Lernen statt Begabung: Vorschläge zu einer neuen Herangehensweise an das Problem individuell unterschiedlicher Leistungen

Artikel von Ulrike Behrens in Forum Kritische Psychologie 42 (2000).

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Zusammenfassung

Traditionelle Begabungstheorien werden üblicherweise grob unterteilt in Anlage-, Umwelt- und Interaktionstheorien. Ausgehend von dieser Unterteilung werden grundlegende Charakteristika des Begabungsbegriffs kritisiert. Die vorgestellte Position soll aber nicht einem der drei Bereiche zugeordnet werden, sondern ist als Alternative zu den traditionellen Begabungstheorien gedacht. Hierfür wird die Kategorie des Lernens, wie sie von der Kritischen Psychologie erarbeitet wurde, für den Gegenstand in der Weise fruchtbar gemacht, dass ein Rekurs auf Begabungskonstrukte für die Erklärung der fraglichen (Leistungs-)Phänomene verzichtbar wird. Abschließend wird anhand des Hildesheimer Projekts „Lernen statt Begabung“ vorgestellt, wie dieses theoretische Modell mit Hilfe der Kollektiven Erinnerungsarbeit (Haug) empirisch validiert werden kann.

Summary

Traditional theories of giftedness are usually roughly divided into nature-, nurture-, and interactionist theories. Resting upon this classification basic attributes of the concept of giftedness are criticised. However, the suggested position shall not be assigned to one of those three domains; rather, it is thought as an alternative to traditional theories of giftedness. For this purpose the category of learning, as elaborated by Critical Psychology, is made useful in a way that makes abdicable the recursion on giftedness constructions for the explanation of the relevant (performance) phenomena. Finally the Hildesheim research project „Lernen statt Begabung“ is introduced as an attempt to validate this theoretical model with the help of Collective Memory Work (Haug).

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Biologisch-genetische Erkenntnismöglichkeiten und die Kritische Psychologie – Versuch einer Verhältnisbestimmung

Artikel von Vanessa Lux und Jost Vogelsang in Forum Kritische Psychologie 42 (2000).

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Zusammenfassung

Anhand biologisch-genetischer Theorien zu Begabung und Schizophrenie soll die Relevanz der Beschäftigung mit neuesten Erkenntnissen aus der Genforschung, z.B. des Humangenomprojekts, für die Psychologie verdeutlicht werden. Mit Lewontin, Rose und Kamin thematisieren wir sowohl die Verkennung des Verhältnisses Mensch-Welt durch diese Theorien, als auch ihre Funktionalität für die Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse. Auf Grundlage der kritisch-psychologischen Fassung dieses Verhältnisses als gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz und Holzkamps Konzept der körperlichen Situiertheit versuchen wir, die Beziehung Mensch-Körper-Gene in einigen u.E. für Subjektwissenschaft relevanten Aspekten zu thematisieren. Problematisch ist, daß scheinbar genetische „Unzulänglichkeiten“ statt gesellschaftlicher Behinderungen/Beschränkungen im Vordergrund der gentechnischen (Er-)Forschung stehen.

Summary

The relevance for psychology of the latest results from genetic research, such as the human genome project, is illustrated with bio-genetic theories of giftedness and schizophrenia. Following Lewontin, Rose, and Kamin, we address both the failure of these theories to recognize the relationship between human beings and the world and their functionality for legitimizing of existing relationships of power. On the basis of the critical-psychological conception of this relationship as a societal mediation of individual existence and of Holzkamp’s concept of embodied situatedness we thematize some aspects of the relationship between human being-body-gene that are relevant for a science of the subject. The trouble with the gene-technological research is that it brings into focus seemingly genetic „insufficiencies“ instead of societal obstacles and restrictions.

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Vorlust – Virtualität – Enteignung

Artikel von Christoph Türcke in Forum Kritische Psychologie 42 (2000).

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Zusammenfassung

Vorlust, eine Lust, die eigentlich noch keine ist, ist eine Form virtueller Realität. Folglich läßt sich die Form virtueller Realität, die die neuen Medien präsentieren, als Vorlust-Zustand dechiffrieren. Wenn Vorlust Ersatz von Lust ist, statt ihr Vorspiel zu sein, findet ein Enteignungsprozeß psychischer Qualitäten statt, in dem sich ökonomische Enteignung mit andern Mitteln fortsetzt. Ort dieser Enteignung ist der alltägliche kulturindustrielle Betrieb.

Summary

Pre-desire, which really is no desire yet, is a form of virtual reality. Therefore, we may decode the form of virtual reality which the new media present as a state of pre-desire. If pre-desire replaces desire instead of being its foreplay, a process of dispossession of psychic qualities takes place in which economical expropriation is continued by other means. The place of this dispossession is the everyday business of cultural industry.

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„Lose your dreams and you will lose your mind“ oder: Was ist kritisch an der Kritischen Psychologie?

Artikel von Morus Markard in Forum Kritische Psychologie 42 (2000).

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Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion des Kritikbegriffs der Kritischen Psychologie und anderer Strömungen kritischer Psychologie wird entgegen der Entpolitisierung von Kritik in der Psychologie im Zeichen reflexiver Subjektivität und der Anerkennung des gesellschaftlichen Status quo in Folge der „Wende“ die Notwendigkeit der Einheit von Psychologie- und Gesellschaftskritik von einem doppelten gesellschaftstheoretischen und psychologischen Standpunkt der Kritik aus begründet. Die mit dem damit geltend gemachten marxschen kategorischen Imperativ verbundenen Dilemmata der Kritik in und an der Psychologie sowie einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts und der Kritik an Standpunkten von Subjekten (restriktive Funktionalität, „Entwicklungsfigur“) in empirischer Forschung werden theoretisch und methodisch erörtert; dabei wird für die Relevanz der bedeutungsanalytischen Dimension subjektiver Prämissenklärung plädiert. Die Umdeutung restriktiver Handlungsfähigkeit zu postmodern-progressiver Wandlungsfähigkeit wird als theoretisch bodenlos zurückgewiesen.

Summary

The concept of critique in Critical Psychology and in other currents of critical psychology is first reconstructed. Against the de-politicisation of critique within psychology in the name of reflexive subjectivity and of the affirmation of the societal status quo after the so-called „turnover“ (German unification), the necessary unity of the critique of psychology and of society is explained from both a social theoretical and a psychological point of view. The Marxist categorical imperative thus advanced, brings with it certain dilemmas, namley the dilemma of a critique in and of psychology, and the dilemma of a psychology from the standpoint of the subject and its critique of the standpoints of subjects involved in empirical studies (restrictive functionality, the „figure of development“). In so doing we stress the relevance of the analysis of meaning in the clarification of subjective premises. The reinterpretation of the restrictive action potence in terms of a postmodern-progressive changeability is repudiated as theoretically ungrounded.

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Denkgifte

Psychologischer Gehalt neoliberaler Wirtschaftstheorie und gesellschaftspolitischer Diskurse

Diplomarbeit im Studiengang Psychologie der Universität Bremen. Die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis beziehen sich auf die Original-Version. Download (PDF, 1,5 MB): tg2000a.pdf


Thomas Gerlach

Inhalt

Einleitung 3

I. Kritische Psychologie 9

1. Menschliche Subjektivität als Aspekt des materiellen Lebenszusammenhangs 9

Entstehungsgeschichte 9 – Psychologiekritik 10 – Historische Rekonstruktion der Genese des Psychischen 11 – Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz 12

2. Formationsspezifische Subjektivität im Kapitalismus 15

Objektive Lebensbedingungen: Antagonismus und Warenproduktion 16 – Gesellschaftliche Bedeutungen: Fremdbestimmtheit als ewiges Naturverhältnis 18 – Ideologischer Gehalt gesellschaftlicher Bedeutungen und Denkformen 20 – Restriktive Handlungsfähigkeit 22 – Funktionsaspekte: Deutendes Denken, verinnerlichte Emotionalität, innerer Zwang 24

3. Methodische Konsequenzen 26

4. Entfremdungstheoretische Implikationen I: Entfremdung als reale Macht 28

II. Denkgifte – Psychologischer Gehalt neoliberaler Wirtschaftstheorie und gesellschaftspolitischer Diskurse 30

1. Kapitalismus gegen Kapitalismus 30

Sozialstaatlicher Reformkapitalismus 30 – Neoliberale Restauration 34

2. Neoliberalismus als politisches Projekt 36

Das Legitimationsproblem: Bewusstseins- statt Besitzstandsbildung 41

3. Entfremdungstheoretische Implikationen II: Die herrschenden Gedanken als Gedanken der Herrschenden 43

4. Neoliberale Theorie 44

Marktreligion statt politischer Handlungsfähigkeit oder: Sklaverei ist Freiheit 45 – Aufklärung als ‚Missbrauch der Vernunft‘ oder: Unwissenheit ist Stärke 48 – Armut als zivilisatorische Errungenschaft oder: Mitgefühl ist ‚Tribalismus‘ 50 – Verdrängungswettbewerb als Leitmotiv oder: Asozialität ist Ethik 52 Militärische Gewalt als Mittel der Politik oder: Krieg ist Frieden 53

5. Der neoliberale Diskurs 54

Legale Schutzgelderpressung: Standort gegen Standort 55 – Die semantische Enteignung: Denkverwirrung durch organisierte Sprachverwirrung 60 – Die Spardebatte: Schlankwerden und Fitmachen 63 – Die Sozialmissbrauchsdebatte: Die Armen als Schuldige am Elend der Reichen 72 – Die ‚TINA‘-Strategie: Denkverbote gegen ‚Egalisierungsspleens‘ 81 – Der allseits verfügbare Mensch als normatives Ideal 88 – Die Form-Inhalts-Transformation: Mystifizierte Denkformen als massenpsychologische Parolen 93

6. Entfremdungstheoretische Implikationen III: Die fremde Macht als Welt- und Selbstbezug 96

III. Aktualempirie 99

Die Untersuchung 100 – Interviewtranskripte: Imke (Studentin) 102 – Paul (Landwirt) 110 – Jörg (Angestellter im Gesundheitswesen) 125 – Silvia (arbeitslose Musikpädagogin) 133 – Interviewauswertung: Imke 143 – Paul 151 – Jörg 160 – Silvia 165

IV. Formierte Subjektivität im neoliberalen Kapitalismus 168

Entfremdete Handlungsfähigkeit 168 – Neoliberales Einheitsdenken 170 – Emotionale Vergleichgültigung und Resignation 172 – Ausgrenzung als Normalität 174 – Angstkonservatismus 176

Literaturverzeichnis 179

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Forum Kritische Psychologie 42

Kritikbegriff der Kritischen Psychologie
Menschliche Natur / sozialer Darwinismus
Kulturindustrie
Versuchspersonen-Dasein

Inhalt

Editorial

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Morus Markard
„Lose your dreams and you will lose your mind“ oder: Was ist kritisch an der Kritischen Psychologie?

Christoph Türcke
Vorlust – Virtualität – Enteignung

Vamessa Lux, Jost Vogelsang
Biologisch-genetische Erkenntnismöglichkeiten und die Kritische Psychologie – Versuch einer Verhältnisbestimmung

Ulrike Behrens
Lernen statt Begabung: Vorschläge zu einer neuen Herangehensweise an das Problem individuell unterschiedlicher Leistungen

Claudia Stellmach
Rassismus als Wissenschaftsgegenstand – politisch und wissenschaftlich relevant

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Gisela Ulmann
Versuchspersonen-Dasein. Erfahrungen aus einem empirischen Praktikum: „Die schlechte Versuchsperson denkt?“

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Autorinnen und Autoren

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Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts

Veröffentlicht in: Forum: Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, Volume 1, No. 2, Art. 19 – Juni 2000. Verfügbar über: Morus Markard in FQS 2000

Morus Markard

Zusammenfassung: Kritisch-psychologische Methodik, fundiert im kategorial begründeten Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik, hat sich in der Realisierung der Einheit von Erkennen und Verändern und in der emanzipatorischen Relevanz der empirischen Resultate zu erweisen. Angesichts der Persistenz und Systematik kapitalistischer Produktion von Ungleichheit ist die situationsenthobene Abstraktheit quantitativ orientierter Psychologie nicht durch die Auflösung gesellschaftlicher Struktur in ein Sammelsurium von pseudokonkreten Situationen zu überwinden. An den methodischen Konzepten der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse und der Entwicklungsfigur wird gezeigt, wie der Zusammenhang gesellschaftlicher und individueller Reproduktion und Entwicklung konkret-psychologisch fassbar und verallgemeinerbar gemacht werden soll. Dazu ist erforderlich, Theorien nicht als Bedingungs-Ereignis-Relationen, also im kontrollwissenschaftlichen Bedingtheitsdiskurs, sondern als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, also im subjektwissenschaftlichen Begründungsdiskurs, zu formulieren. Gegenstand einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts sind nicht die Subjekte, die nämlich selber auf der Forschungsseite stehen; Gegenstand ist vielmehr die Welt, wie die Subjekte sie erfahren.

Keywords: Kritische Psychologie, Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse, Entwicklungsfigur, Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, Datenfunktion, Datenmodalität, Relevanz der Psychologie, Handlungsforschung, Begründungsdiskurs

Abstract: Critical-psychological methodology, based upon the conceptually grounded connection between a critique of psychology and of society has to prove successful in realizing the unity of cognition and practical change and through the emancipatory relevance of its empirical findings. Considering the persistent and pervasive capitalist production of inequality, any attempts to overcome the abstract focus of traditional „quantitative“ psychology on „de-contextualized“ individuals by means of a „contextualism“ that waters down complex societal structures to a conglomeration of (immediate) situations are bound to fail. By contrast, the methodical concepts of an „analysis of conditions, meanings, and grounds-for-action“ („Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse“) and of the „course of development“ or „developmental trajectory“ („Entwicklungsfigur“) demonstrate how it is possible to grasp psychologically and put in general explanatory terms the connections between societal reproduction and individual life activities and developments. To accomplish this, theories are not understood as contingent relationships between conditions and behavioral effects (as the „control-scientific discourse of conditionedness“ would have it), but rather as relationships between objective premises and subjective grounds for action (briefly labeled as „subject-scientific discourse of grounded action“). While treating other individuals as an integral part of the research team, a „psychology from the standpoint of the subject“ is concerned with the world-as-experienced by the subjects.

Keywords: Critical Psychology; analysis of conditions; meanings; and grounds for action („Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse“); course of development or developmental trajectory („Entwicklungsfigur“); relationships between objective premises and subjective grounds for action; function of data; modality of data; relevance of psychology; action research; subject-scientific discourse of subjective grounds for action

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Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft

Theoretische und methodische Fragen

Vortrag an der Universität Erlangen, 24.02.2000

Morus Markard

Ich will mit einer Vorbemerkung zu den beiden zentralen Begriffen im Titel meines Vortrags beginnen: „Subjekt“ und „Kritische Psychologie“.

Das Subjekt scheint in der Psychologie derzeit durchaus Konjunktur zu haben – über klinische bzw. praktische Orientierungen oder die Psychoanalyse hinaus. Allerdings ist diese Konjunktur nicht unstrittig. So enthält die damit verbundene Zunahme des Bezuges auf qualitative Methoden einmal die Streitfrage um den möglichen oder sinnvollen Grad der Wissenschaftlichkeit oder Objektivierbarkeit in der Psychologie. Je zu klären ist auch die inhaltliche Bedeutung des Subjekts in verschiedenen Ansätzen, die nicht nur die nomothetische Negation des Subjektiven ablehnen, sondern denen auch überkommene Vorstellungen von einem autonomen Subjekt, gar nicht zu reden vom geschichtsmächtigen, verdächtig sind. Man muss also genauer hinsehen, was jeweils mit „Subjekt“ gemeint ist.

Das gilt auch für die Kennzeichnung „kritische psychologie“, vor allem für das englische Etikett Critical Psychology. Critical Psychology kann mittlerweile für alles stehen, was nicht experimentell-statistisch orientiert ist: vom Sozialen Konstruktionismus über Diskurstheorie bis zur psychoanalytisch orientierten Gruppentherapie. Auch hier ist also zu differenzieren.

Um vor diesem Hintergrund die subjektivitäts-bezogenen Vorstellungen der Kritischen Psychologie, wie sie in der Berliner Arbeitsgruppe um Klaus Holzkamp entwickelt wurde, zu charakterisieren, will ich am Titel meines Beitrages die Vokabel „Entwicklung“ hervorheben: Es geht um die „Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft“. Entwicklung repräsentiert in der Veränderung auch Kontinuität. Anders formuliert: In der Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft sollten frühe Ansprüche der Verbindung fundamentaler Psychologie- und Gesellschaftskritik, frühe Ansprüche der theoretischen Verbindung von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung nicht aufgegeben, sondern sie sollen angemessener realisiert werden.

Die Anfänge der Kritischen Psychologie sind eng mit der – stark politisch inspirierten – Psychologiekritik der Studentenbewegung verbunden, die sich vor allem als Funktionskritik, also als Kritik an der Funktion der Wissenschaft „Psychologie“, die mit ihren Befriedungs- und Selektionsstrategien allein zur „Herrschaftswissenschaft“ tauge, zu „Befriedungsverbrechen“, wie es im Titel eines von Basaglia und anderen herausgegebenen Buches heißt, das den Untertitel trägt: „Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen“.

In der Tat gibt es ja so gut wie keinen Problembereich der Gesellschaft, an dessen Entwicklung oder Reproduktion Psychologinnen und Psychologen nicht beteiligt wären – sie betreuen Bomberpiloten in Angriffskriegen, sie versuchen ihnen anvertraute Minderjährige mit Erziehungsstrategien zu übertölpeln, sie waren an der Optimierung von Folter ebenso beteiligt wie daran, ökonomisch-soziale Problemen zu personal-psychologischen umzuformulieren: wenn etwa aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie deren mangelnde Frustrationstoleranz oder aus der Kombination von Armut und der Karstadt-Werbung „aufgepasst – zugefasst“ der psychologisch zu behandelnde minderjährige Ladendieb wird.

In eben dieser Linie der Kritik resümierte noch Ende der 80er Jahre einer der Herausgeber der – mittlerweile allerdings eher postmodern orientierten – Zeitschrift „Psychologie & Gesellschaftskritik“, Siegfried Grubitzsch, derzeit Präsident der Universität Oldenburg, es sei dort nie darum gegangen, „die Analyse menschlichen Verhaltens und Bewußtseins in der Absicht zu betreiben, eine bessere Psychologie zu produzieren, sondern die Bedingungen und damit das Verhalten selbst als gesellschaftlich konstituiert aufzuzeigen. Bedingungen aufzuzeigen, die das menschliche Subjekt zerstören, und zu benennen, welchen Anteil die Psychologie als Wissenschaft daran hat.“ (1988, 113)

Daran störten und stören – rückblickend – die Kritische Psychologie Berliner Observanz weniger die politischen Implikationen als der Widerspruch, daß im Zitat – i.w.S. psychologische – Aussagen über Subjektivität gemacht werden, gleichzeitig aber die Wissenschaft „Psychologie“ aufgegeben werden soll. Denn in der zitierten Passage sind ja mindestens implizit Vorstellungen über menschliche Subjektivität und dieser angemessene bzw. unangemessene gesellschaftliche Verhältnisse enthalten. (Ich halte es zwar nicht für zwingend, daß es im arbeitsteiligen Gesamt der Wissenschaft unbedingt eine Disziplin „Psychologie“ geben müsse, wohl aber, daß im Zitat Bezug auf ein Wissen genommen wird, das seit über 100 Jahren nicht nur, aber auch in der Psychologie versammelt und diskutiert wird.) Und: Es gibt ja nicht nur Psychologen, die sich, wie skizziert, an der Reproduktion gesellschaftlicher Fehlentwicklungen beteiligen, sondern auch andere, die versuchen, gerade dies herauszuarbeiten, die versuchen, gegen rassistische Entwicklungen zu arbeiten und etwa herauszufinden, warum in der S-Bahn einem drangsalierten Schwarzen niemand hilft. In diesem Widerspruch zwischen Selektion und Emanzipation ging und geht es um die sog. Relevanz der Psychologie.

Ein 1970 publizierter Aufsatz von Klaus Holzkamp dazu beschäftigte sich mit dem Problem derart, daß er gesellschaftlich-politische und fachlich-methodische Aspekte verband. Das heißt, er faßte Relevanz weder allein unter politischen Aspekten noch bloß als Problem experimental-methodologisch erzwungener Reduktion der Komplexität und Vielfalt alltäglicher menschlicher Aktivitäten und gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge auf einige davon isolierte Variablen. Vielmehr unterschied er – unter Bezug auf Habermas – zwischen „technischer“ und „emanzipatorischer Relevanz“, um das problematische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis eben fachlich und politisch angehen zu können.

Was bedeutet nun technische Relevanz? Zur Klärung muß man sich auf folgende Eigenart des variablenpsychologischen Experiments beziehen. Dort geht es bekanntlich darum, unter der Kontrolle der Forscher/Vl die Wirkung der von diesen hergestellten Bedingungen auf Erleben und Verhalten der Vpn zu erfassen. Was damit – günstigstenfalls, also bei interner und ggf. externer Validität – erfaßt werden kann, ist, wie Menschen sich unterfremdgesetzten, von ihnen unbeeinflußbaren Bedingungen verhalten. „Technische“ Relevanz bedeutet unter dieser Voraussetzung die – potentielle – Bedeutung psychologischer Resultate für außerexperimentelle Lebensverhältnisse, bei denen davon abstrahiert wird, daß Menschen nicht nur unterBedingungen leben, sondern sie ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern. Holzkamp formulierte seinerzeit: „Wenn man Lebewesen, die eine Geschichte haben, die – der Möglichkeit nach – auf reflektierte Weise Subjekte dieser Geschichte sein können, die – ebenfalls der Möglichkeit nach – sich bewußt eine ihren Bedürfnissen gemäße … Welt schaffen können und die schließlich in freiem, symmetrischem Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als ,Menschen‘ bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine Geschichte haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, ‚Organismen‘ nennen will, so kann man feststellen, daß (in der experimentellen Anlage) restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich – der Möglichkeit nach – wie ‚Menschen‘ verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie ‚Organismen‘ zu verhalten.“

Emanzipatorische Relevanz nun wurde demgegenüber so definiert, daß in psychologischen Konzepten und methodischen Anordnungen der im Experiment vermißten Doppelbestimmung menschlicher Existenz – objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung – Rechnung zu tragen sei, als Voraussetzung dafür, eine gegenüber problematischen, daß heißt, subjektive Bestimmung einschränkenden, gesellschaftlichen Verhältnissen praktisch eingreifende Psychologie entwickeln zu können.

Zweierlei wurde schnell deutlich, 1. dass diese einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnisse einen Namen haben: Kapitalismus, und 2. dass vernünftige Interessenvertretung in freiem Dialog materielle Verhältnisse voraussetzt, in denen der Mensch – mit dem kategorischen Imperativ von Marx (1967a, 79) gesprochen – nicht mehr „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist, anders formuliert, Verhältnisse, worin real „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx & Engels 1969b, 482), ein Standpunkt, der einschließt, vorher gegenläufige Verhältnisse „umzuwerfen“ (ebd.), nicht bloß umzuinterpretieren oder wegzudiskutieren. Denn die bloße „Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer anderen Interpretation nur anzuerkennen.“ (Marx & Engels 1969, 20). Das u.a. meint die Rede von der befriedungsverbrecherischen Dienstbarkeit der Intellektuellen.

Das Problem bestand nun aber darin, inhaltliche Kriterien für die so intendierte emanzipatorische Relevanz zu gewinnen. Denn wegen der erwähnten Beschränkung waren diese Kriterien ja nicht aus der vorfindlichen, experimentell dominierten Psychologie zu gewinnen. Dem denkbaren Einwand, daß diese aber doch über empirische Erkenntnisbestände verfüge, wurde folgendes entgegengehalten: Erstens: Diese Erkenntnisbestände konnten zur Gewinnung inhaltlicher Relevanzkriterien nichts beitragen, weil auch bewährte Hypothesen über die „anthropologische“ Angemessenheit der Begriffe, in denen sie formuliert sind, grundsätzlich nichts aussagen können. So kann bspw. die empirische Bewährung des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz nicht über die humanwissenschaftliche Angemessenheit der Grundbegriffe Reiz, Reaktion, und Verstärkung entscheiden. Entsprechend ist der differentielle Erkenntnisgehalt konkurrierender Konzepte und Definitionen und damit verbundener Daten auf dieser Ebene nicht auszumachen. Das zweite Problem bestand darin, daß die gesuchten Kriterien auch nicht durch die schlichte Rücknahme methodischer Reduktionen zu gewinnen war. Denn damit landet man bei jenen Alltagsvorstellungen, deren Verkürzungen zu überwinden potentielle Funktion von Wissenschaft ist. Ich hoffe, Werbiks Unterscheidung zwischen Psychonomie und Psychologie richtig verstanden zu haben, wenn ich folgende Parallele ziehe: Von der Psychonomie führt nur dann ein Weg zur Psychologie zurück, wenn ich diese vorher inhaltlich bestimmt habe. Die Frage war aber, die diese Psychologie zu bestimmen sei.- Auf psychologische Praxis bezogen: Woran sollen und können sich Psychologen fachlich orientieren, die sich nicht an dem kritisierten psychologischen Treiben beteiligen wollten?

Es ergab sich noch ein weiteres Problem: Wenn man von der Annahme ausgeht, daß der Mensch Natur-, Gesellschafts- und individuelles Wesen ist, wie läßt sich dann, da diese Aspekte auf der Phänomen-Ebene zwangsläufig vermischt erscheinen, klären, was an den jeweiligen Lebensäußerungen natürlich, was daran gesellschaftlich-formbestimmt, was daran indivduell-idiosynkratisch ist? Die Frage etwa, ob der Mensch von Natur aus a-sozial ist und entsprechend gesellschaftlich gebändigt werden muß, ist unter emanzipatorischer Perspektive theoretisch und praktisch – etwa in Erziehungsfragen – nicht zu unterschätzen, da von ihrer Beantwortung erstens abhängt, ob gesellschaftliche Repression generell notwendig ist oder nicht, und zweitens, ob und wie bzw. inwieweit psychologische Konzeptionen dieses Problem formulieren und fassen.

Wenn man davon ausgeht, daß die gegenwärtige Verfaßtheit der Gesellschaft die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten behindert, hätte eine emanzipatorische Psychologie eben jene menschlichen Möglichkeiten auf den Begriff zu bringen, die in der vorfindlichen Psychologie begrifflich unterschritten und in der bürgerlichen Gesellschaft real behindert werden. Dies würde also bedeuten, die Begrifflichkeit der vorfindlichen Psychologie daraufhin zu untersuchen, inwieweit dort menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten, verkürzt um ihre allgemeine Perspektive, nur in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmtheit gefaßt werden, letztere aber blind universalisiert wird.

Zwei Beispiele:

Ist z.B. Motivation so zu fassen, dass Menschen im Ergebnis einer psychologischen Intervention wollen, was sie wollen sollen, oder so, dass danach gefragt wird, in wessen Interesse wer was wollen soll, danach, wie je meine Lebensmöglichkeiten davon tangiert sind, dass oder wenn ich an mich gestellte Anforderungen erfülle?

Oder: Im Konzept des Vorurteils schwingt eine Art persönlicher Zuschreibung mit. In dieser Tradition fragt man sich, wie Rassisten sind, warum Menschen zu Rassisten werden: Man kann aber angesichts der herrschenden Ausländerpolitik und -gesetzgebung auch fragen: Wie sollten Menschen nicht ausländerfeindlich, nicht rassistisch werden, wenn sie doch den Ausschluss, die Ausgrenzung von „AusländerInnen“ jeden Tag als „Recht und Gesetz“, als gesellschaftlich legitim vorgeführt sehen? Warum sollten Menschen, aus welchen sozialen Gruppen auch immer, nicht auf die Idee kommen, dass sie Entsprechendes auch in ihrem Alltagsdenken und -handeln vollziehen dürfen? Warum sollte die Vorstellung, dass eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von AusländerInnen eine Verbesserung der Lage Einheimischer brächte, nicht ins alltägliche Denk- und Handlungsrepertoire Einheimischer übergehen? Wenn man so fragt, sieht man Rassismus nicht in erster Linie als persönliches Vorurteil, sondern als Reproduktion alltäglicher Lebensweise, eines institutionellen Rassismus.

Soweit nun in psychologischen Konzepten und Befunden menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten nur verkürzt gefasst bzw. gesellschaftliche Verhältnisse ausgeblendet werden, wäre aber auch eine als objektiv sich in Szene setzende Psychologie als in Wirklichkeitparteilich blamiert; mehr noch: Es wäre ein jenseits gesellschaftlicher Widersprüche operierender Objektivitätsbegriff grundsätzlich problematisiert. In gesellschaftliche Widersprüche eingelassene psychologische Konzepte sind unvermeidlich parteilich, ihr unterschiedlicher Erkenntnis- und Objektivitätsgehalt ergibt sich mit ihrer Potenz, das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit menschlicher Existenz zu entfalten, wie etwa am Motivationsbeispiel skizziert, mit dem wissenschaftspolitischen Anspruch, wissenschaftlicher Erkenntnis gegen Fremd- und Selbstbeschränkung aufrecht zu erhalten, das Verhältnis von Wissenschaft und Macht zu reflektieren, als ein Verhältnis, das nicht nur äußerlich ist, also die Organisation und institutionelle Durchsetzung wissenschaftlicher Auffassungen betrifft, sondern in die Poren wissenschaftlichen Denkens eindringt.

Wie auch immer: emanzipatorisch intendierte Wissenschaft bedarf einer Perspektive, in der Verkürzungen als Verkürzungen sichtbar werden. Das ist das zentrale Problem, jedenfalls dann, wenn man des status quo nicht als Maßstab akzeptiert, aus dem Bestehenden das Mögliche nicht streichen will.

Diese mit der Funktionskritik inhaltlich verbundenen, allerdings über sie hinausgehenden Fragestellungen verdankten sich dem Bezug der sich entwickelnden Kritischen Psychologie auf marxistische Theorie von Natur und Gesellschaft. Diesem Bezug verdankte sich auch das Bemühen um eine eigene, genuin marxistische Psychologie-Konzeption. Diese Intention hatte sich besonders mit zwei Auffassungen auseinanderzusetzen:Erstens mit derjenigen, daß menschliche Subjektivität auf den bloßen Schnittpunkt der ökonomischen Bedingungen zu bringen sei: Dann allerdings, so unser Einwand, bedarf es keiner eigenen wissenschaftlichen Konzeption, Subjektivität wäre dann nur unselbständiges Moment der Gesellschaftstheorie. Diese ökonomistische Vorstellung läuft letztlich auf eine psychologische Milieutheorie hinaus, in deren Bann Menschen immer nur als bedingt und bewirkt, nicht aber als bewirkend und Bedingungen verändernd begriffen werden können – wie in der experimentellen Anordnung. Die zweite Position, mit der man sich auseinanderzusetzen hatte, bestand in dem historisch verständlichen Vorschlag, die Beschäftigung mit Subjektivität der Psychoanalyse zu überantworten und diese mit marxistischer Gesellschaftstheorie zu kombinieren. Das hierbei auftauchende Problem besteht aber darin, daß die Psychoanalyse mit ihrem antigesellschaftlichen Triebmodell kein mit dem Marxismus vereinbares Konzept des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft besitzt. Die zentrale theoretische Aufgabe, den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in seinen Widersprüchen zu fassen, wird verstellt, wenn die dabei anvisierten wissenschaftlichen Bezugssysteme für die Fragen des Verhältnisses von Subjektivität und Gesellschaft sich widersprechen.

Ich denke, bis hierhin Wesentliches zu dem Problembestand formuliert zu haben, der in kritisch-psychologischer Subjektivitätskonzeption einer Lösung näherzubringen war. Ich resümiere die Problemfelder: Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik mit emanzipatorischer Perspektive, das Begreifen des konkret-historischen Zusammenhangs individueller und gesellschaftlicher Reproduktion mit der Ermöglichung differentieller Beurteilung des Erkenntnisgehalts vorfindlicher psychologischer Konzeptionen, dabei Ansprüche an Objektivitätskriterien nicht zu ermäßigen. Es ging also darum, die Besonderheit menschlichen Handelns und Erlebens dadurch zu begreifen, daß die Besonderheit desZusammenhang zwischen individuellem Lebens- und gesellschaftlichem Reproduktionsprozeß faßbar wurde.

Methodisch lief das – in Anlehnung an das logisch-historische Verfahren von Marx – auf den Versuch hinaus, mit interdisziplinären Bezügen das Psychische in seiner Geschichtlichkeit historisch-empirisch zu re-konstruieren.

Ich kann mich hier aber nur auf das Resultat beziehen, das Holzkamp in seiner Grundlegung der Psychologie die „gesamtgesellschaftlich Vermitteltheit individuelle Existenz“ nannte: Daran will ich zwei Aspekte herausheben:
1. Gesellschaft ist dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern nur in ihren dem Individuum zugewandten Ausschnitten gegeben. Entsprechend sind einzelne Sachverhalte in ihrer Bedeutung nicht mehr aus sich selber alleine heraus zu begreifen, sondern nur aus ihrer Funktion im Gesamt der arbeitsteiligen Reproduktion. Objektiv bewegt sich damit der Lebensprozeß des Individuums im Widerspruch, in der „Gegenläufigkeit des gesamtgesellschaftlichen Prozesses von der Produktionsweise her und der Strukturierung des personalen Lebensprozesses von der Reproduktion des individuellen Daseins her“ (1983, 358).
2. Gesellschaftliche Bedingungen determinieren menschliches Handeln nicht, sondern sie sind als Bedeutungen zu fassen, die für die Menschen Handlungsmöglichkeiten repräsentieren, zu denen sie sich verhalten können und müssen.

Auf dieser Grundlage sehen wir die Perspektive für die Lösung des Subjektivitäts-Objektivitäts-Problems in der Beantwortung der Frage, wie das Vermittlungsverhältnis von subjektiv-individuellem Lebens- und objektiv-gesellschaftlichem Reproduktionsprozeß psychologisch gefaßt werden kann, und zwar unter folgender Voraussetzung: ‚Mein‘ subjektiver Standpunkt ist „zwar der Ausgangspunkt meiner Welt- und Selbsterfahrung, aber damit keine unhintergehbare bzw. ‚in sich‘ selbstgenügsame Letztheit (…) Der ‚Standpunkt des Subjekts‘ schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein. (…)“. (a.a.O., 538 f.).

Die hier nur in resultathaftem Staccato skizzierte Entwicklung zur Subjektwissenschaft bedeutet, wie anfänglich gesagt, keine Abwendung von der ursprünglichen Funktionskritik und vom marxistischen Bezug der Kritischen Psychologie, sondern den Versuch ihrer Weiterentwicklung – übrigens auch vor dem Hintergrund, dass keines der Probleme, denen sich die Entstehung der Kritischen Psychologie verdankt, bislang gelöst ist.

Ich möchte abschließend am Resultat der skizzierten Entwicklung drei Aspekte herausheben: 1. das Konzept der Handlungsfähigkeit als Vermittlungskonzept zwischen gesellschaftlich Bedeutungen und subjektiven Handlungsgründen, 2. die Relevanz des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bzw. von gesellschaftlicher Struktur und situiertem Kontext und 3. methodologische Konsequenzen.

1. Handlungsfähigkeit als Vermittlungskategorie

Handlungsfähigkeit ist in der Kritischen Psychologie der Begriff, mit dem die genannte Vermittlung der individuellen mit der gesellschaftlichen Reproduktion zum Ausdruck gebracht werden soll. Wie gesagt, wird die Weltseite dabei gefaßt als Bedeutungen, zu denen sich das Individuum verhalten kann und muß, Bedeutungen, die menschliches Handeln also nicht direkt determinieren, sondern als Handlungsmöglichkeiten aufgefaßt werden müssen. Daraus folgt aber nicht, Handeln sei diesen Bedeutungen gegenüber geradezu beliebig. Ich betone das deswegen, weil in der Psychologie die Absicht, das Subjekt in seiner Intentionalität zur Geltung zu bringen, dazu führen kann, Handeln zu bloßen Sinnstiftungen zu sublimieren, „freigesetzt“ von den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, die Sinngeschehen in je aufzuschließender Weise formieren, womit wieder einmal das Verhältnis von „objektiver Bestimmtheit“ und „subjektiver Bestimmung“ verfehlt wird.

Handeln ist weder direkt determiniert, noch Ausdruck frei flottierender Sinnstiftung, sondern in Prämissen begründet – gemäß den Interessen des Individuums und unter Bezug auf die ihm gegebenen Bedeutungen, die als sachlich-soziale Weltgegebenheiten Handlungsmöglichkeiten repräsentieren. Diese werden für das Individuum dann zu ‚Handlungs-Prämissen‚, wenn es im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickeln muß. Prämissen sind also vom Individuum ‚herausgegliedert‘ Aspekte von Bedeutungskonstellationen. Prämissen sind Bedingungen, wie ich sie akzentuiere, sie sind sozusagen der subjektiv begründete Weltbezug. Theoretische Aussagen über Handlungen fassen wir dementsprechend als Aussagen über Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Der von Holzkamp unausgeführte, posthume Entwurf des Konzeptes „Lebensführung“ akzentuiert das alltäglich Prozeßhafte dieses Zusammenhangs. Ohne diesen Zusammenhang wäre es trivial. Ich komme darauf zurück.

Um einem allfälligen Mißverständnis vorzubeugen, möchte ich folgendes hervorheben: „Begründet“ bedeutet hier nicht „rational“ oder „bewußt“, wie sich am Beispiel überkochender Milch veranschaulichen läßt: Milch kocht gewiß nicht bewußt über, wohl aber auch nicht unbewußt, sondern unter bestimmten Bedingungen, sie kocht bedingt über. „Begründet“ bedeutet auch nicht „rational“, sondern wird von uns als Gegenbegriff zu „bedingt“ verstanden. Unbewußtes macht nur im Begründungsdiskurs Sinn.

Begründetheit und deren Rekonstruktion schließt auch die Rede von Irrationalität aus: „Mein“ Verdikt der Irrationalität des anderen ist aus Außensicht unbegriffene Prämissenlage eines anderen.

2. Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit; restriktive / verallgemeinerte Handlungsfähigkeit

Wenn, wie gesagt, gesellschaftliche Verhältnisse dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern immer nur in Ausschnitten, mit unmittelbar nicht sicht- und erfahrbaren Verweisungszusammenhängen, gegeben sind, dann ist den situativ-unmittelbaren Kontexten deren Vermittlung mit gesellschaftlichen Strukturen nicht auf die Stirn geschrieben.

Dass Situationen zu ihrem psychologischen Verständnis auf ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge hin analysiert werden müssen, mag das Beispiel eines als konzentrationsschwach diagnostizierten Schülers verdeutlichen: Die Fixierung des Blicks auf diesen Schüler und seine vermeintliche Eigenschaft verstellt den Blick darauf, daß zu diesem konzentrationsschwachen Schüler womöglich ein didaktikschwacher Lehrer gehört, der seinerseits wiederum seinen Stoff stur durchzieht, weil er sich unter dem Druck von Lehrplänen sieht, deren Zustandekommen sich Einflüssen verdankt usw. usf. Die Konzentrationsstörung, die im Gewande phänomenaler Konkretheit erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt oder pseudokonkonkret (Kosik), und zwar deswegen, weil dabei – im Alltagsdenken wie seiner blinden Reproduktion in der Psychologie – von den skizzierten gesellschaftlichen Vermittlungen des Phänomens abgesehen, also abstrahiert wird. Damit werden Konkretheit und Abstraktheit verkehrt.

Wie sich am Beispiel zeigt, wird in dieser Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit auch von gesellschaftlichen Machtkonstellationen abgesehen, ein Umstand, der in dem Maße wahrscheinlicher wird, in dem Machtverhältnisse selber abstrakter werden. Es zeigt sich hier auch, warum aus unserer Sicht Psychologie eines Bezuges auf Gesellschaftstheorie bedarf – natürlich im Wissen darum, daß auch gesellschaftstheoretische Konzeptionen konkurrierend und strittig sind, marxistische Konzeptionen allemal – aber das ist ja ein generelles Problem interdisziplinärer Bezüge.

In der Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit erscheint es so, als seien Konflikte, die in der unmittelbaren Lebenswelt des Individuums auftreten, auch dort entstanden und unter alleinigem Bezug auf diesen Zusammenhang lösbar. Das Individuum ist dann sisyphosartig mit dem Versuch befaßt, seine Lebensqualität durch Arbeit an sich selber, an seinen unmittelbaren Beziehungen zu erhöhen – und damit übrigens gelegentlich auch das Einkommen von Therapeuten. Hier zeigt sich das Dilemma, daß psychologische Berufspraktiker immer wieder der dilemmatischen Erwartung ausgesetzt sind, psychologische Probleme zu kurieren, ohne wesentlichen Einfluß auf die Lebensumstände nehmen oder veranlassen zu können, aus denen diese Probleme verständlich werden.

Meine nur knappe Erwähnung gesellschaftlicher Machtverhältnisse verweist auf den für uns wesentlichen Umstand, daß Handlungsmöglichkeiten dem Individuum nicht ungebrochen, sondern immer in einem je zu klärenden Verhältnis zu gesellschaftlich vermittelten Handlungsbehinderungengegeben sind. Dabei hat das Individuum strukturell die Alternative, in, wie wir sagen, „restriktivem“ Bewältigungsmodus bloß zugestandeneMöglichkeiten zu „nutzen“ bzw. nahegelegte Denkformen zu reproduzieren oder diese Möglichkeiten selber zu erweitern; die erste Möglichkeit verfestigt ggf. die Probleme, mit denen es konfrontiert ist. Die zweite Möglichkeit birgt aber auch ein Risiko in sich, nämlich das, zu scheitern und sich weitere, größere Probleme einzuhandeln – eine konfliktträchtige Alternative, die den Kern subjektwissenschaftlicher Forschung als Analyse von Handlungsfunktionalitäten ausmacht. Holzkamp hat in seinem nachgelassenen Manuskript über „Lebensführung“ als die „formale Seite“ problematischer Lebenssituationen „Ausgrenzung, Unterdrückung, Ignorierung, Mißachtung der Lebens-/Verfügungsinteressen des anderen – sei es des einzelnen Anderen oder des Anderen als Gruppe“ (1996, 104) hervorgehoben.

Die zentrale Aufgabe subjektwissenschaftlicher Analysen ist die Herausarbeitung des Verhältnisses zwischen unmittelbarer Situation bzw. deren durchaus anschaulicher Erfahrung und den in beide ragenden gesellschaftlichen Strukturen, Strukturen, die selber aber nicht anschaulich, sondern nur theoretisch zu rekonstruieren sind. Ohne deren Rekonstruktion wäre der Weltbezug psychologischer Forschung, wie Holzkamp sich in seinem erwähnten, nachgelassenen Manuskript über „Lebensführung“ ausdrückt, „flach“: „Der Weltbezug psychologischer Theorie … kann … nur angemessen begriffen werden, wenn wir von der bloßen Tatsächlichkeit der Welt zu ihrer Struktur übergehen.“ (1996, 55) Insofern liegt, so Holzkamp im selben Manuskript, eine „der Hauptaufgaben unserer Analyse … darin, die Vermittlung zwischen Gesellschaftsstruktur und Individuum … herauszuarbeiten“ (Holzkamp 1996, 48). Das bedeutet aber auch eine Absage an alle Konzeptionen, die die Gesellschaft in ein Sammelsurium von Situationen auflösen und die in Situationsansätzen die traditionelle Psychologie zu überwinden versuchen. Die situationsenthobene Abstraktheit der traditionellen Psychologie ist u.E. nicht durch pseudokonkrete Situationsanalysen zu überwinden.

3. Methodische Konsequenzen

Um die methodischen Konsequenzen der hier vorgestellten Überlegungen zu verdeutlichen, muß ich noch einmal auf das Bedingtheitsdenken rekurrieren, das im Experiment seinen prägnantesten forschungspraktischen Ausdruck findet. Dort werden Theorien als Bedingungs-Ereignis-Relationen formuliert. (Darauf, dass dies übrigens ein methodisch folgenreiches Selbstmissverständnis nomothetischer Psychologie ist, komme ich noch kurz zurück.) Bedingungs-Ereignis-Relationen sind nicht vom Standpunkt des Subjekts aus gedacht, sondern von einem Außenstandpunkt, von dem aus das Subjekt Manipulations-Objekt ist. In einer subjektwissenschaftlichen Psychologie sind aber, wie schon gesagt, theoretische Aussagen als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zu konzeptualisieren. Diese sind, da Gründe immer erster Person sind, nur vom Standpunkt des Subjekts aus zu formulieren. Daraus folgt, daß psychologische Theorien Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte sein müssen – über eigene Interessen, Motive, Gründe und über die Konsequenzen des Handelns in wichtigen bzw. problematischen Lebenssituationen vom Standpunkt des Subjekts aus.

Wenn nun psychologische Theorien als Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte verstanden werden, ist dem in methodischen Anordnungen und psychologischen Konzepten Rechnung zu tragen, und es ist im Begründungsdiskurs zu argumentieren. Anders: Wenn Theorien der Selbstverständigung der Subjekte dienen, dann ergibt sich daraus, daß Menschen nicht Gegenstand der psychologischen Forschung sind, daß sie nicht ‚beforscht‘ werden, sondern daß sie selber – zusammen mit den psychologischen Professionellen – auf der Forschungsseite stehen. Die Selbstcharakterisierung unseres Ansatzes als einer „Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ ist also nicht metaphorisch, sondern wörtlich gemeint. Gegenstand der Forschung ist nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt. Aus diesem Grunde sind subjektwissenschaftliche Aussagen keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen (z.B. als konzentrationsschwach), sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. Verallgemeinerbare – Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen.

Ich hatte eben schon darauf verwiesen, daß Erfahrungen auf ihre – unanschaulichen – gesellschaftlichen Strukturmomente hin zu analysieren sind. Daß dies möglich ist, ergibt sich methodisch aller Unmittelbarkeit und Authentizität von Erfahrung zum Trotz daraus, daß individuelle Erfahrungen in gesellschaftlichen Denkformen gemacht werden. Deswegen ist das Erlebnis der Unmittelbarkeit bzw. die Unmittelbarkeit der Erfahrung zwar evident und weder in Zweifel zu ziehen noch zu hintergehen, die Evidenz aber ist hinterfragbar.

Was ich meine, läßt sich am Problem frühkindlicher Erfahrungen Erwachsener von sexuellem Mißbrauch veranschaulichen. Dabei geht es um die Aufklärung der Erfahrung sexueller Gewalt bzw. des Aufklärungspotentials erfahrener sexueller Gewalt für gegenwärtige Lebensprobleme und damit um das Problem des Verhältnisses von Erfahrung und Deutung. Erfahrungen kann zwar nur je ‚ich‘ machen, aber ‚ich‘ mache sie nicht im luftleeren Raum, sondern, vor allem in dem Maße, in dem ‚ich‘ ihrer innewerde, im Medium gesellschaftlicher Sprach- und Denkformen und damit auch im Medium konkurrierender psychologischer bzw. alltäglicher Konzepte. Wie ich das, was mir widerfährt, erfahre, bzw. inwieweit ‚ich‘ für ‚mich‘ Erfahrenes – hier z.B. sexuelle Gewalterfahrungen – zum Angelpunkt der Klärung meiner gegenwärtigen Lebensprobleme mache bzw. inwieweit dies andere, Professionelle, für ‚mich‘ deutend tun, hat eine theoretische Dimension, in die Alltags- und wissenschaftliche Vorstellungen eingehen.

Dies hat die zentrale Implikation, daß das Authentische und das Theoretische in individueller Erfahrung keinen Gegensatz bilden, sondern eine widersprüchliche Einheit. Erfahrungen sind nur im Lichte von Theorien bzw. Urteilskriterien aufzuschlüsseln.

Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffen, bedeutet das Aufschlüsseln und Mitteilen der Unmittelbarkeit (der Erfahrung) an andere die Explikation ihrer wirklichen Vermitteltheit. Mit diesen Überlegungen sind die theoretischen und methodischen Probleme der Aufschlüsselung von Erfahrung natürlich nicht gelöst, sondern nur gestellt. Und: Das Methodenproblem dreht sich in diesem Sinne um das Problem der – intersubjektiven – Selbstverständigung über Erfahrungen.

Dabei bedeutet „Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ natürlich nicht Psychologie vom Standpunkt des jeweiligen Subjekts. Es geht vielmehr um eine Psychologie vom verallgemeinerten Subjektstandpunkt aus, das heißt um eine Psychologie im Begründungs- statt im Bedingtheitsdiskurs. Daß die jeweiligen Subjekte nicht beforscht werden, sondern auf der Seite der Forschung stehen, bedeutet natürlich auch nicht, daß die professionell Forschenden sich inhaltlich auf die Seite dieser jeweiligen Mitforschenden schlagen. Das ist formal ja schon dann ausgeschlossen, wenn es sich um mehrere, ggf. in Konflikt befindliche Mitforschende handelt. Daß die professionell Forschenden nicht einfach auf der Seite derjeweiligen Mitforschenden stehen können, ergibt sich aber auch aus der genannten Differenzierung von Erfahrung zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit und den damit verbundenen ideologiekritischen Überlegungen und aus dem praktischen Weltbezug der Subjekte, der für subjektwissenschaftliche Forschung konstitutiv ist – durchaus entsprechend der berühmten Marxsche Feuerbach-These, der gemäß es nicht nur drauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern: Spätestens dann, wenn es um praktische Konsequenzen aus Forschung / Analysen geht, gibt es ja Meinungsverschiedenheiten – auch eben zwischen Forschenden (ein Problem, das sich durch Rückzug der Forschung von praktischen Veränderung natürlich vermeiden läßt). Der für die Kritische Psychologie konstitutive Gedanke emanzipatorischer Veränderung schließt Kritik an Verhältnissen und Verhalten ein. Hier sind inhaltliche Kontroversen kaum zu vermeiden, jedenfalls dann nicht mehr, wenn praktische Forschung praktische Änderungen ins Auge faßt. Dieses Problem ist in unserem Konzept der Entwicklungsfigur genauer gefaßt, auf das ich ggf. in der Diskussion zurückkommen kann.

Wie ich vorhin sagte, haben im Begründungsdiskurs zu entwickelnde theoretische Zusammenhangsaussagen die Form von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen. Fallbezogen, wie sie sind, enthalten sie keine Feststellungen zu Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene. Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander „verrechnet“ werden. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge artikulieren vom Subjekt gestiftete Sinnzusammenhänge, sind Ausdruck subjektiv guter Gründe. Deswegen ist der Zusammenhang zwischen Handlungsprämissen, Lebensinteressen und Handlungsvorsätzen formal als implikativ zu verstehen und somit einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Wenn jemand unter denselben Prämissen einen anderen Handlungsvorsatz faßt, spricht das nicht gegen die Geltung des vorigen Zusammenhangs, sondern dafür, daß im zweiten eine andere Vorstellung subjektiver Vernünftigkeit vorliegt. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selber ab vom Gedanken der Subjektivität. Verallgemeinerungsmöglichkeiten liegen nicht in zentralen Tendenzen, sondern in der Herausarbeitung gesellschaftlich vermittelter Handlungsmöglichkeiten. Es kommt dabei darauf an, daß die subjektive Sinneinheit des Falles analytisch nicht verlorengeht.

Holzkamp hat nun an vielen Beispielen aus der Sozial- und Lernpsychologie an zahlreichen Beispielen nachgewiesen, daß sich in offiziell alsBedingungs-Ereignis-Konstellationen formulierten Hypothesen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge verbergen. Unter dieser Voraussetzung kann von einer kontingenten Beziehung zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente keine Rede mehr sein. Dies hat nun erstens methodisch zur Konsequenz, daß die Prüfung dieser Theorien ein Mißverständnis, pseudoempirisch, ist. Zweitens – und vielleicht noch wichtiger – zeigt sich daran, daß Annahmen über Handlungsgründe nicht in eine hermeneutische Exklave der Psychologie abgeschoben werden können, sondern wesentliche Konzeptionen und Theorien des psychologischen mainstream prägen, dessen Offizialdiskurs sich damit als theoretisch und methodologisch irrig erwiese.

Mit den hier vorgetragenen Überlegungen sind weniger Probleme gelöst, sondern eher auf eine, wie wir hoffen, produktive Weise gestellt.

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Unterhalb der Wahrnehmungsebene. Oder: Der Verlust des Mitgefühls

Artikel von Astrid Albrecht-Heide in Forum Kritische Psychologie 41 (1999).

Download: FKP_41_Astrid_Albrecht-Heide

Zusammenfassung

In diesem Text geht es um das Ineinandergreifen von gesellschaftlichen und individuellen Dimensionen und Mechanismen, die es ermöglichen, dass Menschen, die abgeschoben werden, unterhalb der Wahrnehmungsebene der hegemonial Handelnden bleiben. Ebenso wird die doppelte Verstrickung von UnterstützerInnen in die Dominanzkultur einerseits und die Entmächtigung in der Berührung mit den Ausgegrenzten andererseits thematisiert.

Summary: Below the level of perception – Or: the loss of compassion

This article is an attempt to analyse the way in which individual and societal dimensions and mechanisms intertwine so that persons who are to be deported disappear below the level of awareness of those acting from hegemonic position. At the same time, this analysis examines the complex involvement of helpers of persons to be deported since they find themselves as a part of the dominant culture and simultaneously experience disempowerment in the concrete context of those marginalised and deported.

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