Klaus Holzkamp – ein Gelehrter alten Stils

klaus-holzkampMorus Markard

Nachruf zum Tod von Klaus Holzkamp am 1. November 1995

Francis Bacon, einer der Wegbereiter neuzeitlicher Wissenschaft, mahnte die wissenschaftlich Arbeitenden, sie mögen sich überlegen, was wirklich das Ziel der Erkenntnis ist, und daß sie dieses nicht aus Freude an der Spekulation noch aus Wetteifer, noch zur Erlangung der Herrschaft über andere, noch wegen des Profits, des Ruhmes, der Macht … anstreben dürfen, sondern zum Wohle und Nutzen des Lebens. Und daß sie diese Erkenntnis in Barmherzigkeit vervollständigen und lenken….

Ich glaube, daß dies auch als Motto des Denkens und Handelns Klaus Holzkamps gelten kann, der wissenschaftliche Strenge mit überragender Menschlichkeit, methodische Gewissenhaftigkeit mit emanzipatorischem Interesse und, so streitbar er war, theoretische Gegnerschaft mit persönlicher Achtung zu verbinden verstand.

Unbestechlichkeit des Denkens

So streitbar er war: Er suchte Kontroversen nicht. So politisch er argumentierte, so sehr er sich in die Kämpfe seiner Zeit einmischte: Ich glaube nicht, daß er im Grunde seines Herzens oder aus innerer Neigung ein politischer Mensch war. Er sah dazu nur keine Alternative, wenn er den gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Forschung nicht ausweichen wollte. Und er wich der gesellschaftlichen Verantwortung wissenschaftlicher Arbeit nicht aus. Die Differenz zwischen menschlichen Möglichkeiten, wie sie die von ihm inaugurierte Kritische Psychologie auf den Begriff brachte, und der kapitalistischen Realität totaler Verwertung ließ ihm keine Ruhe. Er wurde auch oft genug nicht in Ruhe gelassen von denen, denen die Unbestechlichkeit seines Denkens gegen den Strich ging. Parteilichkeit war für Klaus Holzkamp keine Beugung objektiver Erkenntnis, sondern deren praktische Konsequenz. Diesen Zusammenhang zu verdrehen oder zu leugnen war für ihn, mit Marx gesprochen, gemein.

Er verfolgte ihm als relevant erscheinende Problemstellungen unabhängig von Theoriemoden und ursprünglichen Zeitplanungen, eine integre Haltung, die mit wissenschaftsexternen Forschungs- und Zeitplanungen schlecht kompatibel ist. Insofern war er, wie ihn der Münchener Sozialpsychologe Heiner Keupp einmal charakterisierte, ein Gelehrter alten Stils. Er arbeitete allein, diskutierte aber Probleme, Hypothesen und Resultate in verschiedenen Arbeitszusammenhängen; er brauchte immer wieder die Ruhe und die Einsamkeit des Intellektuellen und war als Berater und Freund doch präsent in einer sich verzweigenden wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Gelassen freundliche Distanz

Seiner Vorstellung von wissenschaftlicher Gemeinschaft war allerdings die Betriebsamkeit einer scientific community fremd, deren Produktion vom Takt der Tagungen und vom Kalender der Kongresse gesteuert wird, und die den gesellschaftlichen Wert von Forschung mit der Höhe fristgerecht eingeworbener und ausgegebener Drittmittel zu verwechseln droht. Er besaß nicht die von Adorno analysierten Händlerqualitäten eines Wissenschaftlertyps, der sich unentbehrlich macht durch Kenntnis aller Kanäle und Abzugslöcher der Macht, ihre geheimsten Urteilssprüche errät und von deren behender Kommunikation lebt. Dagegen lebte er jene gelassen freundliche Distanz, die vor einem Einvernehmen bewahrt, das als Vereinnahmung sich erweisen könnte.

Ich denke, seine fachwissenschaftliche Brillanz rührte auch daher, sie entwickelte sich auch damit, daß er nicht bloß Fachvertreter blieb, sondern die Grenzen seines Faches überschritt, vor allem, indem die Durchdringung des Zusammenhangs von Psychologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie für ihn lebenslange Aufgabe blieb. Dieses Problem hatte ihm in gewisser Weise die Studentenbewegung gestellt, durch die er wie kaum ein anderer sich inspirieren ließ.

Vielleicht war ihm auch dadurch bewußt geworden, wie produktiv die Kooperation mit Studierenden wird, wenn man sie jenseits eines kanonisierten Lehr- und Prüfungswesens wie Erwachsene, als mitdenkende, querdenkende, vorausdenkene, jedenfalls als Subjekte behandelt. Es war ihm auch bewußt, daß sachfremde Hierarchie einer potentiellen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gegenläufig ist. Sein Bestehen auf einer demokratisch verfaßten Universität verdankte sich nicht bloß seiner politischen Überzeugung, sondern auch der Einsicht, daß emanzipatorische Wissenschaft demokratische Strukturen braucht wie die Luft zum Atmen.

Diesbezüglich stellt auch sein letztes großes Werk, die subjektwissenschaftliche Grundlegung einer Theorie des Lernens, wieder den Zusammenhang von wissenschaftlicher Begründung und gesellschaftspolitischer Verantwortung her.

Der Grundlagentheoretiker und Methodologe Holzkamp insistierte auf der Erfahrungswissenschaftlichkeit der Psychologie, aber nicht verstanden im Sinne einer methodischen Zurichtung, die, mit Marx gesprochen, das Zeugnis der Sinne verkürzt zur Sinnlichkeit der Geometrie. Es gehörte daher auch zu seinem Horizont wissenschaftlicher Forschung, die Erfahrungen der außerakademischen psychologischen Praxis ernst zu nehmen und diese in subjektwissenschaftlicher Perspektive weiterzuentwickeln.

Sein Tod riß ihn aus einem Unternehmen der Analyse von Lebensführung und Alltagserfahrung, der subjektiven Verbindung unterschiedlicher Sphären individueller Existenz. Er selbst war nicht nur leidenschaftlicher Wissenschaftler, sondern auch Musiker aus Leidenschaft, wie ich es selber in meinem Zusammenspiel mit ihm in einem Duo erleben konnte.

Wissenschaft als prinzipielles Gegen-den-Strom-schwimmen

Klaus hatte sich noch viel vorgenommen und wir haben noch viel von ihm erwartet. Er verwies oft darauf, daß die Geschichte der Psychologie eine Geschichte unerledigter Kontroversen ist. Eine Geschichte unerledigter Kontroversen, unsere eigene mit der traditionellen Psychologie eingeschlossen, ist auch eine Geschichte unerledigter Aufgaben, denen wir uns jetzt ohne seinen persönlichen Rat stellen müssen, denen wir uns auf der Grundlage seines Lebenswerkes wohl stellen können und denen wir uns stellen werden.

Es ist wie eine Aktualisierung der Baconschen Bestimmung von Wissenschaft, wenn Klaus Holzkamp in einer Rede vor Studierenden Wissenschaft als ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen bestimmte, als Kritik und Selbstkritik: aber nicht die konkurrenzbestimmte profilierungssüchtige Kritik vieler bürgerlicher Intellektueller, sondern eine Kritik zur Durchsetzung des menschlichen Erkenntnisfortschritts im Interesse aller Menschen gegen die bornierten Interessen der Herrschenden an der Fortdauer menschlicher Fremdbestimmung und Unmündigkeit.

In diesem Sinne bleibe ich bei dem Prinzip Hoffnung, daß die, die mit Dir, Klaus, zusammen gestritten haben, sich nicht vor Umstrittenheit fürchten und streitbar bleiben werden. Wir werden in Deinem Sinne weiterarbeiten.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags:

Forum Kritische Psychologie 35

Konstruktionen von Fremdheit

Inhalt

* * *

Klaus Holzkamp
Rassismus und das Unbewußte in psychoanalytischem und kritisch-psychologischem Verständnis

Mark Galliker, Franc Wagner und Brigitte Enders
Nationales Identitätsdenken und inzidentelle sprachliche Diskriminierung im öffentlichen Diskurs

Roxana Mahdavi
Das Konzept der „Kulturellen Differenz/Identität“: Eine andere Form der Rechtfertigung rassistischer Ausgrenzungspraxis?

Athanasios Marvakis
Der weiße Elefant und andere nationale Tiere. Zu einigen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen nationaler Orientierungen

Katrin Seifert
Apartheid und die Psychologie Südafrikas

Klaus Holzkamp
Kolonisierung der Kindheit. Psychologische und psychoanalytische Entwicklungserklärungen

* * *

Peter Tzscheetzsch
Psychologisierung politischen Widerstands

* * *

Gabriele Rabenstein
Menstruationsrituale: Kulturelle Zurichtung von Weiblichkeit

Dokumentation

Barbara Fried, Christina Kaindl & Morus Markard
Psychologie an der FU Berlin: Modell für die Einsparung bzw. Entsorgung kritischer Wissenschaft?

* * *

Autorinnen und Autoren

Rubrik: Neuerscheinungen | Tags:

Forum Kritische Psychologie 34

Problemblindheit in der Psychologie und Perspektiven ihrer Überwindung

Inhalt

Editorial

* * *

Jochen Brandtstädter, Lutz H. Eckensberger, Volker Gadenne, Klaus Holzkamp, Wilhelm Kempf, Wolfgang Maiers & Morus Markard
Zur Problematik des Empiriebezugs psychologischer Theorien

* * *

Klaus Holzkamp
Am Problem vorbei. Zusammenhangsblindheit in der Variablenpsychologie

* * *

Charles W. Tolman
Die Beharrlichkeit des Kartesianismus im psychologischen Hauptstrom und Anzeichen seiner Überwindung

Rainer Seidel
Maschinenperspektive und Subjektstandpunkt

* * *

Werkstattpapiere

Morus Markard
Wie reinterpretiert man Konzepte und Theorien?

* * *

Autorinnen und Autoren

Rubrik: Neuerscheinungen | Tags:

Wie reinterpretiert man Konzepte und Theorien?

Artikel von Morus Markard in Forum Kritische Psychologie 34 (1994).

Download: FKP_34_Morus_Markard

Zusammenfassung

Ausgangspunkt des Beitrages sind Probleme des Umgangs mit »anderen« Theorien aus dem Blickwinkel subjektwissenschaftlicher Theorie und Praxis, wie sie sich vor allem in einem universitären Ausbildungsprojekt mit Praktikumsbetreuung im Hauptstudium stellten. Das Konzept der Reinterpretation, die operationale Fassung des kritisch-psychologischen Forschungsprinzip der Einheit von Kritik und Weiterentwicklung, wird daher von Anwendungsproblemen her, vermittels verschiedener Reinterpretationsbeispiele aus theorie- und aus praxisbezogenen Zusammenhängen und unter Einschluß von Arbeitshinweisen dargestellt.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags: ,

Maschinenperspektive und Subjektstandpunkt

Artikel von Rainer Seidel in Forum Kritische Psychologie 34 (1994).

Download: FKP_34_Rainer_Seidel

Zusammenfassung

Es werden zwei Thesen diskutiert. Erstens: Kognitivismus wird vielfach gesehen als Überwindung des Behaviorismus mit dem Ziel, mentale Prozesse untersuchbar zu machen. Das Neue und die Besonderheit des Kognitivismus ist aber primär die Sichtweise des Menschen unter dem Blickwinkel der Berechenbarkeit, wie sie u.a. in der Turingmaschine theoretisch formuliert und im Computer praktizierbar ist. Die methodische Prämisse des Behaviorismus ist durch die »Kognitive Wende« nicht verändert worden, und Kognition war schon innerhalb des traditionellen Behaviorismus untersuchbar, wie es vor allem Tolman initiiert hatte. Zweitens: Die Simulation des Mentalen als Algorithmus oder als Maschinenprogramm bedeutet eine radikale Reduktion des Mentalen oder Subjektiven auf Kausalzusammenhänge. Dagegen erfordert die dem Menschen als Subjekt adäquate Forschung, das Handeln nicht als verursachtes, sondern in erster Linie als subjektiv begründetes aufzufassen. Gleichwohl kann die kognitivistische Forschung eine fruchtbare heuristische Funktion haben: Die (Computer-) Simulation menschlichen Verhaltens kann die Ebene von Begründungszusammenhängen mit der reduktiven Ebene rein kausaler Zusammenhänge konkret nachvollziehbar konstrastieren und dadurch — auch ex negativo — Fähigkeiten und Handeln des Menschen zunehmend erhellen.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags: ,

Die Beharrlichkeit des Kartesianismus im psychologischen Hauptstrom und Anzeichen seiner Überwindung

Artikel von Charles W. Tolman in Forum Kritische Psychologie 34 (1994).

Download: FKP_34_Charles_Tolman

Zusammenfassung

Es wird die These aufgestellt, daß die Stagnation im psychologischem Hauptstrom von der Zählebigkeit des Kartesianismus herrühre. Dies gelte sowohl für die kognitive Psychologie als auch für den Behaviourismus. Erscheinungen des Dualismus und des Individualismus werden erörtert. Die Verborgenheit des Kartesianismus wird herausgestrichen. Die antikartesische Psychologie, deren vorbildliches Beispiel die Kritische Psychologie ist, wird u.a. dadurch gekennzeichnet, daß in ihrer Konzeption die psychologischen Prozesse sich statt »hinter den Augen« in der zwischenmenschlichen Welt abspielen. Mehrere Beispiele aus der neueren englischsprachigen Psychologie werden gegeben.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags: ,

Am Problem vorbei. Zusammenhangsblindheit in der Variablenpsychologie

Artikel von Klaus Holzkamp in Forum Kritische Psychologie 34 (1994).

Download: FKP_34_Klaus_Holzkamp

Zusammenfassung

Es geht in dem Text um die Problematik des Bedeutungs- und Relevanzverlustes von psychologischen Theorien, die auf ihre statistische Prüfbarkeit im Sinne der gängigen »Variablenpsychologie« hin formuliert sind. Der zentrale Grund dafür liegt darin, daß — da die Zufallsvariablität der Daten als Bezugsrahmen für die statistische Prüfung die Zerlegung des Forschungsgegenstands in isolierbare und frei gegeneinander variierbare Elemente voraussetzt — im Gegenstand liegende Zusammenhänge/Widersprüche eliminiert werden müssen und Zusammenhangsaussagen nur als sekundäre Konstruktionen des Forschers möglich bzw. zugelassen sind. Dies wird am Beispiel pädagogisch-psychologischer Untersuchungen zum »Klassen«- bzw. »Unterrichtsklima« veranschaulicht. Alternative methodische Ansätze aus der Ethnomethodologie und kritisch-psychologischen Subjektwissenschaft werden dargelegt.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags: ,

Zur Problematik des Empiriebezugs psychologischer Theorien

Artikel von Jochen Brandtstädter, Lutz H. Eckensberger, Volker Gadenne, Klaus Holzkamp, Wilhelm Kempf, Wolfgang Maiers und Morus Markard in Forum Kritische Psychologie 34 (1994).

Downloads:

Zusammenfassung

Die Grundlage für die Diskussionsgruppe bilden zwei Arbeiten von Brandtstädter (1982 und 1984) über apriorische Elemente in psychologischen Forschungsprogrammen sowie Holzkamps Artikel (1986) über die Verkennung von implikativen Begründungszusammenhängen als empirischen Zusammenhangsannahmen in sozialpsychologischen Theorien. In diesen Beiträgen wurde auf jeweils unterschiedliche Art gezeigt, daß vermeintliche experimentelle Prüfungen von psychologischen Theorien dann zu einer Pseudo-Empirie geraten, wenn die jeweiligen Theorien nicht, wie vorausgesetzt, Annahmen über kontingente Realzusammenhänge, sondern implikative Strukturen darstellen, die als logisch wahr einer empirischen Prüfung weder fähig noch bedürftig sind. In der Diskussionsgruppe wird der Versuch unternommen, von teilweise unterschiedlichen Grundansätzen aus zu einer Verständigung über diese Problematik zu kommen und ggfs. die Problemstellung präziser zu fassen. Erörtert werden Aspekte wie die Differenz theoretischer »Begründungsmuster« zu anderen Arten implikativer Zusammenhänge; das Verhältnis von empirischen und analytischen Aussagen in der Psychologie einschließlich der daraus erwachsenden Probleme des Datenbezugs; der »Rationalitäts«-Begriff des Begründungsdiskurses; die Unterscheidung »guter« versus »effektiver Gründe«, allgemeiner: das Problem der Kausalität in intentionalen Handlungen und, in diesem Zusammenhang, die Kompatibilität von theoretischen Beschreibungen, etc.

Rubrik: Online-Publikationen | Tags: , , , , , , ,

Forum Kritische Psychologie 33

Sexueller Mißbrauch — Widersprüche eines öffentlichen Skandals

Inhalt

Editorial

Exposition des Mißbrauchs-Problems aus feministischen Positionen

Frigga Haug
Zur Einführung: Versuch einer Rekonstruktion der gesellschaftstheoretischen Dimensionen der Mißbrauchsdebatte

Birgit Rommelspacher
Der sexuelle Mißbrauch als Realität und Metapher

Dorothy E. Smith
Familienlohn und Männergewalt

Sexueller Mißbrauch: Überforderung psychosozialer Praxis?

Anna Veltins
Helfen oder Beweisen? Widersprüche im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder

Steffen Osterkamp
Sexueller Mißbrauch als Problem der Sozialarbeit: Die Geschichte der Petra H.

Sexueller Mißbrauch, Macht und Wahrheit: Ansätze zu einer kritischen Diskursanalyse

Linda Alcoff & Laura Gray
Der Diskurs von „Überlebenden“ sexueller Gewalt: Überschreitung oder Vereinnahmung?

Klaus Holzkamp
Zur Debatte über sexuellen Mißbrauch: Diskurse und Fakten

* * *

Autorinnen und Autoren

Rubrik: Neuerscheinungen | Tags: