzen kann. Wenn dies aber so ist, so wandern die vorgeblich objektiven Reizbedingungen in gewissem Sinne mit in die „black box“ hinein. Man weiß nicht, ob die Versuchsperson sich wirklich der Instruktion gemäß verhält, und etwa auf die Reizbedingungen reagiert, oder ob sie, statt die Taste zu drücken, wenn ihr die linke der „dargebotenen“ Linien länger erscheint, sich mit ihrem Tastendruck an einem innerlich abgezählten Strickmuster orientiert. So weiß man auch nicht ob die objektiv registrierten Verhaltensdaten tatsächlich zur Prüfung der vom Experimentator operationalisierten Zusammenhangsannahme taugen, oder vielleicht eine ganz andere, unerkannt im Kopf der VERSUCHSPERSON hausende Hypothese prüfen. Es ist klar, daß Subjektivität bzw. Bewußtsein im Sinne der Möglichkeit des spontanen, aktiven Sich-Verhaltens der Individuen zu den experimentellen Bedingungen für die Variablenpsychologie ein „Störfaktor“ ersten Ranges sein muß: Hier wird die Subjektivität sozusagen erst richtig „subjektiv“ bzw. die „black box“ erst richtig black.

So wundert es einen nicht, daß sich zur Bewältigung des Problems, wie eine solcherart „störende“ Subjektivität der Versuchsperson ausgeschaltet oder kontrolliert werden kann eine ganze Forschungsrichtung herausgebildet hat. Innerhalb dieser Arbeitsrichtung, die „Sozialpsychologie des Experiments“ genannt wird, versuchen manche Forscher, die Bedingungen, unter denen die Versuchspersonen im Experiment eigene, von den durch die Fragestellung und den Forscher intendierten abweichende Hypothesen bilden, selbst wieder experimentell zu untersuchen. Andere stellen dazu richtig fest, daß dieses Vorgehen zirkulär ist, da die Versuchsperson sich ja auch in den neuen Experimenten wiederum ihre eigenen Hypothesen bilden könnten. Manche Forscher haben die Hoffnung, die störende Subjektivität allmählich durch immer raffiniertere Manipulations- und Täuschungsmaßnahmen gegenüber den Versuchsperson in den Griff zu bekommen und so die variablenpsychologische Forschungslogik perpetuieren zu können ||22| Andere stellen dazu richtig fest, daß man es hier mit einer prinzipiellen, durch keine immanente Verbesserung der Experimentiertechnik überwindbare Problematik zu tun hat Die besondere Widersprüchlichkeit dieser Auseinandersetzungen läßt sich so umschreiben: Einerseits nähert man sich durch eindringende Analysen der experimentellen Situation immer wieder einer Problematisierung der Tragfähigkeit des Variablenschemas selbst an. Andererseits aber schreckt man vor entsprechenden Konsequenzen mangels einer sichtbaren Alternative zur variablenpsychologisch verstandenen Wissenschaftlichkeit immer wieder zurück und sucht – eigentlich wider besseres Wissen – weiter nach immanenten Lösungen Ich kann dies hier nicht genauer verfolgen.

Ein weiterer Aspekt der in der Variablenpsychologie unterstellten methodischen Notwendigkeit der Eliminierung von Subjektivität zugunsten von wissenschaftlicher Objektivität ergibt sich aus dem geschilderten Ansatz der Inferenzstatistik: Aussagen über die empirische Bestätigung von Zusammenhangsannahmen sind (wie gesagt) von dieser Forschungslogik aus nur möglich, wenn durch das Vorliegen zufallsvariabler Verteilungen die minimalen Anwendungsvoraussetzungen für statistische Prüfverfahren gegeben sind. Das, worauf sich die psychologischen Zusammenhangsannahmen beziehen, ist also nicht je meine individuelle Subjektivität, sondern sind statistische Kennwerte (Mittelwerte, Streuungsmaße etc. ) in denen Verteilungen reduzierend beschrieben sind. Üblicherweise charakterisieren solche Kennwerte Verteilungen von Daten, die mehrere Versuchspersonen in der gleichen Anordnung produziert haben. Aber auch wo in der sogenannten „Einzelfall-Statistik“ mehrere Daten von der gleichen Versuchsperson erhoben und in eine Verteilung gebracht worden sind, bin nicht „ich“, wie ich mich und meine Welt jetzt und hier erfahre, getroffen, sondern sind zu Zwecken statistischer Beurteilbarkeit Merkmale von vielen meiner Lebenssituationen zu Verteilungskennwerten verrechnet Von hier aus verdeutlicht sich nun unter einem neuen Gesichtspunkt der Sinn der eingangs geschilderten Ansprache unseres vormaligen Institutsdirektors: Ich selbst, in meiner konkreten subjektiven Lebenssituation komme in den Zusammenhangsannahmen der Variablenpsychologie tatsächlich nicht vor. Daten über meine Person, meine subjektiven Erfahrungen, meine gegenwärtige Situation usw. haben nämlich lediglich das Niveau von Einzelmerkmalen, die als Elemente in die Verteilungen eingehen, mithin in den Verteilungskennwerten, auf die sich die zu prüfenden Hypothesen allein beziehen, rettungslos und unwiederbringlich verschwun-||23|den sind. Als weiteren Aspekt eines Verständnisses von Subjektivität, das diese in Gegensatz zu wissenschaftlicher Objektivität bringt, finden wir also die Vorstellung, Subjektivität sei das bloß Einzelne, Individuelle, das der wissenschaftlichen Verallgemeinerung als statistische Verallgemeinerung oder Häufigkeitsverallgemeinerung gefaßt geopfert werden muß.

In solchen Auffassungen verdeutlichen sich in besonderem Grade die Widersprüche zwischen der variablenpsychologischen Konzeption von wissenschaftlicher Objektivierung und Verallgemeinerung und der Theorie und Praxis klinisch-therapeutischen Handelns, bei dem man es ja offensichtlich nicht mit statistischen Kennwerten, sondern mit je einzelnen Klienten und deren konkreter Lebenssituation zu tun hat. So wird verständlich, warum z. B. die alte Vorstellung, Verhaltenstherapie sei ein einfaches Anwendungsfeld der experimentellen Lernforschung, scheitern mußte. Im Ganzen ergibt sich bei den einschlägigen Kontroversen, etwa um das Schlagwort „clinical vs. statistical approach“ eine neue Variante der geschilderten widersprüchlichen Konstellation: Eigentlich ist es klar, daß man mit variablenpsychologischem Herangehen der klinischen Praxis methodisch nicht beikommen kann Trotzdem werden aufgrund der hypostasierten Gleichsetzung von Variablenpsychologie und Wissenschaftlichkeit alle möglichen Wege und Umwege erprobt, Abstriche gemacht Kompromisse angeboten etc., um dennoch das therapeutische Vorgehen variablenpsychologisch zu legitimieren.

3.

Wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich, findet sich die Variablenpsychologie mit ihrer Unterstellung, nur durch Ausschaltung von Subjektivität wissenschaftliche Objektivität erlangen zu können, vor mannigfachen Problemen und Widersprüchen. Dies allein muß allerdings noch nicht dagegen sprechen, wenn man sich dabei dem gesteckten Ziel wenigstens annähert: Man führt dann eben einen tapferen Kampf um mehr Wissenschaftlichkeit auf schwierigem Terrain. Wer sich indessen den gegenwärtigen Zustand der variablenpsychologisch geleiteten Forschung unvoreingenommen ansieht, der wird feststellen, daß von einer solchen Annäherung keine Rede sein kann. Man hat zwar die Subjektivität in den genannten Aspekten auszuschalten versucht ||24| aber damit keineswegs „Objektivität“ im Sinne der Eindeutigkeit des Empiriebezuges der zu prüfenden Hypothesen erreicht. Die Interpretation der jeweiligen Untersuchungsresultate ist vielmehr offensichtlich weitgehend beliebig. Man verfügt zwar über bedingungsanalytisch gewonnene und statistisch geprüfte Befunde aber man weiß nicht recht was sie bedeuten sollen. Mehr noch: Es gibt in der Variablenpsychologie zwar Kriterien darüber, wie man Untersuchungen zu planen und auszuwerten habe, aber schlechterdings keinerlei eindeutige Kriterien darüber, welche Interpretationen der Befunde jeweils zulässig und welche inadäquat sind. Wenn man mithin statistisch gesicherte Befunde üblicherweise als Bestätigung der experimentell operationalisierten theoretischen Hypothese auffaßt, dann schlicht deswegen, weil man andere, ebenso mögliche, Erklärungsweisen von vornherein nicht in Betracht zieht. Dies tut dann aber häufig der nächste Experimentator, der für seine Alternativerklärung sodann ebenfalls empirische Bestätigungen findet, deren Bezug zur neuen Hypothese genau so beliebig ist, usw. Entsprechend muß man, sofern eine Hypothese nicht empirisch bestätigt werden konnte, sich keineswegs groß grämen: Niemand hindert einen daran, mannigfache Gründe dafür beizubringen, warum hier ja auch gar nichts herauskommen konnte, und es ist lediglich eine Frage geistiger Beweglichkeit und Einfallsfülle, die scheinbar negativen Resultate schließlich doch noch als eine „tendenzielle“ Bestätigung der Hypothese hinzustellen. So sind denn die gebräuchlichen Artikel über experimentelle Untersuchungen eine Mischung von vorgeblich „harten“ statistisch geprüften Daten und mehr oder weniger haltlosem Gerede darüber, was die Daten theoretisch zu bedeuten haben. Der Umstand daß mangels verbindlicher Bewertungskriterien hier die eine theoretische Erklärung letztlich genauso gut oder; schlecht ist wie die andere, ist sicherlich eine der wesentlichen Bedingungen für jenen gegenwärtigen Zustand der Psychologie, wie er ja auch aus dem Lager der Variablensychologie immer wieder diagnostiziert worden ist: Nebeneinander von unvereinbaren Minitheorien ohne empirische Entscheidbarkeit ihrer Geltung mit modischem Wechsel von Theorietrends ohne ausweisbaren Wissenschaftsfortschritt.

Woran liegt es nun, daß man innerhalb der variablenpsychologischen Forschung Versuchsergebnisse nicht auf hinreichend verbindliche und eindeutige Weise interpretieren kann, also wissenschaftliche Objektivität bisher nicht erreicht worden ist? Liegt es daran, daß die störenden subjektiven Faktoren eben noch nicht effektiv genug ausgeschaltet oder ||25| kontrolliert werden können? Oder hat die fehlende theoretische Verbindlichkeit mit den Objektivierungsversuchen der experimentell-statistischen Planung nichts zu tun? Oder besteht sogar ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Art und Weise, in der hier Subjektivität methodisch eliminiert werden soll, und der weitgehenden Uninterpretierbarkeit der auf diesem Wege erlangten Versuchsergebnisse? Ich halte die letzte Version für richtig und will nun zu begründen versuchen warum.

Dabei gehe ich von dem Umstand aus, daß man sich ja in gewissem Sinne auch im täglichen Leben Hypothesen über die Befindlichkeiten, Motive, Beweggründe von Menschen bildet. Derartige Hypothesen sind mindestens so weit zutreffend und empirisch bewährt, daß wir gemeinsam unser Leben führen können. Wie kann dies sein? Kurz gesagt deswegen weil unsere Lebenswelt aus allgemein zugänglichen gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen im Sinne verallgemeinerter Handlungsmöglichkeiten besteht. Wenn andere Menschen derartige Handlungsmöglichkeiten realisieren so werden von da aus auch deren Handlungen und Befindlichkeiten für mich bedeutungsvoll, d.h. als begründet verständlich. Sehe ich z. B. jemanden mit einem Hammer in der Hand, einem Nagel zwischen den Zähnen und einem Bild unter dem Arm ankommen, so ist für mich normalerweise aus dem gemeinsamen Lebenszusammenhang klar: Er will das Bild aufhängen. Seine „Innerlichkeit“ ist mir dabei meist kein besonderes Problem, da das, was der andere im Augenblick fühlt, denkt, will, sich ja in den praktisch relevanten Aspekten aus seinen bedeutungsvollen Handlungen für mich entäußert. Tut der andere in der Folge Unerwartetes (Hypothesenkonträres) legt etwa den Hammer weg, spuckt den Nagel aus, stellt das Bild an die Wand und läuft schnell in die entgegengesetzte Richtung, so ist er damit für mich noch lange nicht rätselhaft und unverständlich. Ich nehme vielmehr an, daß ich bestimmte Prämissen seiner im Prinzip für mich verständlichen neuen Handlungsvarianten nicht kenne. Ich frage also (falls er nicht schon entsprechende Selbstkommentare abgegeben hat) bei ihm nach: Was ist denn nun los? Wahrscheinlich wird er mir dann zurufen: Milch kocht über, oder ähnliches, und damit ist wieder alles klar für mich. Aber selbst wenn er, obwohl er mich gehört haben muß, nicht antwortet, ergibt sich darüber normalerweise aus unserem gemeinsamen Lebens- und Bedeutungszusammenhang eine in der weiteren Alltagspraxis leicht prüfbare Hypothese. Etwa: Ach, der redet nicht mit mir, ist wohl immer noch sauer wegen gestern. ||26| Aber auch der Grenzfall einer für mich verschlossenen Innerlichkeit des anderen heißt nicht Unverständlichkeit und Bedeutungslosigkeit, sondern hat möglicherweise sogar eine besonders schwerwiegende und folgenreiche Bedeutung innerhalb unseres gemeinsamen Lebenszusammenhangs.

Ich brauche diese Konzeption intersubjektiver Bedeutungs- und Begründungszusammenhänge, die wird sehr ausführlich abgeleitet und entfaltet haben, hier nicht genauer darzustellen. Bereits aus meinen wenigen Hinweisen geht nämlich hervor, daß die mit der Bezeichnung „black box“ umschriebene Unzugänglichkeit der „Innerlichkeit“ des anderen keineswegs ein allgemeines Merkmal zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern ein im variablenpsychologischen Experiment künstlich hergestellter Mangelzustand intersubjektiver Verständigung ist, der die mangelnde Möglichkeit verbindlicher theoretischer Interpretationen unmittelbar einschließt. Indem der Experimentator nämlich gemäß dem variablenpsychologischen Verständnis wissenschaftlicher Objektivität das „Verhalten“ der Versuchsperson nur so weit berücksichtigen darf, wie es als „bedingt“ durch die eingeführte Reizkonstellation (unabhängige Variable) faßbar ist, muß er den geschilderten Verständigungsrahmen intersubjektiver Bedeutungs- und Begründungszusammenhänge systematisch unterschreiten: Da die experimentelle Realität, die tatsächlich aus für die Versuchsperson bedeutungsvollen verallgemeinerten Handlungsmöglichkeiten besteht, nur in ihren metrischen Merkmalen zur Kenntnis genommen wird, ist dem Experimentator die Möglichkeit verschlossen, die Aktivitäten der Versuchsperson als begründet in solchen verallgemeinerten, also auch dem Experimentator zugänglichen Prozeß intersubjektiver Verständigung einzuleiten, in dessen Verlauf die Befindlichkeit des anderen als Aspekt seiner besonderen Weise per Handlungsrealisierung von Bedeutungen sich für mich immer weiter klärt und vereindeutigt. Damit ist auf der einen Seite die „black box“ als Inbegriff der subjektiven Erfahrungen und Befindlichkeiten der Versuchsperson konstituiert, die – da sie von ihren gegenständlichen, intersubjektiven Bedeutungsbezügen abgeschnitten sind – in der variablenpsychologischen Anordnung zur unzugänglichen, privaten Innerlichkeit werden müssen. Auf der anderen Seite ergibt sich daraus die geschilderte Unmöglichkeit verbindlicher Interpretationen der Befunde: All die genannten Vermittlungsprozesse, durch welche meine Befindlichkeit als Aspekt meiner gesellschaftlich bedeutungsvollen Handlungen intersubjektiv zugänglich wird, sind hier ausgeklammert. So bleibt ||27| zwischen den metrischen Reizbedingungen und äußerlich registrierbaren Verhaltensweisen der Versuchsperson eine große Leerstelle übrig, die nur „freischwebend“ mit mehr oder weniger haltlosen Spekulationen darüber, was in der Versuchsperson wohl vorgegangen sein mag, überbrückt werden kann. Die „black box“ als Lieferant uninterpretierbarer Daten ist also das Resultat von methodischen Zurüstungen, durch welche dem Experimentator gezielt und systematisch die Möglichkeit entzogen ist, etwas über die Versuchsperson und ihre Befindlichkeit in Erfahrung zu bringen.

Dieses Dilemma läßt sich noch von einer anderen Seite beleuchten, wenn man den hier naheliegenden Einwand diskutiert: Es sei doch unrichtig, daß der Experimentator von einem intersubjektiven Verständigungsprozeß mit der Versuchsperson abgeschnitten sei, er könne sie doch, während des Experiments oder danach, über ihre einschlägigen Befindlichkeiten befragen. In der Tat gehört etwa die sogenannte „postexperimentelle Befragung“ zu den innerhalb variablenpsychologischer Untersuchungen nicht selten angewandten Praktiken. Nur, was ist tatsächlich damit gewonnen? Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Entweder die Befragung geschieht sozusagen außerhalb des offiziellen Programms, also außerhalb der Aktivitäten variablenpsychologischer Versuchsplanung; in diesem Fall haben die Befragungsergebnisse, da sie nicht als „bedingt“ durch die Reizkonstellation zu fassen sind, mit der Prüfung der Hypothesen über den Zusammenhang von unabhängigen und abhängigen Variablen nicht das geringste zu tun; sie eignen sich so bestenfalls zur veranschaulichenden Garnierung der nach wie vor unverbindlichen theoretischen Interpretationen bzw. erfüllen lediglich eine Alibifunktion, durch welche verschleiert wird, daß im eigentlichen Experiment die Versuchsperson als Subjekt nichts zu sagen hat Oder die Befragung wird als Teil der experimentellen Planung und Hypothesenprüfung eingeführt; dann handelt es sich um „verbale responses“ als „abhängige Variable“, die wiederum nur im Lichte der „unabhängigen Variablen“ als metrischen Reizbedingungen interpretiert werden dürfen; damit ist das geschilderte Dilemma also nicht überwunden, sondern reproduziert. Durch die variablenpsychologische Reduzierung des in intersubjektiven gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen handelnden Menschen auf den „bedingten Menschen“ sind eben prinzipiell jene interpersonalen Verständigungsprozesse suspendiert, innerhalb welcher somit durch Nachfragen wechselseitige Vereindeutigungen der Befindlichkeit des anderen im Handlungskontext erreicht werden könnten. ||28|

Zusammengefaßt: wenn ein Experimentator sich kurz einmal darauf besinnen würde, daß er selbst auch ein Mensch also von seinen eigenen Hypothesen mitbetroffen ist, und wenn er so die variablenpsychologische Experimentalfrage „tun Menschen unter den und den Bedingungen das und das oder das und das?“ an sich selbst richtete, so müßte er sofort feststellen: Die Frage ist in der Form unbeantwortbar. Was ich tue, das bestimmt sich nach meinen realen Handlungsmöglichkeiten innerhalb meines konkreten intersubjektiven Lebenszusammenhangs und ist dem gemäß durch die in der Hypothese genannten „Reizbedingungen“ quantitativ und qualitativ hoffnungslos unterbestimmt. Wenn dies so ist, dann müssen aber die Handlungen andere Menschen, sofern man sie lediglich als „abhängige Variablen“ von Reizbedingungen erfassen will, notwendigerweise uninterpretierbar sein. (Davon sind übrigens auch Konzepte wie das Skinnersche „operant conditioning“ nicht ausgenommen : Hier werden die „operants“ zwar als spontane Akte aufgefaßt, deren Auftretenshäufigkeit wird dann aber wiederum lediglich als „bedingt“ durch die experimentell gesetzten Konsequenzen betrachtet – was ich nicht näher diskutieren kann.)

Die Gründe für die wissenschaftliche Unverbindlichkeit der theoretischen Interpretation variablenpsychologischer Befunde verdeutlichen sich noch auf einer anderen Ebene wenn man den geschilderten Modus statistischer Prüfung in den gegenwärtigen Argumentationszusammenhang einbezieht: Hier wird – wie gesagt – unterstellt, daß die theoretischen Hypothesen sich im Interesse ihrer Prüfbarkeit und Verallgemeinerbarkeit nicht auf Individuen bzw. konkrete individuelle Lebenssituationen beziehen können, sondern nur auf Kennwerte statistischer Verteilungen“ Ein statistischer Mittelwert z.B. kommt ja dadurch zustande, daß man an unterschiedlichen Individuen bzw. Situationen nur Merkmale berücksichtigt, die sie als gleichartige Elemente einer Verteilung ausweisen, und durch bestimmte Verfahren die zentrale Tendenz der quantitativen Ausprägung dieser Merkmale berechnet. Damit sind nicht nur die jeweiligen Besonderheiten konkret-historischer Lebenszusammenhänge auf lediglich quantitative Unterschiede hinsichtlich eines gleichartigen Merkmals reduziert, also aus dem Kontext herausgerissen, innerhalb dessen sie allein als intersubjektiv bedeutungsvoll erfaßbar wären: Darüber hinaus ist der aus den Merkmalen berechnete Mittelwert weiter nichts als ein statistisches Artefakt, eine fiktive Größe, der unmittelbar nichts in der psychischen Realität entspricht: Die Merkmale der ||29| wirklichen Erfahrung/Befindlichkeit eines je konkreten Subjekts stellen ja, selbst in ihrer quantitativ reduzierten Form lediglich die Verteilungselemente dar, aus denen der Kennwert berechnet wurde, auf den sich dann das statistische Urteil bezieht; sie kommen hier also selbst nicht mehr vor. Wenn nun die Forscher die errechneten statistischen Kennwerte (bzw. ihr Verhältnis zueinander) theoretisch interpretieren wollen, so müssen sie gleichwohl so tun und reden, als ob sie sich dabei auf die Einheit subjektiver Welt- und Selbsterfahrung beziehen könnten. Auf andere Weise sind nämlich psychologische Interpretationen nicht möglich. Es ergibt z.B. keinen Sinn, über „Angst“ zu reden, ohne dabei vorauszusetzen, daß jemand bestimmtes in einer bestimmten Situation die Angst hat. So kreiert die Variablenpsychologie dann durch ihre kennwertbezogenen psychologischen Aussagen eine artifizielle Unperson, ein statistisches Gespenst als den Ort, an dem die angenommenen psychischen Prozesse tatsächlich antreffbar wären. Dieses statistische Gespenst ist, wie alle Gespenster, ein total abstraktes Wesen: Man steht mit ihm in keinem Lebenszusammenhang, man kennt auch nicht seine konkreten Daseinsumstände, und kann somit nichts Realitätshaltiges darüber sagen. Dies gilt nicht nur für die Interpretation von Mittelwerten, sondern für die theoretische Deutung aller statistischen Kennwerte, bis hin zu komplexen Kennwerten wie Faktorenladungen: So ist die abenteuerliche Willkür der üblichen Faktoren-Benennungen ja derart offensichtlich, daß sie sogar schon einigen Faktorenanalytikern selbst aufgefallen ist. – Man sieht also, was bei dem Versuch herausgekommen ist, das vorgeblich bloß Einzelheitliche und Zufällige individueller Subjektivität durch statistische Objektivierung und Verallgemeinerung zu überwinden: Man ging, das Allgemeine zu suchen und man fand, besser erfand, den variablenpsychologischen Homunculus.

Ich hoffe, durch die damit abgeschlossenen Überlegungen ist deutlich geworden: Meine frühere Aussage über die Unverbindlichkeit und Haltlosigkeit variablenpsychologischen Theoretisierens war keineswegs ein lediglich persönlicher Eindruck oder gar eine böswillige Übertreibung: Es läßt sich aus den verschiedenen Aspekten der variablenpsychologischen Forschungslogik ableiten, daß die hier aus methodischen Gründen für notwendig erachtete Eliminierung individueller Subjektivität die Uninterpretierbarkeit, also mangelnde wissenschaftliche Objektivität, der dabei gewonnenen Daten zwingend einschließt. Interessant wäre es nun, genauer zu verfolgen, wie man etwa versucht, die Interpretationsun-||30|sicherheit durch Rückgriff auf einen platten, über die konkrete Lebenslage der Betroffenen hinweggehenden Alltagskonsens zu reduzieren; oder wie man bemüht ist, die theoretische Vieldeutigkeit durch sekundäre Interpretationsregeln innerhalb hermetischer Kunstsprachen zu reduzieren, die man zu diesem Zweck für jeden theoretischen Minitrend erfindet: Die so angestrebte terminologische Verbindlichkeit hebt sich dabei deswegen selbst auf, weil die übergeordneten Interpretationsregeln nicht sachbegründet sind, sondern lediglich traditionalen, konventionellen Charakter haben usw. All dies kann hier aber nicht weiter diskutiert werden.

Nicht ausweichen kann. ich indessen der Frage, was denn nun aus meinen Analysen folgt? Wenn es richtig ist, daß der variablenpsychologische Weg im wesentlichen eine Sackgasse darstellt, und wenn man dennoch auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit psychologischen Tuns, schon zur Begründung der Verantwortlichkeit dieses Tuns vor den Betroffenen, nicht verzichten will, dann müßte ja eine Fundierung wissenschaftlicher Objektivität und Verallgemeinerbarkeit ohne die variablenpsychologische Eliminierung von Subjektivität möglich sein. Wie aber könnte eine solche Fundierung aussehen?

4.

So viel sollte klar sein: Nichts ist damit getan, wenn man das Experiment und die Statistik aus der Psychologie ausschließen will. Es ist nicht einmal ausgemacht, wieweit dies überhaupt berechtigt ist. Die Kritik richtet sich lediglich gegen die Art und Weise, in welcher Experiment und Statistik innerhalb der Variablenpsychologie verwendet werden, nämlich als methodischer Ausdruck des Dogmas vom „bedingten Menschen“. Wenn die Unverbindlichkeit und Haltlosigkeit psychologischen Theoretisierens überwindbar sein soll, so darf – dies hat sich gezeigt – das Handeln der Menschen in intersubjektiven gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen, damit die Welt- und Selbsterfahrung des Subjekts bzw. das individuelle Bewußtsein als deren Ort, in keiner Hinsicht aus methodischen Gründen reduziert werden. Die so gefaßte subjektive Selbsterfahrung ist vielmehr, wenn psychologische Resultate wissenschaftlich interpretierbar sein sollen, als unhintergehbare Grundlage aller methodischen Vorkehrungen zur Verwissenschaftlichung der Psychologie ||31| vorauszusetzen. Da „Selbsterfahrung“ oder „Bewußtsein“ immer „meine“ Erfahrung bzw. „mein“ Bewußtsein, also in ihrer Gegebenheitsweise quasi „erster Person“ sind, ergibt sich hier als Alternative zur Variablenpsychologie als Psychologie vom „Standpunkt außerhalb“ eine Psychologie von „je-meinem“ Standpunkt. Damit ist natürlich nicht etwa irgendeinem „Solipsismus“ das Wort geredet, sondern (wie in der Formulierung „je mein“ o.ä. terminologisch gefaßt) lediglich hervorgehoben, daß soziale Beziehungen auf menschlichem Niveau „intersubiektive“ Beziehungen sind, d.h. Beziehungen, in denen verschiedene subjektive „Intentionalitätszentren“ aufeinander bezogen sind, also jeweils ich indem ich den anderen von meinem Standpunkt wahrnehme, gleichzeitig mitwahrnehme, daß dieser mich von seinem Standpunkt aus als einen ihn Wahrnehmenden wahrnimmt, und in diesem Sinne unsere Perspektiven miteinander verschränkt sind.

Wenn man Psychologie so als „intersubjektive“ Wissenschaft, oder (da „Subjektivität“ immer „Intersubjektivität“ einschließt) kurz als „Subjektwissenschaft“ faßt, so bedeutet dies, daß der Forscher mit seinen Theorien und Verfahren sich nicht lediglich auf andere bezieht, selbst aber heraushalten kann, sondern sich davon als Subjekt voll mitbetroffen sieht: Da „Intersubjektivität“ das spezifisch menschliche Beziehungsniveau ist, gehört in einer Psychologie, die dieses Niveau ihres Gegenstands nicht verfehlen will, nicht nur die Subjektivität der anderen, sondern auch die damit verschränkte Subjektivität des Forschers quasi zur „Empirie“, die es psychologisch zu erforschen gilt. Damit ist auch gesagt, daß subjektwissenschaftliche Theorien und Verfahren nicht Theorien und Verfahren „über“ Menschen, sondern „für“ Menschen sind: Sie dienen (im günstigen Falle) „je mir“ zur Klärung und Veränderung meiner eigenen Erfahrung und Lebenspraxis.

Aus der „subjektwissenschaftlichen“ Position ergibt sich, was in diesem Zusammenhang wissenschaftliche Objektivität und Verallgemeinerbarkeit allein heißen kann: „Objektivität“ und „Subjektivität“ sind in ihrem Verhältnis zueinander so zu fassen, daß „Objektivität“ nicht auf Kosten meiner „Subjektivität“ geht, sondern quasi „Objektivierung des Subjektiven“ bedeutet. Und „Verallgemeinerbarkeit“ ist im Verhältnis zu mir als einzelnem Individuum und meiner unmittelbaren Erfahrung so zu fassen, daß die „Verallgemeinerung“ das Einzelne nicht zum Verschwinden bringt, sondern quasi „Verallgemeinerung des Einzelnen“ bedeutet. ||32|

Sicherlich mag mancher zunächst ratlos sein, wie denn eine solche subjektwissenschaftliche Programmatik der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Einzelnem und Allgemeinem, realisierbar sein soll. Um diese Ratlosigkeit zu überwinden, muß man zunächst von der Vorstellung der notwendigen Ich-Eingeschlossenheit Unzugänglichkeit und Undurchdringlichkeit subjektiver Selbsterfahrung und individuellen Bewußtseins, wie sie in der „black box“ variablenpsychologisch zum Ausdruck kommt, Abschied nehmen. Man sollte von da aus meinen früheren Darlegungen nähertreten, in denen ich zeigen wollte: Menschliche Handlungen, samt den subjektiven Befindlichkeiten, aus denen sie sich begründen, haben als Realisierungen allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten prinzipiell, indem sie für mich bedeutungsvoll sind, auch für andere Bedeutung, und dieser intersubjektive Bedeutungs- und Begründungszusammenhang kann innerhalb der Variablenpsychologie nur deswegen nicht in den Blick kommen, weil er methodisch eliminiert ist. Wenn man von da aus weiterdenkt, dann deutet sich einem an, wie unter der Voraussetzung solcher intersubjektiver Bedeutungszusammenhänge das Problem wissenschaftlicher Objektivierung und Verallgemeinerung anzugehen ist: Zwar ist meine subjektive Selbsterfahrung jeweils nur „mir“ gegeben, aber dennoch erschöpft sich nicht darin, sondern ist als Befindlichkeitsaspekt meiner Handlungen lediglich eine individuelle Variante von Erfahrungen, die in ihren allgemeinen Zügen auf objektive gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten und die damit verbundenen konkret-historischen Behinderungen und Widersprüche bezogen sind. So bin ich also in meinen jeweils ganz persönlichen Erfahrungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, durch welche die Möglichkeiten und Notwendigkeiten meines Handelns bestimmt sind, mit den anderen Menschen, die sich in ihrem Handeln vor den gleichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten sehen, real verbunden. Meine Erfahrungen sind demnach in diesem intersubjektiven intersubjektiven Erfahrungszusammenhang, soweit darin die Art und Weise meiner persönlichen Umsetzung konkreter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen faßbar wird, als subjektive Erfahrungen objektivierbar und verallgemeinerbar.

Wenn in solchen Argumentationszusammenhängen von „Verallgemeinerung“ die Rede ist, so wird darunter allerdings etwas anderes verstanden als die in der Psychologie gängige „Häufigkeitsverallgemeinerung“ von Stichprobenkennwerten auf Populationskennwerte: „Verallgemeinerung“ bedeutet ||33| hier Erfassung und Inrechnungstellung derjenigen Vermittlungsebenen und -aspekte, durch welche ein je vorliegender Fall subjektiv-intersubjektiver Erfahrungen/Befindlichkeiten als spezielle Ausprägungsform eines allgemeinen Falles begreifbar wird. Diese Verallgemeinerungsweise, die wir zu Abhebung von der Häufigkeitsverallgemeinerung „strukturelle Verallgemeinerung“ nennen, ist in anderen Wissenschaften als der Psychologie keineswegs etwas Besonderes. Wenn zum Beispiel ein Physiker bei der experimentellen Realisierung des Fallgesetzes einen Meßwert erhält, der von der allgemeinen Formel v= g/2 t2 abweicht, so kann er ihn dennoch bei Inrechnungstellen von Vermittlungsebenen wie Reibung oder Luftwiderstand umstandslos als besondere Erscheinungsform des streng geltenden allgemeinen Gesetzes begreifen. Der Physiker wird jedoch keineswegs auf die Idee kommen den Gegenstand vorsichtshalber hundertmal herunterfallen zu lassen. aus den dabei erhaltenen Meßwerten eine Verteilung zu bilden, daraus Mittelwerte und Streuungsmaße zu berechnen und in Weiterverfolgung dieses Weges die Geltung des Fallgesetzes statistisch zu prüfen. Die Universalisierung derartiger Vorgehensweisen zum wissenschaftlichen Verfahren par excellence war den Variablenpsychologen vorbehalten.

Wenn nun die so gefaßte „strukturelle Verallgemeinerung“ als subjektwissenschaftliches Verfahren entwickelt werden soll, so ist dabei vorausgesetzt, daß man meinen subjektiven Befindlichkeiten im Alltag nicht unmittelbar ansieht, daß und in welchen Ebenen sie mit allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen vermittelt sind: Nur deswegen ist eine wissenschaftliche Analyse an dieser Stelle nötig und möglich. (Nach Marx könnte und brauchte es keine Wissenschaft zu geben, wenn Wesen und Erscheinung zusammenfielen.) Innerhalb der alltäglichen Lebenspraxis setzt sich offensichtlich in meinen Erfahrungen das darin liegende Allgemeine immer nur sporadisch und bruchstückhaft auch in meinem Denken durch. So erkenne ich auch die in meinen Erfahrungen liegende Verbundenheit mit anderen Menschen in gleicher gesellschaftlicher Lage und sich daraus ergebender Interessenlage nur immer aspekthaft als punktuelle Durchdringung der scheinhaften Privatheit meiner Befindlichkeit. Die Ursachen für diese mangelnde Expliziertheit der allgemeinen gesellschaftlichen Bezüge meiner Befindlichkeit liegen in besonderen, hier nicht näher auszuführenden Eigenarten der unmittelbaren Lebenspraxis von Individuen, speziell in ihrer „Privatexistenz“ unter bürgerlichen Verhältnissen. ||34|

Die generelle Zielsetzung subjektwissenschaftlicher Forschung besteht also in der verallgemeinernden Herausarbeitung der Vermittlungsebenen, durch welche subjektive Erfahrungen unter bestimmten gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnissen von den Betroffenen als besondere individuelle Erscheinungsformen der unter den jeweiligen Verhältnissen gegebenen objektiven Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen begriffen werden können. Dies ist gleichbedeutend mit der Herausarbeitung der in der jeweils analysierten gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Das subjektwissenschaftliche Erkenntnisinteresse erweist sich so als eine verallgemeinerte Form der Interessen der Individuen an der Erweitung der Verfügung über ihre Daseinsbedingungen, damit Erhöhung subjektiver Lebensqualität.

Zur Realisierung des subjektwissenschaftlichen Programms ist vor allem anderen die Vorleistung einer historisch-empirischen Gewinnung und Begründung von Kategorien nötig, mit welchen die Betroffenen die Ebenen und Aspekte der Vermittlung ihrer subjektiven Erfahrungen mit allgemeinen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen adäquat erfassen können. („Luftwiderstand“ und „Reibung“ als Vermittlungsebenen zwischen besonderer Erscheinungsform und allgemeinem Gesetz des freien Falles verstehen sich ja auch nicht von selbst, sondern sind Resultat eines langen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses.) Die begründete Herausarbeitung eines derartigen subjektwissenschaftlichen Systems von Vermittlungskategorien war über lange Zeit die Hauptbeschäftigung der Kritischen Psychologie. Dabei sind um die Zentralkategorien „gesellschaftliche Bedeutungen“ und „subjektive Handlungsfähigkeit“ [herum] unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung zwischen gesellschaftlicher und individueller Existenz auch neue Bestimmungen psychischer Funktionen wie Kognition, Emotionalität und Motivation, als Aspekte subjektiver-intersubjektiver Handlungsfähigkeit, entwickelt und neue Grundlagen für das Verständnis personaler Konflikte, der Abwehr und des Unbewußten erarbeitet worden.

In neuerer Zeit wurden uns darüber hinaus die Schlußfolgerungen immer klarer, die aus den Resultaten der Kategorialanalyse für eine angemessene subjektwissenschaftliche Forschungsmethodik zu ziehen sind. In diesem Zusammenhang kamen wir auf die zentrale Funktion wissenschaftlich durchdrungener Lebenspraxis für die Überprüfung und Objektivierung subjektwissenschaftlicher Theorien. Dies wiederum bedeutete die tendenzielle Überwindbarkeit der Trennung ||35| zwischen grundwissenschaftlicher Psychologie und psychologischer Praxis, da Forschung und Praxis sich nur als verschiedene Akzente innerhalb eines einheitlichen Wissenschaftsprozesses erwiesen. Was davon schon faßbar war, habe ich im 9. Kapitel der „Grundlegung der Psychologie“ dargestellt. Neuere Aspekte werden auf diesem Kongreß vorgestellt und diskutiert. Dazu gehören auch, in der Projekt-Sektion, erste Berichte über Verfahrensweisen und Resultate subjektwissenschaftlicher Forschungsprojekte.

5.

Wenn man von der Beschäftigung mit den subjektwissenschaftlichen Vorhaben hoch und die Runde blickt, um den eigenen historischen Standort, außerhalb der Variablenpsychologie aber innerhalb der Psychologie, genauer zu erkunden, so werden einem vielfältige Bezüge sichtbar. So mag man etwa erstaunt feststellen, daß Wundt die unmittelbare Erfahrung als Gegenstand der Psychologie bestimmt hat: Sollten dort schon Ansätze einer Erfassung des Bewußtseins als Medium interpersonaler Welterfahrung zu finden sein, die dann durch die Variablenpsychologie mit ihrer Bewußtseinsprivatisierung verschüttet worden sind? Ebenso wird man dabei auf die alte Kritik Lewins am Häufigkeits- und Durchschnittsdenken in der Psychologie und auf sein methodologisches Konzept des Aufsteigens vom Einzelfall zum „reinen Fall“ stoßen: Könnte es sein, daß hier Möglichkeiten einer Vermeidung der variablenpsychologischen Sackgasse gelegen hätten, die Lewin in der Emigration unter dem Druck der behavioristischen Ideologie in den USA dann selbst aus dem Auge verloren. hat? Weiterhin könnte einem in diesem Zusammenhang auffallen, daß Piaget offensichtlich sehr bedeutsame Resultate über die Gesetzlichkeiten kognitiver Entwicklung ohne jeden statistischen Aufputz, lediglich im experimentierenden Umgang mit seinen eigenen drei Kindern, gewann: Hat man es hier vielleicht mit experimentellen Anordnungen zu tun, die nicht den variablenpsychologischen Verkürzungen unterliegen, sondern in der Hand der Betroffenen sinnvolle Beiträge zu subjektwissenschaftlicher Erkenntnis beibringen könnten? Auch könnte man versucht sein, die sogenannte verstehende oder geisteswissenschaftliche Psychologie wieder einmal etwas genauer zu betrachten: Wurde sie vielleicht durch die „naturwissenschaft-||36|lich“ sich gebärdende Psychologie vorschnell von der Bühne wissenschaftlicher‘ Auseinandersetzungen gefegt?

Bei einer derartigen Umschau wird man auch die zeitgenössischen Parallel-Anstrengungen, eine Alternative zur Variablenpsychologie zu entwickeln, genau analysieren müssen, so die Handlungsforschung, Ethnomethodologie, phänomenologische Psychologie, qualitative Sozialforschung Biographieforschung, kritische Hermeneutik: Wieweit werden in solchen Ansätzen lediglich auf eklektizistische Weise Kompromisse mit der Variablenpsychologie geschlossen? Wieweit geht man in die gleiche Richtung wie wir mit unserem Ansatz, so daß eine wechselseitige Förderung der wissenschaftlichen Entwicklungsarbeit möglich wäre? Und wieweit sind dabei sogar ganz andersgeartete, aber gleichwohl begründete und perspektivenreiche Alternativen zum variablenpsychologischen Holzweg in Rechnung zu stellen? Bei der Klärung auch solcher Probleme soll uns dieser Kongreß weiterhelfen.

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Grundkonzepte der Kritischen Psychologie

Veröffentlicht in: Diesterweg-Hochschule (Hrsg. 1985), Gestaltpädagogik – Fortschritt oder Sackgasse, Berlin: GEW Berlin, S. 31-38. Reprint in: AG Gewerkschaftliche Schulung und Lehrerfortbildung (Hrsg., 1987), Wi(e)der die Anpassung. Texte der Kritischen Psychologie zu Schule und Erziehung, Verlag-Schulze-Soltau, S. 13-19. Download (PDF, 272 KB): kh1985a

[Editorischer Hinweis: Die Angabe ||14| etc. verweist auf die Seitenumbrüche und -zahlen in der Reprintausgabe (nicht der Originalquelle). Es wird die jeweils ab der Markierung neue Seite angezeigt]


Klaus Holzkamp

Wenn es um Individualität oder Psyche geht, muß man die Gesellschaft berücksichtigen: Da gibt es wohl keinen, der das bezweifelt. Die Frage ist nur: Wie tut man das? Auf welche Weise berücksichtigt man die Gesellschaft? Dabei gibt es eine sehr verbreitete und gängige Auffassung, in welcher die Gesellschaft lediglich als Umwelt angesehen wird, die auf die Menschen einwirkt. Das fängt an mit dem Bedingtheitsmodell der traditionellen Psychologie, die ja – die das studieren, die kennen das mit »unabhängigen« und »abhängigen Variablen« operiert, Experimente macht, in welchen Bedingungen hergestellt werden, unter denen das Verhalten von Individuen untersucht werden soll: Wenn hier die Gesellschaft vorkommt, dann als eine »unabhängige Variable«, z.B. als sozioökonomischer Status, der in seiner Wirkung auf das individuelle Verhalten untersucht wird. Ähnliche Vorstellungen von Gesellschaft bestehen aber z.B. auch in der soziologischen Rollentheorie: Hier erscheint die Gesellschaft als ein Geflecht von Erwartungen, dem das Individuum ausgesetzt ist, in das es sich hineinentwickeln muß. Und da gibt es sogar Marxisten, die die Gesellschaft in einer ähnlichen Form fassen, indem sie die 6. Feuerbach-These falsch zitieren und behaupten, der Marxismus sieht das Individuum als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse an. Sie gehen also auch davon aus, daß die gesellschaftlichen Bedingungen den einzelnen Menschen determinieren. Nun, was aber im Widerspruch steht, zum Grundansatz der Marx’schen Theorie, daß nämlich die Spezifik des Menschen darin besteht, daß er seine Lebensbedingungen und Lebensmittel selbst produziert – daß er also nicht nur unter Bedingungen steht, sondern die Bedingungen, unter denen er lebt, selbst produziert: Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Produktion und menschlichen Lebensbedingungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist der Hauptgegenstand der Marx’schen Theorie.

Was nun die Kritische Psychologie versucht, ist, diesen Zusammenhang auch auf der individuellen Ebene zu realisieren – also sich gegen die gängige Sichtweise des Individuums als lediglich bedingt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu wenden – und das Psychische oder die Subjektivität zu entwickeln aus dieser Doppelbeziehung – daß der Mensch also sowohl unter gesellschaftlichen Bedingungen steht wie auch selbst diese Bedingungen schafft. Wobei von vornherein schon klar ist, daß das ein kompliziertes Verhältnis ist. Daß also die Art und Weise, in der wir hier unter diesen Bedingungen stehen, in dem Hörsaal, in Berlin oder in der Bundesrepublik oder sonstwo, und die Art und Weise, in der wir darauf Einfluß nehmen können, daß diese Bedingungen nicht einfach platt symmetrisch sind, sondern auf sehr komplexe Weise vermittelt. Aber die Grundauffassung der Kritischen Psychologie ist, daß man nicht von der Annahme ausgehen kann, daß auf gesamtgesellschaftlicher Ebene der Mensch seine Lebensbedingungen produziert, aber in dem Moment, wo man anfängt, Psychologie zu machen, Auffassungen vertreten werden, von denen uns eigentlich völlig unverständlich wird, wie man je in der Lage ist, sich daran zu beteiligen. Wir nennen diese Konzeption der traditionellen Psychologie eine »Humunculus-Theorie«, die eine Art von Menschenbild entwirft, aus dem nie verständlich wird, daß die Menschheit auch nur ||14| drei Minuten überleben könnte: Wenn der Mensch so wäre, wie die bürgerliche Psychologie ihn darstellt, dann wäre er schon ausgestorben, bevor er je in die Naturgeschichte eingetreten wäre. Unser Versuch ist also, um das noch einmal zu sagen, die Herausarbeitung dieser Doppelbeziehung als Wechselprozeß: Der Mensch als Produzent von Lebensbedingungen, denen er gleichzeitig untersteht, zu analysieren und die Vermittlungen zwischen den Lebensnotwendigkeiten der Erhaltung des gesellschaftlichen Gesamtsystems und den subjektiven Lebensnotwendigkeiten des einzelnen Individuums zu erfassen. Und dahinter steht also das Konzept, daß der Mensch sowohl unter Bedingungen steht, wie über diese Lebensbedingungen verfügen muß, um sein eigenes Leben zu bewältigen: Wir produzieren die Bedingungen unter denen wir leben, d.h. der einzelne ist in irgendeiner Form beteiligt an der Schaffung, Veränderung, Bestätigung, Reproduktion der Bedingungen, unter denen er dann wieder lebt. Und diesen Zusammenhang psychologisch zu konkretisieren, ist unsere Hauptaufgabe. Das wäre also auch der erste Punkt auf dem Zettel, wenn jemand den Zettel überhaupt gekriegt haben sollte.

Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, erläutere das, was dort steht, damit es auch verständlich wird, da es wohl ziemlich kompakt und hermetisch ist, was auf dem Zettel steht. Die Grundkategorie, von der aus die Kritische Psychologie diesen Zusammenhang zu entwickeln versucht, ist die Kategorie der Handlungsfähigkeit, wobei Handlungsfähigkeit keine nur individuelle Möglichkeit ist, sondern eigentlich die Vermittlung zwischen individueller und gesellschaftlicher Lebenstätigkeit. Unter Handlungsfähigkeit wird verstanden die Fähigkeit, im Zusammenschluss mit anderen Verfügung über meine jeweiligen individuell relevanten Lebensbedingungen zu erlangen. Die zentrale psychologische Grundkonzeption, die wir entwickelt haben und auch versucht haben zu begründen in unserer Arbeit, ist der Zusammenhang zwischen Art und Grad der Handlungsfähigkeit und der Qualität der subjektiven Befindlichkeit. Jeweils meine Befindlichkeit ist ein subjektiver Aspekt des Grades und der Art meiner Handlungsfähigkeit, sowohl meiner Handlungsmöglichkeiten wie der Beschränkung meiner Handlungsmöglichkeiten. D.h., daß menschliches Leiden, überhaupt jede Art von Beeinträchtigung usw., auch etwa Angst, die Qualität hat der Ausgeliefertheit und Abhängigkeit von aktuellen Bedingungen, Isolation von den Verfügungsmöglichkeiten über die wesentlichen, langfristigen Lebensbedingungen, also Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Überwindung des Leidens, Überwindung von Angst, Befriedigung in menschlicher Lebensqualität ist dementsprechend nicht allein durch die aktuelle Befriedigung und Absicherung zu erreichen, sondern nur durch Verfügung über die Befriedigungsquellen, d.h. Verfügung über die Bedingungen, von denen meine Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit abhängt. Ein ganz zentraler Punkt: z.B. Hunger. Hunger ist auf der einen Seite eine schmerzliche, aktuelle Erfahrung, aber nicht nur Leiden an dieser unmittelbaren Beeinträchtigung, sondern auch das Leiden daran, daß ich in einer Situation bin, in der ich Hunger leiden muß: in der ich so ausgeliefert bin, daß ich Hunger leiden muß. Diese beiden Momente, die Ausgeliefertheit an die Situation und das unmittelbare Mangelerlebnis, sind auf menschlichem Niveau zwei Seiten derselben Situation. Ebenso ist auch die Überwindung von solchen unmittelbaren Mangelsituationen nicht einfach nur dadurch zu leisten, daß einem gegeben wird, daß man befriedigt wird und satt geworden ist, sondern durch die Überwindung dieser Ausgeliefertheit und Angst, indem man gleichzeitig mit der Überwindung dieses Mangels Verfügung gewinnt über die Quellen der Befriedigung selber, also über die Bedingungen, von denen ||15| es abhängt, ob ich zukünftig meinen Hunger werde stillen können… Da ist z.B. die Situation des Arbeitslosen, dem in seiner sozusagen menschenunwürdigen Grundsituation noch nicht dadurch wirklich geholfen ist, wenn man ihm genug zu essen gibt. Denn der entscheidende Punkt ist, daß er selbst ausgeliefert ist an Kräfte, auf die er keinen Einfluß hat, und angewiesen ist auf Vergünstigungen, die ihm jederzeit wieder entzogen werden können. Und diese Ausgeliefertheit an aktuelle Situationen, die Unmöglichkeit, Einfluß auf meine eigene Lebensperspektive zu gewinnen, das ist das zentrale Moment der Beeinträchtigung meiner Subjektivität, und die Überwindung dieser Ausgeliefertheit ist sozusagen die zentrale perspektivische Entwicklung meiner individuellen Lebensqualität. Das erst einmal als zentraler Aspekt, d.h. also, daß unserer Grundkonzeption nach das Psychische nicht nur eine individuelle oder innere Angelegenheit ist, sondern die subjektive Seite der Art und des Grades meiner Verfügung über die objektiven Lebensbedingungen. Meine Befindlichkeit ist die subjektive Erfahrungsqualität meiner Handlungsfähigkeit bzw. deren Einschränkung. Dies heißt auch, daß psychische Befindlichkeit nicht wiederum nur durch Psychisches veränderbar ist, sondern eine wirkliche Verbesserung meiner subjektiven Lebensqualität identisch ist mit der Erweiterung meiner Verfügung über die objektiven Lebensbedingungen, damit auch identisch mit meiner Bündnisbreite, mit der Möglichkeit meines Zusammenschlusses mit anderen. Von da aus haben wir eine sehr differenzierte Kritik an verschiedenen Konzepten der traditionellen Psychologie entwickelt, mit der Neufassung verschiedener psychischer Funktionsaspekte, wie etwa Denken, Motivation, Emotionalität usw. Ich will das nur kurz hier andeuten.

Die traditionelle Psychologie reduziert das Denken im wesentlichen auf Problemlösen in einer naturhaften Umwelt, in der die Individuen zurechtkommen müssen. Wir versuchen, das Denken als »Entwicklungsdenken« zu fassen, in welchem die realen Widersprüche selber erfaßt werden können. Während also in der traditionellen Psychologie Widersprüche nur im Denken vorkommen und man so tut, als wenn man sie im Denken, also durch rein psychische Prozesse, auch nur lösen könnte, versuchen wir aufzuweisen, daß Denken eigentlich die Möglichkeit ist, reale Widersprüche im Denken widerspruchsfrei abzubilden, womit sie als Aspekte der Realität selbst erkannt und praktisch überwunden werden können. Das bedeutet auch: Denken ist innerhalb der traditionellen Psychologie ein Prozeß vom Standort außerhalb. Der Denkende steht außerhalb des Prozesses, den er denkt, ist sozusagen eine neutrale Instanz jenseits der Geschichte, die irgendwie versucht, die Realität zu erfassen, während wir den Subjektstandpunkt des Denkens hervorheben, also das Denken als Denken des Subjekts, das selber im Prozeß drinsteckt, den es erfassen muß, zu begreifen. Das Problem ist ja, daß wir selber Teil der Gesellschaft sind, die wir im Denken reproduzieren müssen. Da steckt zunächst eine Art von Zirkel darin, der aber durch eine bestimmte Erkenntnisdistanz des Subjektes wieder aufgehoben werden kann. In der Ausführung solcher Ansätze versuchen wir, über die individualistische Verkürzung des Denkens in der traditionellen Psychologie hinauszukommen.

Ebenso haben wir versucht zu zeigen, daß Emotionalität in ihrer entwickelten Form, also als Moment der Handlungsfähigkeit, eine Wertung der Lebens- und Handlungsmöglichkeiten der Umwelt am Maßstab meiner subjektiven Notwendigkeiten ist, und von da aus kritisieren wir dann die Auffassung der Emotionen als bloße Innerlichkeit, abgekoppelt von Erkenntnissen und Handlungen. Wir wenden uns gegen die bürgerlichen Emotionstheorien, in denen Emotionalität im wesentlichen als Störfaktor der rationalen Durchdringung der Realität gefaßt wird. Wir versuchen zu zeigen, daß die Emotionalität eine zentrale erkenntnis- und handlungsleitende ||16| Funktion hat, daß die Emotionalität also eigentlich die Voraussetzung ist für eine adäquate kognitive Abbildung der Welt. Von da aus wird dann die bloße »Verinnerlichung« der Emotionalität in ihrer Entgegensetzung zur Rationalität als Aspekt der bürgerlichen Privatexistenz, in welcher die emotionale Engagiertheit gegen unmenschliche Lebensverhältnisse ausgeklammert ist, zu begreifen versucht.

Als drittes Moment noch Motivation. Wir haben versucht zu zeigen, daß man die Motiviertheit, also die Möglichkeit, ein Ziel motiviert zu verfolgen, nicht trennen kann von dem Inhalt des Ziels; daß ich nämlich nur dann ein Ziel motiviert verfolgen kann, wenn ich vorwegnehmen kann, daß in der Realisierung des Ziels ich selber ein Stück Erweiterung meiner Lebensmöglichkeiten, also Verbesserung meiner Lebensqualität erreiche. Es hängt also von der objektiven Beschaffenheit der Ziele ab, ob ich sie motiviert verfolgen kann oder nicht. D.h., daß es keine bloß psychische Angelegenheit ist, ob jemand zu irgendetwas motiviert ist oder nicht. (Das werde ich nachher noch in einem anderen Zusammenhang genauer ausführen.)

Punkt drei auf dem Exposé: Ich habe bisher die Kritik an der traditionellen Psychologie von dem unserer Meinung nach entwickelteren Konzept der Handlungsfähigkeit aus dargestellt. Die Frage ist nun, warum die bürgerliche Psychologie das Psychische in dieser verkürzten Form faßt und mehr noch, warum wir auch in unserer eigenen Alltagserfahrung diese Art von Verkürzungen in irgendeiner Form wiederfinden, so daß man nicht sagen kann, die bürgerliche Psychologie ist einfach falsch: irgendetwas von unserer Realität bildet sie offensichtlich ab. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären, daß hier eine Theorie, die auf der einen Seite kritisiert wird, auf der anderen Seite doch Aspekte unserer subjektiven Realität offenbar adäquat abbildet? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich vergegenwärtigen, daß wir ja nicht in einer allgemeiner Gesellschaft leben, sondern unter ganz bestimmten historischen Bedingungen, nämlich unter den antagonistischen Klassenverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Dies bedeutet, daß der Versuch der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, also der Erweiterung der Bedingungsverfügung, auf allen Ebenen mit dem Risiko verbunden ist, mit den Herrschaftsinstanzen, die ja selber für sich die Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß beanspruchen, in Konflikt zu geraten. Der Versuch der Verfügungserweiterung oder der Erweiterung meiner eigenen Lebensmöglichkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft ist kein widerspruchsfreier Prozeß, er läßt sich nicht glatt und einfach realisieren, sondern enthält immer eine Konfliktkonstellation, indem auf der einen Seite die subjektive Notwendigkeit der Erweiterung meiner Lebensqualität steht durch Erweiterung der Verfügung über die Lebensbedingungen, ich auf der anderen Seite aber damit gleichzeitig das Risiko eingehe, in Konflikt mit den herrschenden Instanzen auf allen Ebenen zu geraten, weil sie die Verfügung über den gesamtgesellschaftlichen Prozeß für sich beanspruchen. Das liegt zunächst auf der allgemeinen politischen Ebene, läßt sich aber weiter verfolgen bis hin in die konkreten Situationen meines eigenen Lebens. Diese bürgerlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen sind ja nicht etwas, das nur in einem von mir getrennten politischen Bereich stattfindet, sondern hineinwirkt bis in unsere intimsten Bereiche und selbst da, wo wir glauben, allein zu sein, sind wir immer noch unterworfen den Beeinträchtigungen, Widersprüchen, Konkurrenzerlebnissen, Privatisierungstendenzen usw., die in den allgemeinen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft enthalten sind.

Wenn dies aber so ist, dann heißt das, daß man Handlungsfähigkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auf zweierlei Weise anstreben kann, je nach der Art und Weise, wie man diesen Widerspruch auflöst: Den Widerspruch nämlich zwischen der subjektiven Notwendigkeit der Erweiterung der Lebensmöglichkeiten und der Vorwegnahme ||17| des Risikos des Verlustes der Handlungsfähigkeit durch die Herrschenden. Je nachdem, nach welcher Seite ich einen solchen Widerspruch auflöse, besteht offensichtlich nicht nur die Möglichkeit, meine Handlungsfähigkeit durch die Erweiterung meiner Bedingungsverfügung zu erweitern, sondern liegt in vielen Situationen für jeden von uns der Versuch nahe, Handlungsfähigkeit im Rahmen der bestehenden Verhältnisse zu erlangen, also quasi eine Art von Arrangement mit den jeweils Herrschenden in der Weise zu treffen, daß man an deren Macht so weit teilhat, oder zumindest deren Bedrohung so weit neutralisiert, daß man in diesem Rahmen noch einen bestimmten Bereich an freiem Raum oder Handlungsmöglichkeit hat. Diese zweite Alternative, unter Anerkennung bestehender Grenzen und unter der Komplizenschaft, dem Arrangement – wie man es auch immer ausdrücken wird – mit den herrschenden Verhältnissen eine bestimmte Handlungsfähigkeit zu erlangen – die nennen wir die restriktive Alternative der Handlungsfähigkeit. Wir haben sehr viel Mühe darauf verwandt, die spezifische Erfahrungsqualität und Widersprüchlichkeit dieser restriktiven Handlungsfähigkeit im einzelnen darzustellen. Dabei mußte der zentrale Widerspruch dieser Art von Versuch, durch Teilhabe an der Macht der Herrschenden in Ausnutzung der gewährten Spielräume Handlungsmöglichkeiten zu erlangen, berücksichtigt werden, daß man damit gleichzeitig seine eigene Abhängigkeit bestätigt und befestigt: Soweit ich im Rahmen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse Freiraum zu erlangen versuche, negiere ich in gewisser Weise den Freiraum selber, weil der Freiraum ja von den Herrschenden gewährt ist und jeder Zeit entzogen werden kann. Ich bin also in der Situation, daß ich eigentlich um kurzfristiger Sicherheit, kurzfristiger Befriedigung willen längerfristig meine eigenen allgemeinen Lebensinteressen verletze. Das ist der Widerspruch, den wir »Selbstfeindschaft« nennen. Wir haben dann versucht zu zeigen, daß diese Art von Selbstschädigung durch Arrangement mit den jeweilig bestehenden Verhältnissen nicht bewußt sein kann, sondern unbewußt sein muß. Von da aus haben wir unser Konzept des »Unbewussten« entwickelt, unser Konzept von »Abwehrmechanismen«, von »Verdrängung« usw.

Dieses für die konkrete psychologische Analyse ganz zentrale Konzept: diese restriktive Alternative der Handlungsfähigkeit ist faßbar zu machen mit ihrer Widersprüchlichkeit zur Durchdringung der »Oberfläche« der eigenen Befindlichkeit im Hinblick auf solche Momente, wo man mit sich selbst in Widerspruch gerät, indem man sich kurzfristig nützen will, aber langfristig eigentlich schadet. Oder, indem man sich unmittelbar helfen will, die eigene Basis für die Erweiterung seiner Lebensmöglichkeiten einschränkt. Wobei ein Aspekt dabei noch besonders wesentlich ist: Daß bei dieser restriktiven Handlungsfähigkeit an die Stelle der Verfügung, der gemeinsamen Verfügung über unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen die Kontrolle und die Herrschaft über andere Menschen tritt. Und zwar deswegen, weil man die Unterdrückung durch die jeweiligen Herrschaftsinstanzen, indem man sie akzeptiert und daran teilhaben will, zur Absicherung der eigenen Lebensmöglichkeiten automatisch aktiv weitergibt an noch abhängigere Menschen, also dieses Moment der Kontrolle über Menschen – ich selber sichere mich ab, indem ich andere zu kontrollieren versuche -, eine Grundeigenart dieser restriktiven Handlungsfähigkeit ist. Und gerade darin wird noch einmal diese Widersprüchlichkeit deutlich: In dem Moment, wo ich auf Kosten anderer lebe, beschränke ich ja meine eigene Lebensmöglichkeit. Ich reduziere meine Bündnisbasis, reduziere meine Zusammenschlußmöglichkeiten, isoliere mich, indem ich auf Kosten anderer lebe. Indem ich versuche, mich selber durchzusetzen gegen die anderen, wird meine eigene Lebensbasis, meine eigene Lebensgrundlage gleichzeitig schmaler. Das ist also auf der sozialen Ebene diese Art von »Selbstfeindschaft«, die sich ||18| darin ausdrückt, daß man in dem Versuch, auf Kosten anderer zu leben, sich auch selber die eigenen Lebensmöglichkeiten beschneiden muß.

Punkt vier: Unsere These, die wir versuchen näher zu belegen, ist, daß die traditionelle Psychologie genau genommen eine Art von wissenschaftlicher Stilisierung dieser restriktiven Alternative der Handlungsfähigkeit ist, daß in der Art und Weise, in der die bürgerliche Psychologie Denken, Emotionalität, Motivation usw. faßt, sie eigentlich so tut, als ob diese Situation des Sich-Abfindens mit den jeweiligen bestehenden Verhältnissen und der Versuch des Zurechtkommens unter diesen Verhältnissen die allgemein menschliche Art und Weise, sein Leben zu bewältigen, ist. D.h. also, zu dem, was ich vorhin sagte: Die traditionelle Psychologie bildet zwar realitätsadäquat ab, aber sie bildet unsere Lebensverhältnisse so ab, als wenn nur diese Möglichkeit des Sich-Abfindens mit den bestehenden Verhältnissen und des Arrangements besteht und faßt das Psychische genau so, daß es auf diese Alternative paßt. Und die andere Möglichkeit, nämlich die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und die damit verbundenen Bestimmungen etwa von Emotionalität, Motivation usw., die werden weggelassen. Damit wird gleichzeitig implizit für die herrschenden Verhältnisse Partei genommen, weil die ja so beschrieben werden, als wenn sie unveränderbare Naturverhältnisse sind.

Um jetzt hier die Zeit nicht zu sehr zu strapazieren, will ich das nicht mehr am Beispiel des Denkens und der Emotionalität verdeutlichen (darauf werden wir vielleicht sowieso später kommen), sondern nur am Beispiel der Motivation. Ich habe vorhin dargestellt: Wir versuchen zu zeigen, daß motiviertes Handeln nur zu verstehen ist durch den Inhalt der jeweiligen Ziele. Ich kann nur Ziele motiviert verfolgen, die inhaltlich in ihrer Realisierung mir die Möglichkeit der Erweiterung meiner Lebensmöglichkeiten geben. Motiviertheit hängt also von den Zielen ab und ist nicht nur eine rein psychische Angelegenheit. Ich kann nicht Ziele motiviert verfolgen, mit denen ich mir bewußt selber schade, mit denen ich mich einschränke oder bei denen mir auch nur unklar ist, was sie für mich bedeuten. In der bürgerlichen Psychologie versucht man nun, die Motivation zu fassen, obwohl diese Inhalte ausgeklammert werden, der inhaltliche Bezug, auf die Interessen, die jeweils in den Zielen stecken, und die Frage, wieweit diese Interessen meine Interessen sind, wessen Interesse ich eigentlich diene, wenn ich bestimmte Ziele verfolge, weggelassen werden. Indem sie das aber weglassen, bleibt eigentlich nur noch übrig als Motivationsgrundproblem: Wie kann man Menschen dazu bringen, freiwillig zu tun, was sie tun sollen? Der Motivationsprozeß der traditionellen Psychologie ist also eigentlich ein Konzept des »inneren Zwanges«, einer motivationsförmigen Verinnerlichung von äußeren Zwängen, so daß ich selbst mir vormachen kann, daß ich bestimmte Ziele motiviert verfolge, wobei ich die Frage, in wessen Interesse sie sind, von vornherein aus meinem Bewußtsein ausklammere. D.h. also, daß hier in dieser Art von »Motivation« als innerer Zwang, motivationsförmiger innerer Zwang, so eine Art von Handlungsspielraum für mich dadurch fingiert wird, daß ich die Grenzen meines Handlungsspielraums selber aus meinem Bewußtsein verdränge. Es läßt sich nun zeigen – das haben wir in verschiedenen Zusammenhängen versucht -, daß das eine Art von subjektiver Fassung dessen ist, was man den bürgerlichen Freiheitsbegriff nennen kann. Freiheit ist so lange gegeben, wie ich die Spielräume, die meine Freiheit begrenzen, nicht kenne, und in dem Moment, wo ich anfange, an diese Grenze zu stoßen, wird sofort klar, daß es mit der Freiheit nicht so weit her ist. Hans Apel hätte also nicht auf dem SEW-Parteitag den Vortrag halten dürfen. Er hat ihn gehalten und hat deswegen – obgleich Euer Kollege und Beamter auf Lebenszeit – seinen Job verloren. Er hat also von unserer Freiheit falschen Gebrauch gemacht. D.h. also, wenn ich mich frei fühlen will, muß ich gleichzeitig mich selber daran hindern, solche Grenzen ||19| zu berühren. Eigentlich kann ich mich aber nur dann frei fühlen, wenn ich die Grenzen noch nicht einmal kenne, d.h. sie verdränge. Denn sonst weiß ich ja, daß ich nicht frei bin. Wir haben für diese Situation ein schönes Bild, nämlich das eines Goldfisches in so einem kleinen Glas. Wenn in dem Goldfisch ein Mechanismus drin sitzt, durch den er immer so schwimmt, daß er niemals die Wände des Glases berührt, dann kann er sich einbilden, daß er im Atlantischen Ozean schwimmt. Das ist sozusagen die Freiheit der »freien Welt«.

Jetzt kommt Punkt fünf: Von da aus wird unsere Art der Kritik an der traditionellen Psychologie klar, indem gezeigt wird, daß sie einen bestimmten Aspekt unserer Realität, nämlich den des sich Abfindens mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen, zur allgemein-menschlichen Lebensform stilisiert und es auf dieser Ebene durchaus adäquate Spiegelungen gibt; aber gleichzeitig den Menschen festnagelt auf dieses Ausgeliefertsein an die jeweilig bestehenden Verhältnisse. Von da aus ist auch klar, daß in dieser positiven Wendung der Entwicklung des Konzeptes der Handlungsfähigkeit eigentlich unsere Hauptkritik sich richtet gegen jede Art von Psychologisierung und Personalisierung unserer Behinderungen und Konflikte. D.h. wir kämpfen dagegen, die realen objektiven Behinderungen unserer Lebensmöglichkeiten als lediglich psychisch, lediglich sozial usw. zu fassen, indem wir von unserer entwickelteren Position versuchen, die Beschränktheit dieser Konzeption aufzuweisen. Dabei ist wichtig, daß unserer Meinung nach die Zurückverweisung der Individuen auf die unmittelbare Subjektivität und unmittelbaren sozialen Beziehungen nur scheinbar an dessen subjektiven Lebensnotwendigkeiten orientiert ist. Und zwar deswegen, weil diese Behinderungen und Widersprüche zwar in meiner unmittelbaren Befindlichkeit in Erscheinung treten, aber weder dort entstanden noch allein auf dieser Ebene veränderbar sind. Es ist demnach eine Illusion, wenn die Psychologen oder Therapeuten den Eindruck vermitteln: es ist doch so einfach; ich bin doch nur ich und da ist der Partner, und wir brauchen nichts weiter unsere unmittelbaren Verhältnisse in Ordnung zu bringen; ich muß meinen Umgang mit mir selber verbessern; ich muß meine Emotionen umbauen; ich muß irgendwo mich entspannen lernen; ich muß mit meinem Partner usw., usw. Es sollte nach dem Gesagten klar sein, daß damit im Grunde eine Zentrierung auf die Erscheinungsebene, in der diese Probleme prinzipiell nicht lösbar sind, erfolgt. Und wenn die Betroffenen den Zusammenhang nicht durchschauen, dann werden sie ihr Leben lang vergeblich damit beschäftigt sein, zu versuchen, auf diese Art und Weise ihre Probleme zu lösen. Wenn man dann im therapeutischen Kontext steht, heißt das, man wechselt dauernd die Therapie, weil die vorhergehende nicht die richtige war. Oder man kann es noch nicht richtig. Man kann sich noch nicht richtig entspannen. Man muß mehr üben, meinetwegen die Beziehung zum Partner, man muß eben noch toleranter werden. Dabei gibt es doch objektive Gründe für unsere Probleme, da wir in Verhältnissen stehen, unter denen man nur auf Kosten des anderen leben kann, weil die Verhältnisse eine andere Art von Lebensführung nicht zulassen. Wenn man diesen Aspekt nicht einsieht und wegläßt, ist man in einer Art von echter Beziehungsfalle oder Sackgasse drin, in der man immer nur die Methoden zu ändern sucht, mit denen man jetzt unmittelbar seine Probleme bewältigen möchte und gar nicht kapiert, daß es nicht an den Methoden liegt, sondern an der Vorstellung, man könne seine subjektive Befindlichkeit und Lebensqualität wirklich und nachhaltig verbessern, ohne seine Lebensbedingungen zu verbessern, d.h. seine Handlungsfähigkeit als Verfügung über die allgemeinen / individuellen Daseinsverhältnisse zu entwickeln.

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Bericht an die DFG über den »Fortgang der Arbeiten«

Artikel von Klaus Holzkamp, Morus Markard und Gisela Ulmann in Forum Kritische Psychologie 17 (1985).

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Zusammenfassung

Im Bericht wird begründet, warum die Auswertung der ersten 30 Protokolle der Projektplena, in denen — mit den betroffenen Eltern — Probleme der Eltern-Kind-Koordination diskutiert werden, vor allem unter dem Aspekt der Qualifizierung der Betroffenen zu Mitforschern erfolgen mußte: das methodologische Programm subjektwissenschaftlicher Aktualempirie war einzelmethodisch unter dem Gesichtspunkt der aktiven Beteiligung der Betroffenen methodisch zu konkretisieren. Die diesbezügliche Rekonstruktion der Projektentwicklung bezieht sich dabei u.a. auf: Entwicklung des Tagebuchschreibens unter Einbezug der Betroffenheit des/der Schreibenden (Beobachtungskategorien, Fragestellungen, begriffliche Präzisierung); die methodische Notwendigkeit der Durchbrechung der Privatheit und das Interesse an der Lösung eigener Probleme bei den Betroffenen als Voraussetzung darauf bezogener wissenschaftlicher Erkenntnisse; Rekonstruktion des Lebenszusammenhangs der Betroffenen als Voraussetzung der Reduzierung der Interpretationsmehrdeutigkeit von Daten. Schließlich werden Anfänge von Theorieentwicklung in der Projektarbeit veranschaulicht.

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Feldstudie »Elternarbeit und frühkindliche Entwicklung«

Artikel von Barbara Grüter in Forum Kritische Psychologie 17 (1985).

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Zusammenfassung

Ziel der Feldstudie ist die Erarbeitung von Hypothesen für eine Längsschnittuntersuchung frühkindlicher Subjektivität unter pädagogischen Aspekten — unter Einschluß der Erarbeitung einer Forschungsstrategie, die die Modellierung pädagogisch unterstützter Entwicklungsprozesse erlaubt. Die Studie realisiert eine biographische Methode in Form von Elterntagebüchern über das Zusammenleben mit ihren Kindern. Elternprojektsitzungen dienen der Analyse und Orientierung elterlicher Erziehungspraxis. In dem Sinne, daß sich die Studie als Moment der Lebenspraxis von Eltern und Kindern versteht, hat sie den Charakter von Handlungsforschung. Die beantragten Mittel sollen eine Auswertung der Protokolle der Elternprojektsitzungen im Hinblick auf die Ziele der Feldstudie ermöglichen.

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Das biologische Defizit der physiologischen Psychologie

Artikel von Volker Schurig in Forum Kritische Psychologie 17 (1985).

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Zusammenfassung

Die Wissenschaftsbezeichnung ‘physiologische Psychologie’ besitzt seit Wundt die Bedeutung einer naturwissenschaftlichen Grundlegung der Psychologie. In dieser Funktion hat sie auch durch die Rahmenprüfungsordnung die Fächer Physiologie und Biologie ersetzt. Die folgenden Überlegungen setzen sich mit der Frage auseinander, inwieweit biologische Fragestellungen in die physiologische Psychologie integrierbar sind.

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Materialismus und zeitgenössische Psychologie

Kritische Bemerkungen über einige reaktionäre Theorien

Artikel von Charles Tolman in Forum Kritische Psychologie 17 (1985).

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Zusammenfassung

Ausgehend von einer Zusammenfassung wesentlicher Aspekte der Leninschen Streitschrift ‘Materialismus und Empiriokritizismus’ wird anhand einschlägiger Beispiele aus den Bereichen der Allgemeinen, der Persönlichkeits-, Sozial- und Entwicklungspsychologie aufgewiesen, daß die theoretischen Positionen der zeitgenössischen nordamerikanischen Psychologie in vielem den von Lenin kritisierten philosophischen Standpunkten des subjektiven Idealismus und Eklektizismus verpflichtet sind.

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Zur Problematik der Psychologisierung von Ausländerfeindlichkeit

Artikel von Petra Wagner in Forum Kritische Psychologie 17 (1985).

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Zusammenfassung

Ausgehend von Diskriminierungserfahrungen mit türkischen Kindern in Berlin betont die Arbeit den Zusammenhang von alltäglicher Ausländerfeindlichkeit, ausländerfeindlicher Politik der Bundesregierung und wissenschaftlicher Rechtfertigung von ausländerfeindlichen Haltungen vor allem mittels psychologisierender Erklärungsansätze. Auch gut gemeinte Analysen der Lebenssituation von ausländischen Arbeitsmigranten, die den Zusammenhang von allgemeiner Menschen»verwertung« und Ausländerfeindlichkeit nicht berücksichtigen und sich auf die Darstellung des »Migrantenelends« beschränken, können letzlich »ausländerfeindliche« Wirkung haben.

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