Genetischer Postdeterminismus

In: GiD Gen-ethischer Informationsdienst, Oktober 2011, Nr. 208, S. 7-10. Verfügbar über: Vanessa Lux in GiD 2011

An der psychiatrischen Genetik ist der Paradigmenwechsel in der Genomforschung nicht spurlos vorbeigegangen, die Abkehr vom genetischen Determinismus hat ihr methodisches Gerüst erschüttert – und dennoch wird weitergemacht wie bisher.

Vanessa Lux

Seelische Leiden werden gern als „genetisch bedingt“ verstanden. Seit Jahren suchen ForscherInnen nach „den Genen“ für Schizophrenie, Depression oder Alkoholismus. Wie so oft in der medizinischen Forschung begleiten enorme Versprechungen diese Suche: Menschen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko könnten durch Gentests früh erkannt und dann präventiv behandelt werden, bei der Gabe von Psychopharmaka ließen sich Nebenwirkungen reduzieren, und ab und an wird sogar geäußert, psychisches Leiden könne überhaupt vermieden werden.1
Nun hat in der Folge des Humangenomprojektes ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Francis Cricks zentrales Dogma der Molekularbiologie – aus DNA wird RNA wird Protein – gilt als widerlegt.2 Die DNA wird nicht mehr als „Code des Lebens“ verstanden, sondern ist nur noch ein Baustein in einem komplizierten System, ihre Funktionsweise abhängig vom zellulären, organismischen und ökologischen Umfeld. Während diese Perspektive der Genomforschung einen neuen Boom in Form von Forschungsfeldern wie der Genomik, Proteonomik oder Epigenetik bescherte, bedroht sie zugleich die Suche nach den genetischen Grundlagen seelischer Leiden. Die Vorstellung von der DNA als nur einer Systemkomponente unter vielen rüttelt an den methodischen Grundfesten der psychiatrischen Genetik.

Historische Bindungen

Bereits in der Anfangszeit der Humangenetik gehörten „Begabung“, „Schizophrenie“ und andere psychische Konstrukte zu den bevorzugten Studienobjekten. Einer der ersten, der die Erblichkeit solcher Konstrukte systematisch untersuchte, war Francis Galton. Noch bevor die Idee von den Genen überhaupt auf der Bildfläche der Wissenschaftsgeschichte erschien, versuchte er die Erblichkeit von Begabung nachzuweisen. Seine in Hereditary Genius von 1869 veröffentliche Analyse der Biografien und Stammbäume von 400 berühmten Männern aus unterschiedlichen Epochen gilt als eine der ersten systematischen Familienstudien. Dabei hielt er sich nicht mit Vorschlägen zurück, wie die Ergebnisse seiner Forschung zu verwenden seien: Als Anleitung für die Menschenzucht.3
Ernst Rüdin, der 1916 die erste umfassende Familienstudie zu Schizophrenie publizierte und als einer der Begründer der psychiatrischen Genetik gilt, vertiefte und systematisierte diese eugenische Bindung. Bereits 1905 gründete er die weltweit erste eugenische Gesellschaft mit, die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene, und er redigierte viele Jahre deren Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1933 wurde er Kommissar des Reichsinnenministeriums und war maßgeblich an der Abfassung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beteiligt, das die Zwangssterilisationen von mehreren hunderttausend Menschen mit psychischen Störungen und geistigen oder körperlichen Behinderungen in den folgenden Jahren juristisch begründete und absicherte.4 Auch Hermann Siemens, Begründer der bis heute in der psychiatrischen Genetik verwendeten Zwillingsmethode, steht in dieser Tradition. Im Nazismus sah er die Umsetzung der Utopien der eugenischen Bewegung in staatliche Politik.5

Psychiatrische Genetik im Zeitalter des „Gens“

Auf den ersten Blick scheint die Suche nach Genen für psychische Leiden, wie sie in den letzten Jahren betrieben wurde, nur wenig mit dieser Vorgeschichte gemein zu haben. Die Humangenetik stellt schließlich nicht mehr die Volksgesundheit, sondern die genetischen Merkmalsträger ins Zentrum ihrer Beratung.6 Auch wird die Kritik weitgehend geteilt, dass bei Familien- und Zwillingsstudien der Einfluss der Gene nicht vollständig vom Einfluss der Umwelt zu unterscheiden ist.7 DNA-Analysen ersetzen Stammbaumanalysen, die Suche nach einzelnen Genen über Kopplungs- und Assoziationsstudien ist die vorherrschende Methode der psychiatrischen Genetik.8
Auf den zweiten Blick offenbaren sich allerdings Kontinuitäten: Die Vorstellung, seelische Zustände hätten biologische Ursachen, bleibt Motiv und Antrieb psychiatrischer Forschung. So ist die Suche nach Genen für seelische Leiden kontinuierlich ausgeweitet worden. Immer billigere Gensequenzierungstechniken machten es möglich, die DNA von Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose nach immer mehr Sequenzen abzusuchen. Im Rahmen des Deutschen Humangenomprojekts und seines Nachfolgeprojektes, des Nationalen Genomforschungsprojekts, korrelierten Arbeitsgruppen bestimmte DNA-Sequenzen mit Depression, Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, bipolaren Störungen oder Legasthenie. Internationale Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Genetik von Angststörungen wie etwa der posttraumatischen Belastungsstörung, mit verschiedenen Substanzabhängigkeiten, mit Autismus oder mit dem so genannten dissozialen Verhalten.9
Auch bleibt eine Voraussetzung der in der psychiatrischen Genetik verwendeten Methoden unhinterfragt: der genetische Determinismus. Seien es nun Kopplungs- und Assoziationsstudien mit einzelnen DNA-Sequenzabschnitten, sei es die Analyse ganzer Chromosomen – die Methoden setzen eine eindeutige Lokalisierbarkeit funktionell relevanter Gene oder Gen-Abschnitte auf der DNA und damit einen unidirektionalen Gen-Effekt voraus. Der Gen-Effekt muss zudem so stark sein, dass er mit den statistisch-korrelativen Verfahren erfassbar ist.
Ein solcher Gen-Effekt ist bisher für keine psychische Störung gefunden worden. Zwar wird ab und zu von einem statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen einem genetischen Marker in der Nähe eines potenziellen Gen-Ortes und einer psychiatrischen Diagnose berichtet. Das liest sich in der Tagespresse so, als ob ein „Gen für“ Depression, Schizophrenie oder Alkoholismus gefunden worden sei. Eine wirklich ursächlich, das heißt funktionell in die Herausbildung einer psychischen Störung eingebundene DNA-Sequenz konnte jedoch noch für keines der beforschten Konstrukte bestimmt werden.

Post-genomische Potenzialität

Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Möglichkeit immer mehr in Frage gestellt wird, einen eindeutigen, ursächlichen Zusammenhang zwischen DNA-Sequenzen und psychischen Leiden zu bestimmen, und erste methodische Ansätze versuchen, epigenetische Prozesse oder Gen-Umwelt-Wechselwirkungen zu berücksichtigen.10 Paradoxerweise wird trotz der Infragestellung des einfachen Gen-Determinismus innerhalb des eigenen Faches aber weiterhin nach Genen für psychische Leiden gesucht. Drei ganz unterschiedliche Reaktionen auf den ausbleibenden Erfolg der Gen-Suche sind dafür relevant:
Mantra der Vererbung Um die wie eine alte Weisheit vorgetragene Behauptung zu stützen, psychische Leiden würden vererbt, werden gern allgemeine epidemiologische Daten über deren Verbreitung in der Bevölkerung angeführt. Häufig halten auch Ergebnisse aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien für eine Begründung der Vererbungsthese her – wenn auch nur als ‚erster Hinweis’, denn dass mit diesen Methoden die genetische Dimension nicht unabhängig von der Umwelt erfasst werden kann, lässt sich schwerlich ignorieren. Als weiteres Argument dienen deshalb Korrelationen zwischen DNA-Sequenzabschnitten und psychiatrischen Diagnosen aus Kopplungs- und Assoziationsstudien.11 Nun liegt aber zu solchen statistisch signifikanten Zusammenhängen in der Regel mindestens eine diesen Zusammenhang nicht bestätigende Studie vor. Es könnte sich bei den Ergebnissen der Kopplungs- und Assoziationsstudien also durchweg um falsch positive Ergebnisse handeln. Deshalb wird die Beweisführung, dass es Gene für die jeweilige psychische Störung geben muss, zusätzlich auf Modelle zur biologischen Funktion einzelner DNA-Abschnitte gestützt. Genorte, für die ein solcher potenziell funktioneller Zusammenhang mit einer psychischen Störung beschrieben werden kann, gelten als viel versprechende Kandidatengene. Die Modelle basieren in der Regel auf den traditionellen biomedizinischen Krankheitsmodellen.12
Genetisisierung der Ätiologie Diese Reaktion auf den ausbleibenden Erfolg bei der Suche nach Genen für seelische Leiden erklärt kurzerhand die in den Studien verwendeten Diagnosekategorien für ungeeignet: Widersprüchliche Studienergebnisse entstünden vor allem deshalb, weil Klassifizierungssysteme wie das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders oder die International Classification of Diseases nicht auf Genotypen basieren. Aufgrund der an Symptomen orientierten Klassifikationen käme es entweder zur Vermischung oder zur Überschneidung genetischer Subtypen.
Biomedikalisierung des Krankheitsmodells Die Idee einer besonderen Verletzlichkeit Einzelner, die die Entstehung seelischer Leiden begünstigt, ist nahezu 50 Jahre alt. Wurde allerdings in den 1960er Jahren noch davon ausgegangen, dass Vulnerabilität auch aufgrund von Erfahrungen entstehen kann, wird das Konzept mittlerweile zumeist auf eine genetische Anfälligkeit reduziert: In den heute diskutierten Vulnerabilitäts-Stress-Modellen entstehen psychische Störungen, weil eine genetische Disposition durch bestimmte Einflüsse manifest wird. Eine DNA-Sequenz löst demnach erst in Interaktion mit Umweltfaktoren psychische Leiden aus. Genetische Vulnerabilität fungiert hier als eine Art „Platzhalter“ – bis zur endgültigen Aufklärung der Bedeutung der DNA bei der Entstehung eines psychischen Leidens. Dabei codiert der Begriff der „Gene“ beziehungsweise „genetischen Risikofaktoren“ nicht mehr ein feststehendes Programm, sondern ein mit nicht-genetischen Faktoren interagierendes Potenzial. Diese Bedeutungsverschiebung ermöglicht es der psychiatrischen Genetik, in die Kritik am einfachen Gen-Determinismus einzustimmen, ohne die Suche nach genetischen Ursachen seelischer Leiden aufgeben zu müssen.

Begleitet wird diese partielle Relativierung des Determinismus von einer Aufforderung zum Handeln – nicht nur in der psychiatrischen Genetik: Unter dem Leitbild einer „individualisierten Medizin“ sind wir alle aufgerufen, unsere genetischen Ressourcen verantwortungsbewusst zu managen. Es geht darum, präventiv ein unsere Gene angemessen berücksichtigendes Leben zu führen. Wer sich dieser Art des Selbstmanagements verweigert, ist selbst schuld. Wer allerdings trotz psychiatrischer Diagnose nicht zur Therapie geht oder seine Medikamente nicht nimmt, dem wird wie bisher mit Ausschluss gedroht. Trotz aller Individualisierung bleibt daher auch die postgenomische Psychiatrie Disziplinierungsinstanz par excellence.

Vanessa Lux ist Diplom-Psychologin und hat zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis promoviert.

1. Vgl. etwa Holsboer, F. (2009). Biologie für die Seele: Mein Weg zur personalisierten Medizin. München: C. H. Beck.
2. Vgl. Keller, E. Fox (2005): The century beyond the gene. Journal of Bioscience 30 (1), 3-10.
3. Vgl. Galton, F. (1910): Genie und Vererbung. Leipzig: Dr. Werner Klinkhart.
4. Vgl. Klee, E. (2003): Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 513.
5. So im Vorwort zur 1937 erschienenen achten Auflage seiner Grundzüge der Vererbungslehre, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik.
6. Vgl. Waldschmidt, A. (1996): Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945-1990. Münster: Westfälisches Dampfboot.
7. Vgl. Joseph, J. (2004): The gene illusion. Genetic research in psychiatry and psychology under the microscope. New York: Algora Pub.
8. Vgl. Faraone, S. V., Tsuang, M. T. & Tsuang, D. W. (1999): Genetics of mental disorders. A guide for students, clinicians, and researchers. New York, London: Guilford Press, oder Kendler, K. S. and Prescott, C. A. (2006): Genes, environment, and psychopathology. Understanding the causes of psychiatric and substance use disorders. New York: Guilford Press.
9. Für einen Überblick über die internationale psychiatrisch-genetische Forschung vgl. www.apa.org/science/genetics (Zugriff: 4.7.2010).
10. Vgl. zum Beispiel Kendler, K. S. (2006): Reflections on the relationship between psychiatric genetics and psychiatric nosology, American Journal of Psychiatry 163 (7), 1138-2198; Caspi, A. and Moffitt, T. E. (2006): Gene-environment interactions in psychiatry. Joining forces in with neuroscience, Nature Reviews Neuroscience 7 (7), 583-590. Gottesman, I. I. and Gould, T. D. (2003): The endophenotype concept in psychiatry. Etymology and strategic intentions, American Journal of Psychiatry 160 (4), 636-645.
11. Vgl. für diese Art der Aneinanderreihung von Ergebnissen aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien mit Kopplungs- und Assoziationsstudien Smoller, J. W., Sheidley, B. R. and Tsuang, M. T. (Hrsg.) (2008): Psychiatric genetics. Applications in clinical practice. Washington: American Psychiatric Pub.
12. Vgl. für diese Art der Aneinanderreihung von Ergebnissen aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien mit Kopplungs- und Assoziationsstudien Smoller, J. W., Sheidley, B. R. and Tsuang, M. T. (Hrsg.) (2008): Psychiatric genetics. Applications in clinical practice. Washington: American Psychiatric Pub.

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Emanzipatorische Bewegungen: Ent-Unterwerfung denken und praktizieren

Artikel aus dem Themen-Schwerpunkt »Kritische Psychologie« der »CONTRASTE – Monatszeitschrift für Selbstorganisation«, Ausgabe 318, März 2011.

Download des kompletten Schwerpunkts (PDF, 14 Seiten, 2,1 MB): kp-contraste-2011.pdf


Annette Schlemm

Warum wehren sich ausgerechnet ausgegrenzte und verarmende Menschen so wenig gegen soziale Zumutungen? Warum fühlt sich das Engagement in linken Gruppierungen und Institutionen oder auch emanzipatorischen Bewegungen oft genau so schlecht an wie der Rest des Lebens in dieser Konkurrenzgesellschaft? Was können wir tun?

Wer jetzt die Weiterführung dieses Textes in Manier der psychologischen Ratgeberbücher erwartet, ist auf der falschen Fährte. Lange genug haben Linke versucht, auf die »stumme Masse« einzuwirken immer wieder neue Strategien der Einflussnahme zu entwickeln. Alle Überlegungen, die darauf hinauslaufen, wie wir »die Leute« besser verstehen können, oder alle Anstrengungen, die Anderen zum richtigen Verhalten zu bringen, hängen in einer Falle fest: Wir dünken uns in der »besseren Position« — und diese Position versetzt »die Anderen« in eine passive Rolle, in der sie nicht mehr als Subjekte ihres Lebens ernst genommen werden.

Eine Theorie für Menschen, nicht über Menschen

Eine wichtige Schlussfolgerung aus der Kritischen Psychologie ist die Orientierung darauf, andere Menschen nicht als Objekt unserer Einflussnahme zu behandeln, wenn wir Emanzipation als Ziel und Weg umsetzen wollen. Der Subjektstandpunkt, der sich grundlegend von einem »Außenstandpunkt« unterscheidet (vgl. S.7), macht den Unterschied aus zwischen einem emanzipatorischen Vorgehen und einem Vorgehen, das die Entmündigung der Menschen in der herrschenden Gesellschaft reproduziert.

Der Subjektstandpunkt ist deshalb nicht nur von Bedeutung für das wissenschaftliche Fachgebiet Psychologie, sondern er hat weitreichende gesellschaftstheoretische und praktische Folgen. Da individuelles Leben gesellschaftlich vermittelt ist, kann es keine von der Theorie der Gesellschaft getrennte Theorie des Individuums geben. Eine Theorie vom gesellschaftlichen Menschen hat die Aufgabe, die vielfach empfundene Kluft zwischen Praxen, in welchen Individuen ihr unmittelbares Leben und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen meistern, und der »großen Politik«, deren Reichweite die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse umfasst, zu durchdringen und sichtbar zu machen, dass die isolierte Privatexistenz ein hergestellter Schein der bürgerlichen Verhältnisse ist.

Aus der gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz folgt, dass es unangemessen ist, Menschen lediglich als Träger von Eigenschaften zu sehen. Biologisierungen, Psychologisierungen oder auch Personifizierungen kappen den Zusammenhang zwischen Menschen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen. Es geht nicht darum, Menschen zu problematisieren, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie sich in der konkreten Lebenslage zeigen. Die Umdeutung von problematischen Situationen zu problematischen Eigenschaften von Menschen (etwa »Egoismus«), lenkt die Lösungsenergie auf das falsche Betätigungsfeld. Im Gegenzug wäre es aber auch falsch, Menschen lediglich als Marionetten ihrer gesellschaftlichen »Prägungen« und Befolger gesellschaftlicher Gesetze und Zwänge zu betrachten. Dann werden sie von vornherein wesentlicher menschlicher Charakteristika beschnitten.

Menschliche Subjektivität hängt eng damit zusammen, dass menschliche Individuen »natürlich gesellschaftlich« sind, dass also ihre »Natur« darin besteht, gesellschaftlich vermittelt zu leben. Durch die Gesellschaftlichkeit entsteht ein spezifischer Möglichkeitsraum: Was für das Ganze notwendig ist, hat für den Einzelnen nur Möglichkeitscharakter. Dabei geht es nicht nur um »Möglichkeiten 1. Ordnung«, also die Möglichkeiten, die sich innerhalb vorgegebener Bedingungen, gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse bieten — sondern es geht auch um die »Möglichkeit 2. Ordnung«: das Verändern der Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Menschen sind Subjekte, insofern »sie sich selbst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß ihren Lebensinteressen erfahren können« (Holzkamp 1983b: 139). Unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen »die Masse der Individuen von der kollektiven Verfügung über ihre Lebensbedingungen ausgeschlossen und auf ihr privates, individuelles Dasein zurückgeworfen ist« (Holzkamp 1980: 212, kursiv A.S.), haben die Individuen zwei mögliche Handlungsausrichtungen: Die eine weist in Richtung einer »gemeinsame[n] Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten« (Holzkamp 1983a: 2) — also in Richtung der Möglichkeit 2. Ordnung, die andere in Richtung eines individuell begründeten Verzichts auf diese Erweiterung, des Sich-Einrichtens in den Möglichkeiten 1. Ordnung. Diese beiden Richtungen — verallgemeinerte und restriktive Handlungsfähigkeit (vgl. S.7) — sind kein äußerer Bewertungsmaßstab, sondern können jedem Individuum dabei helfen, die eigenen Gründe besser zu verstehen und bewusster zu entscheiden.

Menschliches Verhalten ist begründet, nicht nur bedingt

Menschliches Verhalten ist keine marionettenhafte Reaktion auf beherrschende gesellschaftliche Strukturen, sondern Menschen handeln begründet in bzw. gegen diese Strukturen. Dabei sind diese Handlungsgründe die »Scharniere« zwischen den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen wie je ich sie in meiner Lebenslage erfahre und dem individuellen Handeln. Menschliches Verhalten ist nicht in Form von »Bedingungs-Ereignis-Zusammenhängen« zu diskutieren, sondern als »Prämissen-Begründungs-Zusammenhänge« (vgl. Holzkamp 1983a: 352). Prämissen sind dabei jene durch die gesellschaftlichen Bedingungen gegebenen Handlungsmöglichkeiten, die angesichts je meiner gerade vorliegenden Problematik und der vorhandenen konkreten Interessen wichtig werden.

Das Ernstnehmen der jeweils individuellen Prämissen und subjektiven Gründe macht emanzipatorisches Denken und Handeln komplexer als oft angenommen. Es kann nicht darum gehen, »unter welchen Bedingungen« die Menschen vielleicht besser für ihre Rechte kämpfen würden, es kann erst recht nicht darum gehen, ihnen wohlwollend und bevormundend diese Bedingungen stellvertretend zu schaffen. Bedingungen für die Selbstbestimmung können nicht fremdgesetzt werden. Dasselbe gilt auch für vorgegebene Ziele, z.B. in der Bildungsarbeit: »Solange sie Teil einer fremdgesetzten Anordnung […] sind, können sie Probleme der Selbstbestimmung für die Teilnehmenden darstellen« (Kaindl 2009: 144). Jedes Vorgehen, dass von vornherein primär die »Einflussnahme auf Andere« anstrebt, entmächtigt und entsubjektiviert diese Anderen.

Intersubjektivität der wechselseitigen Selbstentfaltung

Es soll hier nicht um moralische Anforderungen gehen, die zu erfüllen sind, sondern darum, welche Vorgehensweisen dem Ziel der Emanzipation dienlich sind oder ihm widersprechen. Fremdbestimmung verhindert Selbstbestimmung. Das gegenseitige Aufeinanderhetzen verhindert kooperative Beziehungen, und wenn man andere Menschen instrumentalisiert, braucht man sich nicht zu wundern, wenn alles nur mit Druck oder gar nicht läuft. Im Einführungsbeitrag (S.7) wurde bereits der Unterschied zwischen Instrumentalbeziehungen und Subjektbeziehungen erläutert. Subjektbeziehungen basieren weniger auf gutem Willen oder angeeigneten Kommunikationstechniken, sondern sie müssen bereits die Vorformen derjenigen gesellschaftlichen Praxis bestimmen, die als Ziel auch die künftigen Gesellschaftsformen konstituieren soll: Die eigenen Freiheitsräume wachsen nicht mehr auf Kosten der Freiheitsräume anderer, sondern die jeweils individuelle Selbstentfaltung bezieht ihre Kraft aus der Selbstentfaltung der Anderen und stärkt wiederum diese. In einer Zukunftswerkstatt mit dem Thema »Ums Menschsein geht es« erarbeiteten die Teilnehmenden als abschließende konkrete Utopie den Satz: »Ich bin selbst ein Puzzle/Teil des Ganzen, ich kann und möchte meinen Platz finden; ich kann ein gutes Teil weitergeben und mich selbst komplettieren«.

Die Kunst der Ent-Unterwerfung

Es gibt eine alte anarchistische Regel: Die Mittel dürfen dem Ziel nicht widersprechen! In unserem Fall muss erst noch begründet werden, warum es erforderlich ist, in den eigenen Bewegungen und Strukturen intersubjektive Beziehungen zu pflegen und Instrumentalisierungen kenntlich zu machen und so weit wie möglich zu verhindern. Wäre es nicht doch sinnvoll, für die »große Politik« primär in Kategorien des Gegeneinander, des konsequenten Kampfes gegen Unrecht und Ausbeutung usw., die Stärkung durch Geschlossenheit der eigenen Reihen anzustreben, um machtvoll und erfolgreich zu werden?

Welche Macht und welchen Erfolg kann man dann aber erwarten? Die historische Erfahrung zeigt: Manche Mittel machen das angestrebte Ziel zunichte, und Menschen zu instrumentalisieren und sich instrumentalisieren zu lassen, bringt keine Emanzipation in die Welt. Ich kann unter Umständen gute Gründe haben, mir selbst das Hintergehen meiner Absichten nicht einzugestehen. Wenn ich monatelang bei den wöchentlichen Montagsdemos von denen, für die ich mich einsetze, vom Eiscafé nebenan nur genervt angeglotzt werde; wenn die Leute nur müde aus dem Fenster linsen, während wir uns bei der Antifademo den Hintern abfrieren… — dann kommen die Fragen hoch: »Was ist nur mit diesen Leuten los? Wie bekommen wir sie auch dazu, dass…?«

Wir bekommen sie mit Sicherheit nicht dazu, wenn wir sie zu etwas bekommen wollen. Fremdbestimmung konterkariert das gute Ziel. Wenn wir uns nicht auf unsere und ihre Gründe einlassen, werden wir trotz aller Bemühungen nicht viel erreichen. Wenn wir also auf diesem Weg nicht weiter kommen, und vielleicht sogar verstehen, dass wir uns durch das Ausschalten ihrer Subjektivität selbst die Beine gestellt haben, können wir auch beginnen, es anders zu versuchen: Es geht darum, die jeweils individuellen Gründe für politisches Handeln ernst zu nehmen. Das heißt noch lange nicht, alle Begründungen zu akzeptieren und hinzunehmen, aber es bietet die Chance, mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten und die Gesellschaft zu verändern, statt letztlich gegen sie.

Wie können wir, ausgehend von der Anerkennung des Begründetseins von menschlichem Handeln, unser Vorgehen erfolgreicher gestalten? Wichtig ist es, jeweils von konkreten Lebensproblemen auszugehen. Die Art und Weise, wie Menschen versuchen, ihr Leben zu realisieren, wird unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen letztlich widersprüchlich sein. Wenn ich ständig um meinen Arbeitsplatz bangen und mich dafür abstrampeln muss, fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass andere auch ohne diese Anstrengung gut leben dürfen. Aber auch mir selbst spreche ich damit diese viel angenehmere Möglichkeit ab. Wenn ich Erfolg in der politischen Arbeit will und mich dabei über die Interessen anderer hinwegsetze, dann schade ich meinem eigentlichen Ziel.

Dann kann es schmerzhaft sein, diese Selbstbehinderungen auch noch zu erkennen — Verdrängung liegt nahe. Wenn ich Glück habe, befinde ich mich unter Menschen, mit denen wir gemeinsam über solche Erfahrungen sprechen können und unter denen es üblich ist, diese Probleme nicht in Form von »Schuldzuweisungen« zu diskutieren, sondern bei denen darüber nachgedacht wird, in welcher Lebenslage ich mich befinde und was für mich Prämissen sind, von denen ausgehend ich meine Entscheidungen getroffen habe. Vielleicht finden wir dann gemeinsam andere Möglichkeiten, das entsprechende Problem zu bewältigen.

»Es wird ein Lachen sein, das Euch besiegt…«

Die große Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen hat ihren Grund nicht primär im Bedürfnis nach einer »Wärmestube«, sondern sie will einen wichtigen Kraftquell für politische Kämpfe speisen. Subjektbeziehungen sind selbst »Kampfbeziehungen gegen Unterdrückung, damit für ihre volle Verallgemeinerbarkeit« (Holzkamp 1979: 14). Ohne Subjektbeziehungen wird das Ziel der Emanzipation in Frage gestellt. Neben der Strategie, Dämme zu bauen gegen die Angriffe und die Zumutungen gegen unsere Lebensinteressen, besteht der dynamischere Teil des Kampfs für neue gesellschaftliche Verhältnisse (oder auch das Erträglichhalten der alten, solange notwendig) darin, bereits im Vorhandenen neue Lebensprinzipien in die Welt zu setzen. Wir bauen damit Schiffe, die uns in eine neue Welt befördern, als Elemente der neuen Welt innerhalb der alten, wie es Marx forderte (Marx MEW 4/Man: 480). Weder beim Dämme- noch beim Schiffebauen kommen wir weit, wenn wir untereinander oder mit anderen Menschen so umgehen, wie es in der alten Welt gang und gäbe ist, nämlich instrumentalisierend und Schuldvorwürfe zuweisend.

Auch im Kampf ist das mitreißende Argument das Erleben einer anderen, befreienden Umgangsweise miteinander. Nicht umsonst bestehen die jahrzehntelangen Kämpfe gegen die Castor-Transporte im Wendland weder aus einer ewigen Trauerfeier noch einem Wutgeheul, sondern Witz und Bauernschläue vereinigen sich mit Emma Goldmanns Prinzip: »Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution«.

Literatur

Holzkamp, Klaus (1979): Zur kritisch-psychologischen Theorie der Subjektivität II: Das Verhältnis individueller Subjekte zu gesellschaftlichen Subjekten und die frühkindliche Genese der Subjektivität. In: Forum Kritische Psychologie 5 (1979): Argument Sonderband 41, Argument-Verlag. S. 7-46. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1979b.html.

Holzkamp, Klaus (1980): Individuum und Organisation. Vortrag, gehalten auf der »Volksuniversität«, West-Berlin, Pfingsten 1980. Veröffentlicht als »Werkstattpapier« in: Forum Kritische Psychologie 7 (1980): Probleme kritisch-psychologisch fundierter therapeutischer Arbeit, Argument Sonderband 59, Argument-Verlag, S. 208-225. Online: kritische-psychologie.de/texte/kh1980a.html.

Holzkamp, Klaus (1983a): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main, New York 1985

Holzkamp, Klaus (1983b): Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen? Oder: Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 136-155.

Kaindl, Christina (2009): Über die Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für Andere zu setzen. Anregung eines kritisch-psychologischen Lernbegriffs für linke Bildungsprozesse. In: Janne Mende, Stefan Müller (Hrsg.): Emanzipation in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2009, S. 135-154.

Osterkamp, Ute (2001): Lebensführung als Problematik von Subjektwissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 43, S. 4-35

Osterkamp, Ute (2003): Kritische Psychologie als Wissenschaft der Ent-Unterwerfung. Journal für Psychologie 11,2 (2003), 176-193.


Kasten: Begriff der Emanzipation

Ohne die Vielfalt der in CONTRASTE vertretenen Bewegungen und Gruppierungen zu schmälern, kann man ihr Anliegen wohl ganz allgemein als eines der Emanzipation von ausbeuterischen, unterdrückerischen und entmündigenden Verhältnissen und Beziehungen verstehen. Der Inhalt der Kategorie »Emanzipation« unterlag, wenn man Wikipedia folgt, einer Bedeutungsverschiebung. Ging es früher um eine Gewährung von Selbstständigkeit, so geht es heute um Selbstbefreiung. Dieser Wandel ist in der politischen Praxis oft noch nicht angekommen; wohlwollende Bevormundung oder auch abwertende Personalisierungen bestärken die häufig vorkommende Praxis von Entmündigung und Entsubjektivierung. Ein Konzept, das als Subjektwissenschaft entstanden ist, kann Aktiven im weiten Feld der Emanzipation hilfreiche Gedankenformen für die notwendige Umorientierung von der »Gewährung der Freiheit« zur »Selbstbefreiung« bieten.

 

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Probleme selbstbestimmten Lernens in der neoliberalen Dienstleistungshochschule am Beispiel eines autonomen Seminars zur Kritischen Psychologie. Ergebnisse eines Forschungspraktikums

Artikel von Marcel Thiel in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Marcel Thiel

Zusammenfassung

Welche Probleme bei der Aneignung Kritischer Psychologie im Rahmen eines autonomen Seminars an der neoliberalen Dienstleistungshochschule auftreten können, analysiert der Autor, Mitinitiator eines solchen an der Universität Trier, im Zuge eines subjektwissenschaftlichen Forschungspraktikums. Seine Ergebnisse stellt er im vorliegenden Artikel auszugsweise dar und zeigt u.a., wie unreflektierte Ansprüche an ein solches Seminar zu lernhinderlichen Erfahrungen führen können und wie intersubjektive Verständigung selbst im Rahmen potenziell selbstbestimmten Lernens gefährdet sein kann.

Summary: Problems of self-determined learning in the neoliberal university using the example of a self-organized seminar on the subject of Critical Psychology. Results of a research internship

The author is the co-iniatior of a self-organized seminar at the University of Trier. He deals with problems of the acquirement of Critical Psychology occurring in such a seminar in the neoliberal university. In this article he presents some of his results. Among other things he shows how unconsidered expectations on such a course can interfere with the learning process, and how intersubjective communication can be in danger even within the scope of potentially self- determined learning.

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Probleme einer wissenschaftlichen Begleitung

Artikel von Kurt Bader in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Kurt Bader

Zusammenfassung

Die wissenschaftliche Begleitung des Umgestaltungsprozesses einer Einrichtung für die Betreuung geistig behinderter Menschen führte zu vielfältigen Problemen. Hierbei steht insbesondere die Frage im Vordergrund, inwieweit die an der Begleitung (Forschung) beteiligten Menschen Mitforscher waren. Aus den vielen Fragen, die dieses Forschungsvorhaben aufwarf, wird die Beziehung zwischen der Forschungsgruppe und den Mitarbeitern der Institution herausgegriffen und am Beispiel einer teilnehmenden Beobachtung konkretisiert.

Summary: Problems of a scientific monitoring process

Several problems were brought up in the process of monitoring the rearrangement of an institution for the mentally handicapped scientifically. Primarily, this article discusses the problem to what extend those, who were involved in the monitoring (research), became co-researchers. From the many questions brought up in the research process the article focuses on the relationship between the research group and the co-workers of the institution. This subject is illustrated by an example of participant observation.

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Integration: Versprechen, Kampffeld und Chimäre

Artikel von Athanasios Marvakis in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Athanasios Marvakis

Zusammenfassung

Migration und Integration werden weitgehend als Prozesse gesehen, die sich mehr oder weniger über die Köpfe der Betroffenen hinweg vollziehen, ihre Spuren in ihnen hinterlassen, aber nicht von ihnen gestaltet werden. Dieser scheinbar selbstverständliche, real aber legitimatorische Diskurs im Alltag wie in der Wissenschaft impliziert die Negierung der Subjektivität der Migranten, die prinzipielle Unterordnung ihrer Interessen und Bedürfnisse unter die der Einheimischen. Der Artikel versucht, diese Funktion herrschender Diskurse über Migration und Integration auf den Begriff zu bringen, um sich auf den verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens mit ihr auseinandersetzen und Handlungsalternativen entwickeln zu können, in denen die Subjektivität aller aufgehoben ist.

Athanasios Marvakis: Integration: promise, struggle and illusions

It is still common to view migration as a process which simply takes place behind someone’s back and which merely affects its passive “objects”, i.e., the migrants. This seemingly harmless and self-evident, but, in fact, legitimatising scientific and every-day discourse necessarily implies denial of the subjectivity of the migrants, and also implies the subordination of their interests and requirements to the needs and ideas of the “locals”. The paper attempts to determine the function of the dominant discourses about migration and integration, in order to make it possible to recognize and deal with it on different levels of societal life, and so finally to think about and formulate alternative notions and procedures, where everyone’s subjectivity is embraced.

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Das sexuell kompetente Kind und Sexualität als Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen

Artikel von Susanne Achterberg in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

Download: FKP 54 Susanne Achterberg

Zusammenfassung

Die neue Kindheitssoziologie will Kinder als gesellschaftlich integrierte, sozial kompetente Akteure in ihrer sozialen Wirklichkeit sichtbar machen und sie dabei explizit mit ihren Erfahrungen selbst zu Wort kommen lassen. Die Phase der Kindheit wird als soziale Konstruktion, d.h. als sprach-, zeit- und kulturabhängig aufgefasst. Der Ausschluss von Kindern aus gesellschaftlichen Rechten und aus dem Zugriff auf Ressourcen wird in Frage gestellt. In dieser Tradition diskutiert der Beitrag die Möglichkeit, Kinder – v.a. bezüglich Sexualität – als kompetente Akteure zu begreifen. Zunächst werden Probleme und Grenzen des derzeit vorherrschenden wissenschaftlichen Konsenses über die Besonderheit der kindlichen Sexualität skizziert. Es wird gezeigt, dass dieser auch in sich extrem widersprechenden Ansichten über kindliche Sexualität zu finden ist, z.B. in der Debatte um Kinderschutz vs. Emanzipation vom Tabu sexuellen Verkehrs zwischen Kindern und Erwachsenen. Abschließend werden die Begriffe Subjekt und Kompetenz im Rahmen der neuen Kindheitssoziologie neu bestimmt. Das Konzept des Kindes als sozial kompetenter Akteur wird deutlich vom Sozialisationsparadigma abgegrenzt und in seiner Fundierung in postmodernen Subjektkonzepten und einem entsprechenden Kompetenzbegriff gezeigt. Aus der Perspektive des Konzeptes „sozial kompetentes Kind“ ist Aufklärung als die zurzeit einzige zugelassene Form der sexuellen Artikulation von Erwachsenen in Bezug auf Kinder keine adäquate Reaktion auf deren sexuelle Besonderheiten. Im Gegenteil: Diese sexuelle Aufklärung, auch in ihrer liberalsten Form, kann nur als Zwang und Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung der Kinder verstanden werden.

Summary: The sexually competent child and sexuality as a boundary between children and adults

The new sociology of childhood strives to show children as socially integrated and competent actors. Moreover, its explicit goal is to let children be heard expressing their own experiences. The phase of childhood is seen as a social construction, i.e. as dependent on language, time and culture. The sociology of childhood challenges the practice of denying children social rights and excluding them from the allocation of resources. Drawing upon this approach the article discusses the possibility of seeing children as competent actors primarily with regard to sexuality. First, problems and constraints of the dominant scientific consensus on children’s sexuality are outlined. It is shown that this consensus can be found in contradicting opinions on children ́s sexuality, e.g. in the debate on child protection vs. emancipation from the taboo on sexual relations between children and adults. Finally, the notion of subject and competence is redefined against the background of the sociology of childhood. The concept of the child as a socially competent actor is separated from the socialization paradigm. Further, its foundation in postmodernist notions of subject and a corresponding notion of competence. From the view connected with the notion of the “socially competent child” sexual education is at present the only allowed form of adult ́s sexual articulation with regard to children. Thus, it is not an adequate reaction to children ́s characteristics. Rather, sexual education, even in its most liberal form, can only be understood as coercion and an interference with children’s sexual self-determination.

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Die Medikalisierung von Meinungen: verzerrtes Denken und der klinische gesunde Menschenverstand

Artikel von Diederik F. Janssen in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

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Zusammenfassung

Der vorliegende Artikel enthält eine historische Bewertung und poststrukturalistische Kritik der Vorstellung von der kognitiven Verzerrungen, wie sie in forensisch-psychiatrischen Ansätzen auf Menschen angewendet wird, die Sexualstraftaten gegen Kinder begehen. Dargestellt werden ausgewählte Beobachtungen aus der diskursanalytischen Untersuchung von über 40 Artikeln (1984-2006) und 9 diagnostischen Instrumenten, die spezifisch die Kennzeichnung von Ideenbildung, die sich auf Kindesmissbrauch bezieht, als „gestört“ betreffen. Die Trope der Verzerrung, die verwendet wird, um therapieschädigende Rationalisierungen unangepassten Verhaltens zu bezeichnen, ist wissenschaftlich unfruchtbar und kann besser als Folge der Medikalisierung abweichender Meinungen verstanden werden. Die größte Gefahr eines routinisierten Verständnisses von Kognitionen als „verzerrt“ ist kulturelle Erstarrung: eine ungünstige Rigidität in der Interpretation, in der Verortung und im Umgang mit moralischen Dilemmata.

Summary: The Medicalization of Opinion: On Clouded Cognitions and Clinical Commonsense

This article provides an historical appraisal and poststructural critique of the notion of cognitive distortions as used in forensic psychiatric approaches to sexual offenders against children. Selected observations are offered that derive from an discourse analytic examination of over 40 articles (1984-2006) and 9 diagnostic scales that specifically inform the qualification of child sexual abuse related ideation as ‘distorted’. Trope of distortion, used to indicate countertherapeutic rationalizations of transgressive behavior, is not productive in a scientific sense and can better be identified as a corollary of the medicalization of abject opinion. The ultimate danger of any routinized conception of cognitions as ‘distorted,’ is cultural inertia: an unfortunate rigidity in interpreting, localizing and dealing with moral dilemmas.

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25 Jahre „Väter als Täter“

Artikel von Hartmut Böhm in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

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Zusammenfassung

In den sog. Massenbeschuldigungen der 1990er Jahre führten unsachgemäße Befragungsmethoden zu suggerierten Aussagekomplexen, obwohl die Gefahr von Suggestionsartefakten längst bekannt war. Die Diskussion über den vermeintlich ubiquitären sexuellen Missbrauch, die vielleicht aus Sorge um einen gesellschaftlichen Missstand Mitte der 1980er Jahre in der BRD entstand, wurde schnell zu einem dröhnenden Medienspektakel und zum Vehikel politischer Scheindebatten. Auf der Strecke blieben sowohl diejenigen Kinder, die nur vermeintlich Opfer waren, als auch durch juristische Verfahren zermürbte und nicht selten fehlverurteilte Beschuldigte. Die Seriosität der psychologischen Wissenschaft, v.a. die forensische Gutachtenpraxis stand auf dem Spiel. Mittlerweile sind substanzlose Beschuldigungen gerade in pädagogischen Berufsfeldern selten geworden, bestehen aber gleichwohl fort. Die bloße Behauptung sexuellen Missbrauchs lässt häufig auch ansonsten besonnene Menschen unsicher, unkritisch und leichtgläubig werden. In der jüngeren Vergangenheit haben Behauptungen, Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein, vor dem Hintergrund psychischer Störungen stärker zugenommen. Die Problematik wird aus dem Blickwinkel der forensischen Psychologie beleuchtet.

Summary: 25 Years of “Väter als Täter” (“Fathers as Offenders”).

The danger of leading questions was long known when the so called “Massenbeschuldigungen” (“mass accusations”) took place in the1990s. Nonetheless, improper interrogation techniques led to biased testimonies in these trials. The debate on the alleged ubiquity of sexual child abuse began in the mid-80s, maybe resulting from concerns over social evils. Unfortunately, it shortly became a dramatic media spectacle and a vehicle for political mock battles. Children were left behind, if they were merely alleged victims. The same goes for defendants, who were demoralized by court trials and often falsely convicted. The respectability of psychological science, most notably of forensic examination, was at stake. Meanwhile, unsubstantiated allegations have become rare in the pedagogical professions, but they still exist. Otherwise sober minds are turned into insecure, uncritical and gullible individuals by the mere assertion of sexual child abuse. Recently, claims of being sexually abused increased in connection with mental disorders. The problem is attacked from a forensic psychological perspective.

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Zur Problematik der Pädosexualität. Einspruch gegen den Beitrag Erich Wulffs

Artikel von Michael Zander in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

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Zusammenfassung

Der Einspruch gegen den Beitrag von Erich Wulff in diesem Heft ergänzt fachliche Definitionen sowie eine begriffliche Differenzierung zwischen Pädophilie und sexuellem Missbrauch. Zentrale Aussagen des Textes werden problematisiert, insbesondere Forderungen nach einer partiellen Entkriminalisierung „gewaltfreier pädophiler Akte“, referierte Auffassungen von „Vertretern einer tabulosen Sexualität auch im Umgang mit Kindern“, die Polemik gegen Traumatherapie bzw. gegen die „gratifikationsreiche Kategorie der lebenslangen Opfer“ und schließlich der um die strukturelle Dimension verkürzte Gewaltbegriff. Die Kritik geht davon aus, „dass es in sexueller Hinsicht bedeutsame und zu respektierende Differenzen zwischen Kindern und Erwachsenen gibt“ (Dannecker).

Summary: On the problem of pedosexuality – an objection to Erich Wulff’s contribution

The objection to Erich Wulff’s contribution to this issue includes clinical definitions and differentiates conceptually between pedophilia and sexual abuse. The article critically examines central theses of Wulff’s text, primarily, the call for a partial decriminalization of “non-violent pedophiliac acts”, further, reported opinions held by “exponents of a sexual behavior free of taboos, even with regard to children”, Wulff’s polemic against trauma therapy and the “lifetime victim status”, respectively, which “involves personal gain”, finally, Wulff’s narrow notion of violence, which excludes structural dimensions. The critique assumes “that there are considerable differences between children and adults, which must be respected” (Dannecker).

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Überlegungssplitter zum Thema Pädophilie

Artikel von Erich Wulff in Forum Kritische Psychologie 54 (2010).

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Zusammenfassung

In seinem Essay („Überlegungssplitter“) geht Erich Wulff der Frage nach, warum nach den Diskussionen zur Liberalisierung des Strafrechts und zur Anerkennung sexueller Diversität („Neosexualitäten“ im Sinne Volkmar Siguschs) eine Kehrtwende erfolgt sei, die vor allem Pädophile als Inkarnation des abwegig Bösen betreffe. Der Autor ventiliert kindheitshistorische, psychiatrische, psychoanalytische und politisch aktuelle Aspekte des Themas und diskutiert psychologische Funktionalitäten der Diabolisierung der Pädophilie. Er plädiert dafür, Strafmaße von dieser Diabolisierung zu entkoppeln und mit der realen Gefährdung der Opfer in Einklang zu bringen.

Summary: Thought fragments on the issue of pedophilia

Erich Wulff’s essay deals with the question why there is, after the debates concerning the liberalization of criminal law and the recognition of sexual diversity („neo-sexualities“ sensu Volkmar Sigusch), an about-turn leading to a view of pedophiles as the embodiment of unspeakable evil. The author covers various aspects of the subject – drawing upon the history of childhood, psychiatric, psychoanalytic and up-to-date political sources – and discusses the psychological functionalities of demonizing pedophilia. He advocates separating the degrees of penalties from this demonization and adjusting it to the real damage done to victims.

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